Du sitzt im Eiscafé und bestellst dir ein Eis. Allein die Vorstellung erfüllt dein Herz und deine Seele. Du freust dich und das Wasser läuft dir im Munde zusammen. Du siehst das Bild auf der Eiskarte und weißt, gleich ist es so weit. Die nette Kellnerin bringt dir dein Eis in einem tollen Becher, wunderbar dekoriert mit einer Waffel, köstlicher Sauce und einem langen Löffel.
Dann steht das Eis vor dir und du nimmst den Löffel in die Hand. Du
entscheidest dich für eine ganz bestimmte Stelle deines Bechers. Du nimmst so
viel, wie du nehmen möchtest und führst den Löffel zum Mund. Du weißt, was
geschieht, sobald deine Zunge in Kontakt kommt mit diesem ersten Löffel Eis. Dein
ganzer Körper reagiert. Er explodiert förmlich! Du schüttelst dich vor Freude.
Köstlich! Einfach köstlich! Du wanderst schlemmend durch deinen Becher und
entdeckst die verschiedenen Nuancen und Kompositionen von Geschmäckern.
Köstlich! Immer wieder!
Du arbeitest dich zum Boden des Bechers durch und dir geht ein Gedanke
durch den Kopf. Gleich ist es vorbei. Gleich ist der Becher leer. Schade! Aber
jetzt darf ich noch genießen! Noch sind ein paar Löffel Eis vorhanden. Dann
kommt der Zeitpunkt des letzten Löffels und du musst dich verabschieden. Aus
und vorbei! Vielleicht freust du dich auf das nächste Eis. Leider musst du ein
Eis zügig essen, sonst ist es kein Eis mehr. Eis essen folgt einem eigenen
Gesetz.
Warum erzähle ich dir diese Geschichte und mache deinen Mund wässrig?
Ich komme jetzt zum nächsten Schritt. Stell dir vor, du könntest das Eisessen
irgendwie ausdehnen, verlängern. Die Augenblicke des Genießens strecken! Aber
dein Eis sagt dir deutlich. Diese Menge ist da. Mehr nicht und dann aus und vorbei.
Lässt sich Vergnügen dehnen oder vermehren. Steckt in uns allen ein
kleiner Brotvermehrer wie bei jesus in der Wüste? Klar! Auf jeden Fall! Vor ein
paar Tagen hörte ich ein Interview im Radio. Da ging es bei einer Kindersendung
darum, welche Süßigkeiten sie mögen und welche nicht. Wie kann man als Kind
lernen, dass Paprika toll ist? Welche Strategien entwickeln Kinder sich
bestimmten Nahrungsmitteln zu nähern. War interessant.
Ich wurde hellhörig, als ein Mädchen erzählte, wie es mit
Lakritzschnecken umging. Das katapultierte mich sofort zurück in meine
Kindheit. Es ging dem Mädchen darum, möglichst viel von diesem Genuss zu haben.
Wie sprengt man die Grenzen, wie dehnt man das Vergnügen aus? Wie erreicht man
sozusagen eine wunderbare Lakritzschneckenvermehrung?
Das Mädchen erzählte, dass es die Schnecke erst einmal abrolle. Dann
würde die Schnecke der Länge nach geteilt und so ergäben sich automatisch schon
mal zwei. Eine Schnecke misst der Länge nach ca. 60 cm. Eine zweigeteilte
Schnecke bringt es dann auf 1,20 Meter.
Im ersten Schritt verdoppelst durch die Schnecke durch Teilen. Dann
dehnst du langsam den Lakritz auf 2,40 Meter. Anschließend beißt du ab und
kaust so lange auf diesem Stück, bis du allen Geschmack ausgepresst hast. Der
Rest der Schnecke kommt zurück in die Tüte. Du wartest ein paar Minuten und
achtest auf dein Verlangen. Du hast Vergnügen an diesem Verlangen und erst
dann, wenn du es nicht mehr aushältst, beißt du wieder ein Stück Schnecke ab.
So machst du aus einem eigentlich kurzen Vergnügen ein Spiel der Fülle.
Die Schnecke selbst gibt ja schon das Thema vor. Du folgst ihrem
Gesetz. Du verlangsamst. Du dehnst aus! Du vermehrst natürlich nicht das
Gewicht einer Lakritzschnecke, aber du machst dennoch mehr daraus.
Das Mädchen erinnerte mich an Salmiakpastillen. Als Kinder haben wir
sie zusammengefügt zu einem Stern und auf die Hand geklebt. Sah toll aus! Dann
konnten wir daran schlecken und behielten den Geschmack im Mund und hatten
etwas davon für eine lange Zeit.
Und das ist aus diesen Gedanken abgeleitet mein Wunsch für die
Urlaubszeit. Das Tempo herausnehmen! Dehnen und genießen! Die Bilder im amerikanischen
Spielfilm laufen mir zu schnell. Manche Familien streiten sich in einem Tempo,
dass ich nicht folgen kann. Wer hat da gerade was gesagt? Wer macht was wann
dann? In der Beratung hänge ich noch ganz zuhörend bei dem traurigen Sohn, da
springen die Eltern schon zum nächsten Thema. Halt Stopp, ich komme nicht mehr
mit!
Das Internet wird schneller. Ich kann überall und zu jeder Zeit
surfen, chatten, telefonieren, simsen und mailen. Zeitgleich arbeite ich einen
Vortrag aus. Und am Ende weiß ich nicht mehr wo ich bin und vor allem wer ich
bin. Wer ist diese Person, die da gerade sitzt und im ICE Tempo durch das Leben
rast?
Dann halte ich diese Schnecke in der Hand und rieche Lakritz. Ich löse
vorsichtig ein Ende und rolle langsam ab. Ich passe auf, den Doppelfaden dabei
nicht zu zerstören. Die Schnecke löst sich auf und verwandelt sich in eine
lange Kordel. Ich erinnere mich an Charly Chaplin, der in einem Spielfilm als
armer Held ein Schuhband aß. Ich habe mal gelesen, dass dieser Schnürsenkel aus
Lakritz bestand.
Im Abwickeln der Schnecke sehe ich meinen eigenen Lebensfaden. Das,
was sich da so zusammenstaucht, bekommt auf einmal Raum und weitet sich aus.
Ich sehe Abschnitt für Abschnitt. Da gibt es die Abrisse im Leben. Das, was
nicht so glatt war. Ich rolle weiter und komme zum Zentrum und ... es löst sich
auf. Ja, alles im Leben löst sich auf. Die Blume in der Vase wird irgendwann zu
Humus. Aus meinem Eis bekomme ich Energie für die nächsten Augenblicke.
Jetzt beginne ich zu teilen. Wie schön, Zeit zu haben und sich
mitzuteilen. Dass es zwei Hälften gibt! Eine für mich und eine für dich! Es
reicht für mich und es reicht für viele. Ich kann eine wunderbare Schneckenvermehrung
initiieren. Für wie viele Menschen würde eine Schnecke reichen? Ich tippe mal
auf 200!
Ich werde immer langsamer und überlege, welchen Menschen ich ein Stück
Schnecke schenken könnte. Es fallen mir viele ein und ich muss mein Stück
Lakritz dehnen. Ich mache es langsam, im Tempo der Schnecke.
Zugleich stelle ich fest: Das bin ja gar nicht ich! Ich bin keine
Schnecke! Ich bin schnell! Ich bin superschnell! Ich bin ein Wusel! Ich lebe
auf der Überholspur. Entschleunigen bedeutet für mich harte Arbeit. Das mit dem
Lakritz dehnen ist wohl eher was für Kinder.
Und dennoch! Ich komme immer wieder zurück zur Schnecke. Ich
meditiere. Ich sitze auf meinem Stuhl in der Sonne und mache...nichts. Ich
schaue den Vögeln zu und wenn keine da sind den Bäumen. Und wenn keine Bäume da
sind nehme ich wahr, wie ich einfach ein Sehender und Hörender bin und beobachte mich, ob ich da bin.
Wenn ich mit dem Leben rausche dann bleibt dafür keine Zeit. da
besteht eine große Gefahr. Ich verliere mich! Ich bleibe auf der Strecke bei
dem Vielen, was da ist. An Eindrücken, Bildern, Gesprächen, Aufgaben, Menschen,
Dingen, Terminen...
Ich lese im Markusevangelium (6,31): Kommt mit an einen einsamen Ort,
wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus. Wahrscheinlich kannte Jesus das
Geheimnis der Lakritzschnecke. Einen Schritt zurücktreten, eine Außenposition
einnehmen, das Tempo verlangsamen, etwas scheinbar völlig Unproduktives und
Sinnloses tun. Pause vom Heilen, Wunder wirken und predigen.
Lakritzschnecken im übertragenen Sinne zu dehnen ist eine wirkliche
Kunst. Die Urlaubszeit lädt dich ein, dich in dieser Kunst zu üben. Mach es mit
Freude und mit Neugier. Wie geduldig und behutsam kannst du die Schnecke ausdehnen?
Wie lange kannst du dich mit ihr beschäftigen ohne dass etwas Neues kommen
muss? Im Vorgang des Dehnens könnte etwas in deinem Inneren geschehen. Virtuell
schenke ich dir eine Lakritzschnecke oder fünf Salmiakpastillen und wünsche
dir, dass Körper, Geist und Seele sich erholen. Wenn du dir weggelaufen bist,
dann gib dir Zeit, dass du dich wieder einholen kannst damit es zum „Erholen“
kommt! Eine freundliche Zeit mit dir!
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