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Samstag, 23. September 2023

Schritt zurück oder Anlauf nehmen?

Als Kind konnte ich nicht über einen Bock springen. Mein Turntrainer meinte, dass ich mehr Anlauf nehmen müsste. Ich schaute den anderen Kindern zu. Sie standen an ihrem Ausgangspunkt. Gingen in Schrittstellung. Bewegten sie vor und zurück. Aus der Rückwärtsbewegung in den Anlauf. So habe ich das wahrgenommen.
So machte ich das auch. Ich ging in Schrittstellung. Schaukelte vor und zurück. Dann ganz richtig zurück um in den Anlauf zu finden und rannte los... und stoppte vor diesem Block abrupt ab. Ich hatte wieder was falsch gemacht. Worauf kommt es an? Auf den Schritt zurück? Ordentlich Anlauf nehmen? Kann man auf eines verzichten? Bedeutet der Schritt zurück nicht eine Art Selbstausbremsung? Oder verlängere ich den Anlauf und bekomme mehr Speed? Ich habe es nicht herausbekommen. Aber etwas anders fand ich heraus.
Ich stoppte vor diesem Bock weil ich Angst hatte. Ich wollte mir nicht weh tun. Wie kommt man über den Bock ohne sich anzustoßen oder am Ende hinzufallen? Die Frage nach dem Anlauf stellt sich überhaupt nicht. Die Angst ist das große Thema. Mit vierzig Jahren bin ich das erste mal über einen Bock gesprungen. Mit Eleganz und völlig angstfrei! Wow! Was lerne ich daraus fürs Leben?
1. Manchmal lohnt es sich, nach ein paar Jahrzehnten einen neuen Anfang zu machen. Es ist nie zu spät!
2. Wenn ich am falschen Ende anfange, mein Problem anzupacken, wird es dafür keine Lösung geben. Ich kaufe ja auch keinen Hammer beim Bäcker.  
3. Angst ist manchmal ein echt lebenseinschränkendes Gefühl. Ganz oft hilfreich um vor Gefahren zu warnen. Und oft auch eine Behinderung.
4. Der Bock war die Chance für mich, mich meiner Angst zu stellen. Mein Job bestand nicht darin, über den Bock zu springen, sondern die Angst zu bewältigen. Wofür Böcke gut sein können!
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Freitag, 22. September 2023

Geh in dein Herz und sei ewig!


Im Zuge habe ich eine Radiosendung gehört über die indische Religion der Jains. Dort suchen die Eltern für die Kinder den Ehepartner aus. Interessant fand ich den Kommentar des interviewten Mannes dazu. Er sagte: "Das ist ganz gut, dass unsere Eltern den Ehepartner aussuchen. Dann wird man nicht so schnell zu einem Opfer der Liebe!"
Wer seine Partnerin, seinen Partner aussucht kann also schnell zu einem "Opfer der Liebe" werden. Nach unserer westlichen Gedankenvorstellung bedeutet die Liebe doch Freiheit oder nicht? Wir schätzen es, dass wir uns verlieben dürfen und dass die Liebe gelebt wird. Menschen heiraten, weil sie sich von ganzem Herzen lieben und eine große Sehnsucht haben, das Leben miteinander zu verbringen.
Der Mann aus dem Interview kennt dieses Prinzip sicherlich auch. Er sieht, wie die Menschen um ihn herum aus Liebe heiraten. Vielleicht schaut er aber mit einem anderen Blick darauf. Was sieht er wohl? Er sieht vielleicht, dass Menschen sich verlieben. Sie blicken sich an mit der rosaroten Brille. Sie wachen auf und stellen fest, dass die Liebe nicht mehr da ist. Sie fangen vielleicht sogar an sich zu hassen. Aus Liebe wird Abneigung und Hass! Die Liebe verspricht Glück bis in Ewigkeit. Sie zeigt sich wie eine Krake. Bist du in ihren Fängen verschlingt sie dich mit Haut und Haaren. Du wirst zum "Opfer der Liebe". Unser indischer Freund kommt zu dem Schluss: Es ist besser, sich nicht zu verlieben oder diese Form der Liebe zu leben. Am Ende gehst du darin unter.
Ich finde diese Sichtweise gar nicht so verkehrt. Wenn die Eltern die Ehepartner aussuchen, sozusagen ohne Liebe und aus praktischen Erwägungen gibt es nicht die Irrungen und Wirrungen der Liebe. Den Kindern wird viel Unglück erspart. Die erste Liebe setzt sich eh nur zusammen aus Hormonen und rosaroter Farbe. Wenn die verschwindet beginnt die Realität und das eigentliche Leben. Da treffen wir dann wieder unseren indischen Jain, der dieses Kapitel einfach überspringt.
Was lehrt mich das? Die Freiheit der Liebe bleibt für mich ein hohes Gut, muss es aber nicht sein! Das Aussuchen durch die Eltern finde ich nicht so prickelnd, muss aber nicht zwangsläufig schlecht sein.
Ich finde es aber interessant, einmal mit den Jains-Augen einen anderen Blick auf die Liebe zu werfen. Die Erkenntins daraus: Achte drauf, dass du die Liebe lebst und nicht zu ihrem "Opfer" wirst! Zum Opfer wird es, wenn du verkrampft daran festhältst und etwas erzwingen willst was nur freiwillig geht.
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Donnerstag, 21. September 2023

Die Pflicht ruft! Sag ihr, ich rufe zurück.

Die Pflicht kann manchmal ganz schön mächtig sein. Sie steht nicht leise im Hintergrund und winkt, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie steht in der ersten Reihe und ruft. Sie liebt solche Worte wie Verantwortung, Müssen, Anstrengung, Arbeit und Erschöpfung.
Die Pflicht liebt es, wenn man sofort reagiert und alles erledigt. Sie lebt nach dem Motto: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Mit Vergnügen kann sie nichts anfangen. Sie sammelt so viel an Aufgaben an, dass für das Vergnügen nur wenig Zeit bleibt. Wenn das Vergnügen dran kommt, wartet sie schon im Hintergrund und scharrt mit den Füßen. "Jetzt ist es aber mal genug." Die Pflicht kann sich nicht vorstellen, hinten anzustehen. Das passt nicht zu ihrer Identität. Man stelle sich vor, dass jemand das Wort umdreht. "Erste Vergnügen sammeln um die Pflichten zu erfüllen." Die Pflicht sagt: Entweder/Oder und meint damit entweder Pflicht oder Pflicht.
Die Pflicht ruft! Sag ihr, ich rufe zurück. Neben Pflicht und Kür gibt es ein "Ich", das entscheiden kann. Jemand, der den Automatismus aufhebt und in Erinnerung ruft, dass es auch noch die Freiheit gibt. Ich kann, ich muss aber nicht. Auch wenn die Pflicht sich vorgedrängelt und den ersten Platz behauptet. Sie braucht ein starkes Gegenüber. Fordert es geradezu heraus. Ja, ich rufe zurück und ich entscheide wann. Im Augenblick bin ganz vergnüglich mit mir und möchte es bleiben. So lange, bis ich zurückrufe. Und wenn ich lange genug warte, dann hat die Pflicht mich vielleicht vergessen und spannte einen anderen vor ihren Karren.
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Mittwoch, 20. September 2023

Binde zwei Vögel zusammen; sie werden nicht fliegen können obwohl sie nun vier Flügel haben. (Rumi)

Wie erlebst du das Arbeiten im Team? Ist ein Team erfolgreicher als mehrere Personen, die einzeln arbeiten? Zwei Vögel werden nicht besser fliegen wenn man sie zusammenbindet. Sie werden sich gegenseitig behindern. Jeder Vogel braucht seine eigene Entfaltungsmöglichkeiten um fliegen zu können.
Sie können nebeneinander fliegen, in Formationen oder auch abwechselnd. Aber jeder Vogel kann nur einzeln für sich fliegen. Ich erlebe Teams manchmal hilfreich und manchmal auch behindernd. Es melden sich die Wortgewaltigen und andere bleiben still, die auch was kluges beitragen könnten. Kritik erstickt gute Ansätze und Ideen. Prozesse dauern oft sehr lange und werden wieder vertagt. Einzelne Teammitglieder haben oft keine Chance mit ihrer Art auf der Welt zu sein.
Jeder Vogel braucht für sich genügend Abstand und Freiraum. Nur dann kann er fliegen. Da gibt es einen Spannungsraum von Autonomie und Gemeinschaft. Beide Pole können überbewertet werden. Nur noch Autononomie erstickt das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Nur noch Gemeinschaft tötet das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung.
Ich kenne Familien, die sehr aufeinander bezogen sind. Sie sind irgendwie gleich gekleidet, machen alles zusammen, teilen alle Erlebnisse und Gefühle. Immer und ständig. Niemand darf was ganz allein für sich machen.
Ich kenne aber auch Familien, die eher wie eine Zufallswohngemeinschaft wirken. Sie treffen sich ab und zu für wenige Augenblicke. "Schränke nicht meinen Freiraum ein!" Gemeinsame Mahlzeiten, wo wirklich alle da sind, gibt es nur an Weihnachten. Ein Fest mit hohem Stressfaktor, weil alle was gemeinsam machen müssen.
Wie kann es dann gehen, dass beide Positionen ihre Wertschätzung erfahren? Rumi macht den Vorschlag, zwei Vögel nicht zusammen zu binden. Also keine Zwangsverpflichtung. Das Entstehen von Gemeinsamkeit braucht die Freiwilligkeit des Einzelnen. Es braucht einen verantwortlichen Umgang im Abwägen der eigenen Bedürfnisse und den Bedürfnissen, mit anderen zusammen zu sein. Es braucht den Dialog und einen guten Kontakt zu sich selbst. Und nicht zuletzt braucht es ein waches Bewusstsein für den einengende Rituale, unbewusste Familiengesetze und krankmachenden Kitt.
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Dienstag, 19. September 2023

Du bist du und noch viel mehr! ... einfach ganz besonders.

Du bist wunderbar! Wie wunderbar!
Hat dir jemand mal gesagt, dass du wunderbar bist? Dein Kind, deine Eltern, dein Mann oder deine Frau, deine Freundin oder dein Freund? Also, du bist wunderbar! Du bist wirklich einfach ganz besonders. Du bist toll! Du bist außergewöhnlich! Du bist großartig!
Hältst du es noch aus oder hörst du auf zu lesen. Kommt bei dir jetzt ein "Ja"! "Ich bin wunderbar! Wie schön!" Oder kommt eher eine Reaktion wie: "Na ja, vielleicht manchmal! Eher aber nicht! Das ist doch übertrieben! Da kommen mir gleich meine Fehler und Einschränkungen in den Sinn. Das meinst du doch nicht wirklich. Außerdem kennst du mich ja gar nicht. Du weißt nicht, wer hier diesen Text liest. Wenn du mich wirklich kennen würdest. Wenn du wüsstest, wie schlecht gelaunt ich oft bin. Wenn du wüsstest, wie oft ich meine Freundinnen und Freunde vernachlässige! Wenn du wüsstest, wie oft ich eine Maske trage um meine Traurigkeit zu verbergen. Wenn du das wüsstest und noch viel mehr, dann könntest du das nicht mehr sagen."
Ein Teil in dir wünscht sich dennoch diese Bestätigung. Du bist wunderbar! Davon lebst du, Das richtet dich auf und macht dich ein paar Zentimeter größer. Und ein anderer Teil will es nicht hören. Kann es kaum aushalten. Ist es nicht gewöhnt. Im Alltag hörst du eher deine Defizite. Das hast du nicht richtig gemacht. Dies könntest du noch verbessern. Trotzdem: Du bist wunderbar!
In einem Seminar hatte eine Teilnehmerin eine Differenz mit dem Seminarleiter. Da kam ein Gefühl von Ärger hoch. Der Ärger bewirkte zunächst eine Trennung. "Der Seminarleiter ist blöd. Der ist ja sooo klug! Dieser Besserwisser! Ich fand ihn mal richtig gut und ich mochte ihn. Jetzt zeigt er aber sein wahres Gesicht. Er kann nichts anderes neben sich gelten lassen. Ist halt ein Sonnenkönig! Ein Superguru!" Daraufhin sprach der Seminarleiter diese Teilnehmerin an so ungefähr mit den Worten: "Da merke ich jetzt Ärger. Ich bin trotzdem mit dir in Verbindung. Spürst du das? Merkst du, dass ich bei dir bin und dich mag ganz unabhängig davon, ob da jetzt eine Meinungsdifferenz da ist oder ein Ärger! Spür einmal nach!" Da wachte die Teilnehmerin auf und ihr wurde klar, dass das Gefühl von Trennung nicht nötig ist. Sie konnte wieder in Verbindung gehen. Mir hat das sehr gefallen. Denn es hat einen Unterschied gemacht zu sonstigen Erfahrungen.
Wenn wir uns über jemanden ärgern gehen wir in der Regel in die Trennung. Wir wollen mit dieser Person nichts mehr zu tun haben. Wir wenden uns ab. Kannst du dir vorstellen, dass du zugleich den Ärger spürst, aber dich nicht trennst sondern in Verbindung bleibst? "Ich ärgere mich jetzt. Aber du wirst es nicht schaffen, dass ich mich von dir trenne. Ich kann immer noch das Wunderbare in dir wahrnehmen und freue mich, dass ich etwas davon bekomme!"
Also noch einmal. Du bist wunderbar! Trotz und jenseits aller Defizite und Mängel. Du bist einfach ganz besonders. Dafür musst du nichts tun! Gar nichts!
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