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Montag, 31. Mai 2021

Der Gruß führt zur Unterhaltung. (persische Weisheit)

Eine scheinbar sehr simple Erkenntnis: Der Gruß führt zur Unterhaltung. Ein umfangreiches Musikstück beginnt mit der Ouvertüre. Alle Themen werden dort schon einmal angekündigt. Die Ouvertüre ist die Eröffnung und dann folgt mehr.
Wenn du mit jemanden kommunizieren willst, dann musst du mit irgendetwas anfangen. Warum nicht mit einem Gruß? Wenn du wirklich in einen Kontakt treten willst, kommt es auf die erste Begegnung an, die erste Geste und das erste Wort. Der erste Eindruck zählt. Achte also einmal auf deinen Gruß. Wie machst du das eigentlich?
Vielleicht erscheint dir der Gedanke sehr überflüssig. Du grüßt halt eben wie du immer grüßt. Bist du dir deiner Wirkung bewusst? Schaust du dein Gegenüber zuerst an? Wo schaust du hin, in die Augen? Schaust du ins rechte oder ins linke Auge? Macht das einen Unterschied?
Wie erlangst du die Aufmerksamkeit deines Gegenüber? Winkst du mit den Händen, räusperst du deine Stimme, machst du dich zehn Zentimeter größer?
Lächelst du oder schaust du Ernst oder machst du es abhängig vom Ereignis? Bei einer Reklamation im Laden schaust du vielleicht Ernst und bei einem Wiedersehen mit dem Freund freundlich? Oder hoffst du, dass du spontan gesehen wirst ohne etwas dafür zu tun?
Und wenn du gesehen wurdest, welcher Gruß kommt dir über die Lippen? Hast du einen Standardsatz, mehrere Sätze, spontan, geschäftlich oder privat? Bist du eher ein Freund vom lockeren "Hallo" oder lieber vom "Guten Tag!"
Dein Gruß ist die Ouvertüre für eine Unterhaltung oder dafür, dass erst gar keine zustande kommt. "In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...", sagt Hermann Hesse. Warum nicht ein wenig mehr Sorgfalt an den Tag legen mit dem Gruß? In der Arbeitswelt spricht man inzwischen gerne von Wertschätzung und Anerkennung. Auch die fängt mit dem Gruß an.
Mein Lieblingsgruß heißt übrigens: "Namaste" aus dem Sanskrit und heißt soviel wie: "Ich grüße das Göttliche in dir." Mehr Wertschätzung geht nicht.
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Freitag, 28. Mai 2021

Jedes Versprechen ist ein Geschenk im Voraus. (Ägypten)



Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen. Bei Versprechungen denke ich oft an die Verpflichtung, die ich damit eingehe. Irgendwie ordne ich diesen Gedanken dem Bereich der Erziehung zu. „Du hast es mir versprochen!“ „Jetzt musst du das Versprechen auch einhalten.“ Wir sehen das Versprechen oft im Zusammenhang mit dem Thema Vertrauen. Wenn du dich nicht daran hältst, dann kann ich dir nicht mehr vertrauen. Dahinter steckt ein ziemlich hoher ethischer Anspruch. Politiker werden gemessen an die Erfüllung ihrer Versprechen, Kinder an ihrem Gehorsam und jeder im Beruf an die eigene Glaubwürdigkeit.
Der Vers aus Ägypten weckt in mir einen kostbaren Gedanken. Jedes Versprechen ist ein Geschenk im Voraus. Da geht es nicht um Verpflichtung, um das unbedingte Einhalten oder Vertrauen. Es geht um ein Geschenk. Wenn ich etwas verspreche, dann mache ich dir ein Geschenk. Du solltest also nicht zuerst auf die Einlösung achten, sondern auf den Geschenkcharakter. Ein Geschenk verbinde ich mit Freude, Wohlwollen und Wertschätzung.
Das Versprechen an sich ist es schon wert, gewürdigt zu werden. 

Donnerstag, 27. Mai 2021

Genieße dein Bonusmaterial!

Du kaufst dir ein Video und bekommst Bonusmaterial dazu. Ein kleines Extra. Etwas, für das du nichts bezahlt hast. Beim Bäcker gibt es einen Keks zum probieren. Im Buch einen Link auf eine Website mit Zusatzinformationen. Beim Therapeuten eine Spruchkarte. Im Restaurant einen Likör mit der Rechnung. Wenn du die Augen öffnest findest du überall Bonusmaterial. Die Geschenke liegen am Weg und du musst sie nur aufheben.
Wie betrachtest du dein Leben wenn du einmal Bilanz ziehst? Ein Leben voller Pflichten? Du hast für alles bezahlt, was du dir erarbeitet hast? Du bist niemandem etwas schuldig? Die Bilanz ist ausgeglichen?
Ich mag die Teile am Leben, die aus Bonusmaterial bestehen. Ich kann backen und freue mich, dass ich jetzt auch noch kochen kann. Bonusmaterial! Ich freue mich über die Hosen in meinem Schrank und kann mir noch eine kaufen, die ich nicht brauche aber woran ich Freude habe. Bonusmaterial. Ich bestelle im Restaurant ein Dessert obwohl ich eigentlich schon satt bin. Bonusmaterial.
Das Bonusmaterial bewirkt in meinem Bewusstsein, dass das Leben aus Überfluss besteht und nicht aus Mangel. Es fließt über und ich muss keine Angst haben, nicht genug zu bekommen. Beim Bonusmaterial bist du immer im Plus! Wo kannst du in deinem Alltag dein Bonusmaterial entdecken und genießen?
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Mittwoch, 26. Mai 2021

Laufe nicht der Vergangenheit nach und verliere dich nicht in der Zukunft. Die Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht gekommen. Das Leben ist hier und jetzt. (buddhistische Weisheit)


Manchmal klebe ich in meiner Vergangenheit fest. Ich bedaure, dass ich dieses oder jenes so und nicht anders gemacht habe. Hätte ich doch nicht... Ich kann mich in einen solchen Gedanken ganz tief eingraben und werde traurig.
Manchmal klebe ich aber auch in der Zukunft fest. Ich muss einen Vortrag halten und spüre schon Tage vorher die Angst. Es fühlt sich so an, als ob die vielen Menschen mich schon jetzt erwartungsvoll anschauen.
Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft noch nicht da. Leider sind die Ereignisse der Vergangenheit oft noch im gegenwärtigen Erleben präsent. Ich hole sie mir immer wieder herbei. Und auch, wenn die Zukunft noch nicht sattgefunden hat. Wenn ich daran denke wird sie gegenwärtig.
Das Leben ist hier und jetzt. Wenn ich mich auf das Jetzt konzentriere verschwinden vergangene Gedanken und Gefühle. Wenn ich mich auf des Jetzt fokussiere gibt es keinen Platz für die Zukunftsangst. Doch wie schnell wandert der Gedanke wieder zurück und nach vorne.
Ich lade dich ein zu einem Experiment. Denke doch einmal an ein Ereignis der Vergangenheit, das dich belastet. Warte, bis du ein Gefühl dazu bekommst. Dann springst du in die Zukunft und holst dir ein Ereignis ins Herz, das dir Angst macht. Wenn du es fühlst springst du wieder zum gleichen Ereignis zurück in die Vergangenheit. Von dort aus wieder zum gleichen Ereignis in die Zukunft. Beobachte dabei, was in dir geschieht. Verlangsame das Tempo und dann mache wieder schneller. Switche von der Zukunft in die Vergangenheit und wieder zurück.
Verwirrt es dich? Stellst du einen inneren Beobachter oder Gestalter fest, der das vollbringt? Ein "Ich", dass in die Vergangenheit gehen kann und in die Zukunft? Bemerkst du, dass du im Wechseln immer mehr die Gestaltungshoheit übernimmst? Die Vergangenheit "überfällt" dich nicht mehr? Ist die Verwirrung heilsam?
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Samstag, 15. Mai 2021

Sonnenworte für dich!


Sonne für die Seele! 

Von Rose Ausländer stammt folgendes Gedicht:

der garten
öffnet seine rosen

sie duften sich
sonnenworte zu

nur liebespaare
fangen sie auf
und grüssen zurück
in der rosensprache

rosen antworten rot
mit herzlichem duft

duftworte
die sich liebkosen

In einem anderen ihrer Gedichte heißt es so oder ähnlich:


Ich wohne in einer Stadt aus Sonne und Schnee
Der König ist ein Bettler.
Seine Nahrung ist Schnee.

Ich schenke ihm Sonnenworte
Vielleicht kann er sich Brot dafür kaufen.

Mir gefällt die Idee mit den Sonnenworten. Rosen duften sich Sonnenworte zu. Von Sonnenworten können Bettler leben.
Verschenkst du gerne Sonnenworte? Bekommst du viele Sonnenworte? Welche gefallen dir besonders gut?  Ein paar schöne Sonnenworte schenke ich im Geiste allen, die jetzt hier lesen.
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Mittwoch, 12. Mai 2021

Alles was uns an anderen missfällt, kann uns zu besserer Selbsterkenntnis führen. (Carl Gustav Jung)

Mir gefällt nicht, wenn jemand schlecht über andere spricht. Ich fühle mich unwohl und da stockt etwas in mir. Da spricht eine Stimme im Hintergrund, die sagt: "Hör auf damit! Das ist nicht in Ordnung. Sprich nicht über andere wenn sie nicht dabei sind." Ich folge dieser Stimme aber nicht immer. Wenn sich viel Ärger in mir angesammelt hat dann wirkt das Lästern wie eine Reinigung. Ich spüle meinen Ärger hoch und werde ihn los. Aber immer verbunden mit einem schlechten Gefühl. So, als ob ich illegal Müll entsorge. Ärger loswerden ist gut, aber der Weg dahin?
Wenn mir ein anderer Mensch missfällt löst das etwas in mir aus. Ein Gefühl, einen Gedanken oder den Wunsch, jetzt unbedingt etwas zu tun. Ich trete in Resonanz. Beim "schlecht reden" trete ich in Resonanz. Bei anderen Themen überhaupt nicht. Manche regen sich auf, wenn sich im Kühlregal des Supermarktes noch abgelaufene Produkte befinden. Da bleibe ich völlig gelassen. Aber wehe, es drängelt sich jemand vor. Damit habe ich ein Thema. Wenn mein Gewissen mich nicht bremsen würde, würde ich mich selbst ständig vordrängeln. Warum nicht? Wenn du dich nicht vordrängelst am Buffet gehst du am Ende vielleicht leer aus. Du ärgerst zwar andere, hast aber auch Vorteile.
Wenn jemand anders sich vordrängelt dann sollst du mal miterleben wie ich mich ärgere. Ich gehe damit in Resonanz. Und das ist gut so! Ich lerne dadurch diese dunklen Seiten in mir kennen und werde damit konfrontiert. Ich spüre: "Ach, das bin ja ich!" Nicht der andere drängelt sich vor, sondern da ist jetzt dieses Ärgergefühl in mir. Es ist mein Thema, was da anschwingt.
Anstatt mich über den anderen zu ärgern und mein Missfallen zum Ausdruck zu bringen kann ich auch mal überprüfen, welches Bedürfnis ich da im Moment habe. Fühle ich mich übergangen? Nicht beachtet? Habe ich gerade vor etwas Angst? Wenn ich dem nachgehe, dann lerne ich mehr über mich kennen. Ich weiß mehr von mir und kann mich dafür entscheiden, diese dunkle Seite in mir zu bejahen.
Vielleicht werde ich mich dann nicht mehr so doll ärgern in Zukunft. Oder ich werde dem anderen gegenüber höflicher und gelassener sein. Oder auch entschieden, aber mit einem befriedeten Herzen. Wenn ich mich weiterentwickeln möchte, dann brauche ich dich. Und dich auch. Und dich auch. Ich brauche dafür ganz viele Menschen. Je mehr mir missfällt, desto mehr Möglichkeiten habe ich zur Vermehrung meiner Selbsterkenntnis. Vielen Dank Herr Jung für diese Erkenntnis.
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Samstag, 8. Mai 2021

Die fünf Freiheiten nach Virginia Satir



Virginia Satir war eine wichtige systemische Familientherapeutin und lebte von 1916 - 1988. Sie hat wertvolle Impulse gesetzt für familäre Strukturen und sehr wertschätzend und ressourcenorientiert gedacht und gehandelt. Sehr bekannt geworden sind ihre "fünf Freiheiten", die ich gerne nach und nach erschließen möchte.

Die erste Freiheit: Die Freiheit zu sehen und zu hören was im Moment wirklich da ist, anstatt was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird. 

Mein Mann sollte mir besser zuhören können. Dann wäre das Leben viel schöner. Mein Kind sollte mehr aufräumen, dann wäre ich viel entspannter. Mein Arbeitgeber sollte sehen, was ich alles leiste, dann würde ich viel lieber arbeiten.
Oder: Früher war doch alles besser. Die Bahn war pünktlicher. Die Brötchen schmeckten frischer und waren günstiger. Die Milch kam noch von der Kuh. Ich war körperlich fit. Die Welt war einfach schöner. Die Leute hatten alle mehr Zeit.
Oder: Wenn ich in Rente gehe, dann werde ich mehr Zeit haben. Wenn meine Kinder groß sind, dann werde ich endlich tun können was ich immer schon tun wollte.
Du denkst oft mit den Worten: "sollte" du gehst in die "gute Vergangenheit" oder phantasierst dich in eine "bessere" Zukunft. Du machst das schon automatisch, ständig oder mehrmals am Tag. Du verlässt die Gegenwart und den Augenblick und merkst nicht, wie unfrei du dadurch wirst. Du wirst wie ein Sklave, der sich die Freiheit wünscht: Wenn ich erst einmal diese Fesseln los werde, dann wird alles anders! Pustekuchen!
Virginia Satir lädt dich ein zu einem ganz bestimmten Aspekt der Freiheit. Du entscheidest dich für das "sollte" "die tolle Vergangenheit", die "bessere Zukunft". Du trägst die Verantwortung dafür, wohin deine Phantasie, Sichtweise, dein Ohr und deine Gedanken gehen.
Und du hast die Freiheit, dich jetzt neu zu entscheiden! Du kannst dich dafür entscheiden und hast die Freiheit das zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist. Du musst dir nichts vormachen. Du brauchst nichts beschönigen. Du musst dir die Zukunft nicht toll vordenken. Bekommt das, was ist, jetzt von dir die Erlaubnis da zu sein?
Mein Mann kann nicht zuhören. Das ist so. Aber ich kann ihn immer wieder darauf hinweisen, dass er das jetzt in diesem Augenblick tun kann. Mein Kind ist kein Aufräumer. Das ist einfach so. Und mein Kind ist trotzdem in Ordnung. Die Welt wird nicht untergehen, wenn es nicht aufräumt und es bleibt mein Kind. Mein Arbeitgeber ist blind für die Leistungen der Angestellten. Das ist einfach so! Aber ich kann für mich würdigen, was ich leiste. Und ich leiste was! Und das fühlt sich stark an! Egal, ob es der Chef sieht oder nicht.
Ich warte nicht bis zur Rente, damit ich mehr Zeit habe. Jetzt in diesem Augenblick nehme ich mir die Zeit. Es ist meine Zeit, meine Lebenszeit. Heute schmecken mir die Brötchen und außerdem bin ich ein toller Bäcker. Und heute noch werde ich tun, was ich immer schon gerne tun wollte.
Spürst du wie es ist, wenn du ein Gespür für deine Freiheit wieder findest und entwickelst? Wenn du unerfüllten Sehnsüchten hinterherträumst kann es dich viel Kraft und Energie kosten und irgendwann bist du weg! Du bist nicht mehr da. Gedankenverloren schlürfst du deinen Kaffee und weißt gar nicht, was du getrunken hast. Was kannst du jetzt in diesem Moment hören und sehen?

Die zweite Freiheit: Die Freiheit das auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke, und nicht das, was von mir erwartet wird.

Was wird von dir erwartet? Von einer Mutter wird erwartet dass sie empört ist, wenn das eigene Kind ungerecht behandelt wird. Von einem Kind wird erwartet, dass es auf  seine Eltern hört.
Was wird von dir in einer Beziehung erwartet? "Wenn du mich wirklich liebst, dann wüsstest du jetzt wie es mir geht!" "Wenn ich wirklich wichtig für dich wäre, dann würdest du dich heute nicht mit deinen Freunden treffen sondern bei mir bleiben!"
Ich kenne solche Merkwürdigkeiten zur Genüge aus meiner Kindheit. Häufig hatte ich so Fragen und

Dienstag, 4. Mai 2021

Ich besuche mich...


Heute besuche ich mich.

Ich mache es mir schön.

Ich setze mich hin.

Ich mache es mir bequem.

Ich lege ein Buch auf den Tisch.

Ich stelle ein Glas Wasser daneben.

Dann sitze ich...

...mal schauen...

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Samstag, 1. Mai 2021

Wenn alles neu wird!





So lautet der erste Vers mit dem gleichnamigen Gedicht von Hermann Adam von Kamp. Am letzten Apriltag spukte dieser Satz in meinem Kopf. Da stimmt doch was nicht! Alles neu macht der Mai. Der Mai kann doch aktiv gar nichts machen. Menschen können etwas machen aber nicht ein Monat. Der Dezember macht keinen Schnee und eine Schwalbe macht keinen Sommer. Außerdem soll der Monat Mai die Fähigkeit besitzen, gleich alles neu zu machen. Alle Achtung! Was wir dem Mai da so alles zutrauen!
Der Hintergrund des Gedichtes ist sicherlich verständlich. Der Frühling ist endgültig und unwiderruflich da. Die Schwelle des Winters ist unwiderruflich überschritten. Der Sommer steht vor der Tür. Das knospende und neu erblühende Leben ist sichtbar und spürbar erwacht und lässt dich staunen.
Das hätten wir also geklärt, dass der Mai nicht alles neu macht. Dennoch liegt eine Verlockung und eine Idee in dem Vers, sonst wäre er nicht bei mir kleben geblieben.  Im Augenblick betrachte ich meine „Besitztümer“.  Das Auto stammt aus dem Baujahr 1999, die Waschmaschine hat mehr als 20 Jahre auf dem Buckel und verweigert das automatische Schleuderprogramm. Mein Netbook mit Windows XP hat seinen Geist aufgegeben und die Stühle um den Esszimmertisch gehen aus dem Leim.
Da wünsche ich mir einen Zauberer, der mit den Fingern schnippt und sagt: „Abrakadabra, alles neu.“ Leider funktioniert das nicht und ich muss andere Wege finden, die defekten Dinge zu ersetzen. Umgekehrt kenne ich aber auch das Staunen, wenn mir eine Freundin die Küche zeigt mit dem Kommentar: „Alles neu!“ Die Geräte sind noch voll funktionstüchtig. Es gibt keine Macken und Schrammen. Wir erhoffen uns von jedem Gerät, dass es ohne jede Beeinträchtigung zu hundert Prozent zu unserer Verfügung steht.  Schon nach kurzer Zeit stellst du jedoch fest: Die erste Macke und die ersten kleinen Defekte stellen sich ein. Das ist bei den Gebrauchsgegenständen auch ganz normal so und wenn du genügend Geld hast, dann tauschst du halt aus.
Ich möchte aber gerne noch einen Schritt weiterdenken in Richtung unserer menschlichen Beziehungen. Du lernst jemanden kennen und findest ihn oder sie nett. Du knüpfst Kontakt und erlebst die Beziehung als neu, erfrischend, bereichernd, wohltuend... und wünschst dir mehr davon. Der Kontakt wird intensiver und tiefer. Es geht etwas Zeit ins Land und irgendwann tritt es unweigerlich ein: Du enttäuschst oder wirst enttäuscht. Erwartungen werden nicht erfüllt, du bist gekränkt, du verletzt und merkst es vielleicht gar nicht. Du wirst verletzt, die Beziehung stagniert und du kannst nicht über deinen Schatten springen. Es droht der Stillstand oder das Ende. Leider kannst du wieder nicht mit den Fingern schnippen und sagen: „Alles neu!“ Deine Geschichte bleibt deine Geschichte. Die Erlebnisse kannst du nicht auslöschen! Du kannst dich aussprechen, versöhnen, vergeben, neu beginnen. Die Narbe bleibt. Alle Narben im Leben bleiben. Du kannst dein Leben nicht auswechseln wie ein Auto oder eine Waschmaschine. Du entwickelst dich eher wie ein antikes Möbelstück. Du polierst mal wieder, reparierst,  machst eine Generalüberholung, fügst etwas hinzu und entfernst etwas. Deine Grundsubstanz bleibt. Du kannst lernen, mit Verletzungen und Narben versöhnlich umzugehen, so dass du dir sagen kannst: „Ja, es geht ganz gut so!“  Deine Erfahrungen dienen dir letztlich dazu, menschlich zu reifen. Wachsen wirst du nur mit deinen sogenannten Fehlern.
Auch wenn du negative Erlebnisse nicht wegwischen kannst gibt es vielleicht doch den verborgenen Wunsch, einmal noch mal von vorne zu beginnen. Du wünschst dir die Möglichkeit, deine Geschichte neu zu schreiben. Deine verkorksten Anteile, die dich verfolgen wären dann einfach nicht mehr da.
Da lese ich in der Bibel beim Propheten Jesaja (43,19) den Vers: „Denkt nicht mehr an das, was früher war, auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues.“ Dieser Vers wird aufgegriffen in der Offenbarung des Johannes, wo es heißt: „Der Tod wird nicht mehr sein keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“
Da gibt es jemanden, der einen solch großartigen Satz sagt! Einer, der alles neu macht. Jemand, der mehr ist als der Mai. Jemand, der anders mit der Geschichte umgeht, jemand der in der Lage ist, aus Narben und Wunden etwas Neues zu gestalten. „Siehe, ich mache alles neu.“ Ich gebe diesen Satz bei Google ein und stelle fest: Kein Mensch traut sich das zu, keine Behörde, keine Firma. Niemand behauptet von sich: „Ich mache alles neu!“ Die ersten zehn Seiten finde ich immer die Anspielung auf diese zwei Bibelstellen.
Wenn ich allerdings das Kollektiv eingebe: „Wir machen alles neu“ dann finde ich Bauunternehmer und Renovierungsbetriebe. Aber kein Mensch behauptet das von sich allein, dass er alles neu macht, weder der beste Psychotherapeut noch der Papst.
Es scheint zu den exklusiven Eigenschaften und Fähigkeiten Gottes zu gehören, ein völlig neues Kapitel im Leben aufzuschlagen. Aber auch er wird meine Geschichte nicht wegwischen, sie gehört zum meinem Leben dazu. Dennoch oder zugleich sagt er: „Neben deinen Narben und Wunden, darin und dadurch entsteht etwas, womit du noch nicht gerechnet hast. Dein Leben schreibt ein neues Kapitel, eine ermutigende und überraschende Wendung. Das war noch nicht das Schlusskapitel.“
In eine ähnliche Richtung geht ein Gedanke von Paolo Coelho. In seinem Buch „Die Schriften von Accra“ entwickelt er die Idee, dass du dein Leben so lebst, als sei es dein erster Tag. Ich kannte bislang nur die Version vom letzten Tag. Bei der Vorstellung von der Aufmerksamkeit für den letzten Tag geht es eher darum, angesichts der zeitlichen Begrenzungen sich nur für die wichtigen Dinge im Leben zu entscheiden. Bei der Idee vom ersten Tag geht es um das Erleben des Staunens an sich.
Stell dir einmal vor, du wachst auf und es ist ein jungfräulicher Tag. Du verlässt den Bauch deiner Mutter und alles, was du erlebst ist neu. Jeden Tag! Diese Vorstellung gefällt mir.
Ich lege für einen Moment den Ballast an die Seite und öffne mich mit allen Sinnen für das Wunder des Augenblickes. Der Mai macht zwar nicht alles neu, aber er lädt ein, wieder einmal aufmerksam zu werden für die Kraft des Neubeginns. 

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