Eine Freundin erzählte mir von einer faszinierenden Erfahrung. Sie las ein sehr spannendes und interessantes Buch. Als sie mit dem Buch fertig war, las sie das letzte Kapitel noch einmal. Das Buch war einfach so toll! Und weil es so schön war, las sie das zweitletzte Kapitel anschließend auch noch! Und das davor auch und davor auch und zum Schluss las sie das erste Kapitel noch einmal. So hatte sie das Buch wirklich von vorne nach hinten und von hinten nach vorne gelesen.
Ein
anderer Freund erzählte mir, dass er sich den Kinofilm "Wie im
Himmel" bestimmt zwanzig Mal angeschaut hat. Bestimmte Stellen berührten
ihn immer wieder und andere Details hatte er vorher gar nicht bemerkt. Es
stellte sich nie der Eindruck ein: "Das kenne ich schon! Wie langweilig!"
Oder
eine eigene Erfahrung: Wenn ich mit Kindern „Flugzeug“ spiele und sie durch die
Luft wirbele, dann jauchzen sie wieder und wieder auf mit dem Kommentar: „Noch
einmal! Und noch einmal!“ Es kann nie genug sein.
Von
bestimmten Dingen können wir nicht genug bekommen. Wir werden nicht satt. Oder
wir werden nur vorläufig satt. In einem österlichen Evangelium fragt Jesus den
Petrus: „Liebst du mich?“ Petrus beantwortet die Frage mit „Ja!“ Aber Jesus
stellt noch zwei Mal die gleiche Frage. Er hört ein dreifaches „JA!“ Vielleicht
braucht auch er ganz viel „Ja“ und kann nicht genug davon bekommen.
Doch
kehren wir noch einmal zu der Buchgeschichte zurück. Die Freundin hätte ja sagen
können: „Einmal reicht! Ich weiß ja jetzt, was drin steht.“ Beim Rückwärtslesen
kann es also nicht in erster Linie darum gehen, wirklich etwas Neues zu lesen.
Es ist vielleicht ähnlich wie das Anschauen von Urlaubsfotos. Im Anschauen
erlebst du den Urlaub noch einmal. Du freust dich und Erinnerungen werden
lebendig. Urlaubsfarben tauchen auf. Der Duft nach Sonne wird spürbar. Das Gehirn
schaltet auf Entspannung und Erholung. Beim Rückwärtslesen entsteht möglicherweise
der Eindruck: „Was waren das für schöne Gedanken, Bilder, Wörter und Sätze. Wie
habe ich mich darüber gefreut!“ Vielleicht werden zugleich noch ein paar
Details deutlicher. Das, was du übersehen oder überlesen hast, bekommt in der
Wiederholung noch mehr Kontur. Im „Wiederkäuen“ geschieht eine Vertiefung. Das
Erlebte kann sich noch einmal intensiver entfalten und verdeutlichen.
Zugleich
kommt mir da aber noch ein anderer Gedanke. Manchmal funktioniert das
„Wiederkäuen“ nicht. Ein Teebeutel verliert an Geschmack, je öfter du ihn in
frisches Wasser tauchst. Die erste Fahrt in deinem neuen Auto empfindest du
noch fantastisch. Aber wenn du dann jeden Tag wieder einsteigst, verliert sich
nach und nach das Gefühl von Aufregung und Neugier. Von hundert Büchern landen
neunundneunzig zum Verstauben ins Regal.
Bei
vielen Ehen und Freundschaften entsteht im Laufe der Jahre auch der Eindruck,
dass das „Wiederkäuen“ sich nicht lohnt. Der Geschmack geht verloren! Es wird
langweilig! Gewöhnung, Alltag! So manche Paare wirken auf mich
gewohnheitsverheiratet und nicht lustverheiratet. Und mir fallen auch alle
Freundschaften ein, die ich nicht wiederkäuen mochte oder konnte.
Als
meine Freundin vom Rückwärtslesen erzählte, leuchteten ihre Augen. Allein das
Erleben, dass ein Buch sie so faszinieren konnte. Dass sie es noch einmal rückwärts
las reaktivierte diese Freude erneut. Sich freuen darüber, dass man sich so
freuen kann. Und sich freuen, dass man sich nach so langer Zeit jetzt immer
noch so freuen kann. Eine selbstansteckende Freude!
Wie kommt es, dass wir auf der einen Seite bestimmte
Bilder, Bücher, Menschen, Landschaften, Gedichte und Worte immer wieder in
unsere Nähe haben möchten und uns daran erfreuen fast wie am ersten Tag? Und
wie kommt es, dass wir auf der anderen Seite so schnell gelangweilt sind von
neuen Autos, Werbesprüchen, Arbeitsabläufen und auch Büchern oder Menschen?
Manche lesen einen Bibeltext oder hören ihn in der Kirche
und schalten nach zwei Sätzen ab. Andere hören den gleichen Bibeltext, je nach
Alter, zum hundertsten Mal und es schwingt immer noch. Ich stelle für mich nach
vielen Jahren fest, dass ein vertrauter Bibeltext bei jedem Lesen etwas anderes
in mir auslöst. Ich bekomme neue Bilder, Gedanken und Gefühle. Ich dachte, ich
hätte den Text schon verstanden und stelle dann fest, dass er überraschend neue
Seiten für mich bereit hält.
Wie kommt es, dass ich mir bestimmte Bilder immer wieder
anschauen kann und andere auch wunderbare und künstlerisch wertvolle Bilder
langweilen mich schon beim zweiten Anblick. Der eine Mensch löst in mir auch
nach vielen Jahren noch Neugier und Freude aus und einem anderen Menschen
begegne ich gerade einmal mit Höflichkeit?
Meine Idee dazu: Es liegt nicht an dem Buch oder an dem
Menschen oder an dem Bild selbst. Du
kannst es auch nicht einfach machen, indem du dich zwingst, diesen oder jenen
Menschen auch noch nach Jahren mit Freude begegnen zu wollen.
Schauen wir einmal näher da hin. Im ersten Schritt komm
es zu einer Begegnung. Du siehst, hörst,
liest oder schmeckst. Da macht es dann irgendwo in dir „Ping“! Ich nenne es
einfach mal so! Dieser „Knopf“ kann im Bauch, im Herzen oder auch im Kopf
sitzen. Es geschieht einfach! Es macht „Ping!“ Ein Mensch, eine Geschichte, ein
Bild wird zu einem Türöffner deiner inneren Erlebniswelt. Und du bekommst
Nahrung! In Form von Gedankenimpulsen, Bestätigung, Wohlgefühl, Freude,
Energie. Davon lebst du!
Denn du bist ja ständig auf „Nahrungssuche“ für deinen
Körper, deinen Geist und deine Seele. Deine Augen, deine Ohren, deine Nase, ja
alle deine Sinnesorgane suchen Impulse, sind neugierig, möchten etwas erleben
und erfahren. Darin unterscheidest du dich nicht vom Steinzeitmenschen auf der
Pirsch mit seiner fortwährenden Suche nach Nahrung.
Deine Aufmerksamkeit wird belohnt! Wenn du deine Antennen
ausfährst, findest du immer und überall etwas, das Herz und Geist erfreut. Da
gibt es also ein Gegenüber und es kommt zu einer Begegnung. Das löst in deinem
Inneren etwas aus und öffnet einen Raum. So gibt es halt Menschen oder
Gegenstände, die das bei dir besonders gut bewirken können. Manche Bücher
schaffen es, dass du dich jahrelang davon geistig nähren kannst. Manche
Menschen schaffen es jahrzehntelang, dass sie dein Herz mit Wohlwollen
erfreuen. Du gehst in Resonanz. Dafür musst du dich nicht anstrengen. Es geschieht
wie von selbst.
Gibt es eine Möglichkeit, das „Wiederkäuen“ oder
„Rückwärtslesen“ zu lernen? Ich glaube ja! Es ist eine Frage der Bewusstheit.
Finden die Menschen dich oder findest du die Menschen? Treffen die Bücher auf
dich oder triffst du eher die Bücher? Wenn dir ein Buch begegnet bist du
zunächst wahrscheinlich eher passiv und das Buch fällt dir irgendwie zu. Oder
du triffst einen Menschen, der dein Herz erwärmt, weil er dein Nachbar oder
dein Arbeitskollege ist. Die Dinge sind einfach da, weil sie gerade da sind.
Du kannst aber auch gezielt mit deinem Bewusstsein in die
Welt hineingehen. Du läufst mit einem wachen Geist durch das Leben und wirst zu
einem aktiven Finder mit Hilfe deiner Aufmerksamkeit. Wenn du einem Menschen begegnen
möchtest, der dich nährt, kannst du passiv warten, bis da jemand kommt. Oder du richtest dich aktiv aus. Du wirst wach,
aufmerksam, gestaltend und schöpferisch formend. Du wirst das Wort Jesu auf
einer tieferen Ebene verstehen wenn er sagt: „Das Reich Gottes in dir“.
Und noch zum Schluss: Im Rückwärtslesen und Wiederkäuen
wirst du dir des Schatzes bewusst, den du gefunden hast. Du springst nicht hastig
von dem einen zum nächsten Ereignis in der Sorge, ja nichts zu verpassen. Du
wirst zum Genießer. Du kostest aus! Du musst nicht mehr alles und jedes Neue erleben. Dein Leben folgt dem Gesetz des
„Genügens“ des „Vergnügens“. In diesem
Sinne „ein genüssliches Wiederkäuen!“
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