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Sonntag, 7. Juni 2015

Vom Rückwärtslesen oder die Kunst des Wiederkäuens



Eine Freundin erzählte mir von einer faszinierenden Erfahrung. Sie las ein sehr spannendes und interessantes Buch. Als sie mit dem Buch fertig war, las sie das letzte Kapitel noch einmal. Das Buch war einfach so toll! Und weil es so schön war, las sie das zweitletzte Kapitel anschließend auch noch! Und  das davor auch und davor auch und zum Schluss las sie das erste Kapitel noch einmal. So hatte sie das Buch wirklich von vorne nach hinten und von hinten nach vorne gelesen.
Ein anderer Freund erzählte mir, dass er sich den Kinofilm "Wie im Himmel" bestimmt zwanzig Mal angeschaut hat. Bestimmte Stellen berührten ihn immer wieder und andere Details hatte er vorher gar nicht bemerkt. Es stellte sich nie der Eindruck ein: "Das kenne ich schon! Wie langweilig!"
Oder eine eigene Erfahrung: Wenn ich mit Kindern „Flugzeug“ spiele und sie durch die Luft wirbele, dann jauchzen sie wieder und wieder auf mit dem Kommentar: „Noch einmal! Und noch einmal!“ Es kann nie genug sein.
Von bestimmten Dingen können wir nicht genug bekommen. Wir werden nicht satt. Oder wir werden nur vorläufig satt. In einem österlichen Evangelium fragt Jesus den Petrus: „Liebst du mich?“ Petrus beantwortet die Frage mit „Ja!“ Aber Jesus stellt noch zwei Mal die gleiche Frage. Er hört ein dreifaches „JA!“ Vielleicht braucht auch er ganz viel „Ja“ und kann nicht genug davon bekommen.
Doch kehren wir noch einmal zu der Buchgeschichte zurück. Die Freundin hätte ja sagen können: „Einmal reicht! Ich weiß ja jetzt, was drin steht.“ Beim Rückwärtslesen kann es also nicht in erster Linie darum gehen, wirklich etwas Neues zu lesen. Es ist vielleicht ähnlich wie das Anschauen von Urlaubsfotos. Im Anschauen erlebst du den Urlaub noch einmal. Du freust dich und Erinnerungen werden lebendig. Urlaubsfarben tauchen auf. Der Duft nach Sonne wird spürbar. Das Gehirn schaltet auf Entspannung und Erholung. Beim Rückwärtslesen entsteht möglicherweise der Eindruck: „Was waren das für schöne Gedanken, Bilder, Wörter und Sätze. Wie habe ich mich darüber gefreut!“ Vielleicht werden zugleich noch ein paar Details deutlicher. Das, was du übersehen oder überlesen hast, bekommt in der Wiederholung noch mehr Kontur. Im „Wiederkäuen“ geschieht eine Vertiefung. Das Erlebte kann sich noch einmal intensiver entfalten und verdeutlichen.
Zugleich kommt mir da aber noch ein anderer Gedanke. Manchmal funktioniert das „Wiederkäuen“ nicht. Ein Teebeutel verliert an Geschmack, je öfter du ihn in frisches Wasser tauchst. Die erste Fahrt in deinem neuen Auto empfindest du noch fantastisch. Aber wenn du dann jeden Tag wieder einsteigst, verliert sich nach und nach das Gefühl von Aufregung und Neugier. Von hundert Büchern landen neunundneunzig zum Verstauben ins Regal.
Bei vielen Ehen und Freundschaften entsteht im Laufe der Jahre auch der Eindruck, dass das „Wiederkäuen“ sich nicht lohnt. Der Geschmack geht verloren! Es wird langweilig! Gewöhnung, Alltag! So manche Paare wirken auf mich gewohnheitsverheiratet und nicht lustverheiratet. Und mir fallen auch alle Freundschaften ein, die ich nicht wiederkäuen mochte oder konnte.
Als meine Freundin vom Rückwärtslesen erzählte, leuchteten ihre Augen. Allein das Erleben, dass ein Buch sie so faszinieren konnte. Dass sie es noch einmal rückwärts las reaktivierte diese Freude erneut. Sich freuen darüber, dass man sich so freuen kann. Und sich freuen, dass man sich nach so langer Zeit jetzt immer noch so freuen kann. Eine selbstansteckende Freude!
Wie kommt es, dass wir auf der einen Seite bestimmte Bilder, Bücher, Menschen, Landschaften, Gedichte und Worte immer wieder in unsere Nähe haben möchten und uns daran erfreuen fast wie am ersten Tag? Und wie kommt es, dass wir auf der anderen Seite so schnell gelangweilt sind von neuen Autos, Werbesprüchen, Arbeitsabläufen und auch Büchern oder Menschen?
Manche lesen einen Bibeltext oder hören ihn in der Kirche und schalten nach zwei Sätzen ab. Andere hören den gleichen Bibeltext, je nach Alter, zum hundertsten Mal und es schwingt immer noch. Ich stelle für mich nach vielen Jahren fest, dass ein vertrauter Bibeltext bei jedem Lesen etwas anderes in mir auslöst. Ich bekomme neue Bilder, Gedanken und Gefühle. Ich dachte, ich hätte den Text schon verstanden und stelle dann fest, dass er überraschend neue Seiten für mich bereit hält.
Wie kommt es, dass ich mir bestimmte Bilder immer wieder anschauen kann und andere auch wunderbare und künstlerisch wertvolle Bilder langweilen mich schon beim zweiten Anblick. Der eine Mensch löst in mir auch nach vielen Jahren noch Neugier und Freude aus und einem anderen Menschen begegne ich gerade einmal mit Höflichkeit?
Meine Idee dazu: Es liegt nicht an dem Buch oder an dem Menschen oder an dem Bild selbst.  Du kannst es auch nicht einfach machen, indem du dich zwingst, diesen oder jenen Menschen auch noch nach Jahren mit Freude begegnen zu wollen.
Schauen wir einmal näher da hin. Im ersten Schritt komm es zu einer Begegnung.  Du siehst, hörst, liest oder schmeckst. Da macht es dann irgendwo in dir „Ping“! Ich nenne es einfach mal so! Dieser „Knopf“ kann im Bauch, im Herzen oder auch im Kopf sitzen. Es geschieht einfach! Es macht „Ping!“ Ein Mensch, eine Geschichte, ein Bild wird zu einem Türöffner deiner inneren Erlebniswelt. Und du bekommst Nahrung! In Form von Gedankenimpulsen, Bestätigung, Wohlgefühl, Freude, Energie. Davon lebst du!
Denn du bist ja ständig auf „Nahrungssuche“ für deinen Körper, deinen Geist und deine Seele. Deine Augen, deine Ohren, deine Nase, ja alle deine Sinnesorgane suchen Impulse, sind neugierig, möchten etwas erleben und erfahren. Darin unterscheidest du dich nicht vom Steinzeitmenschen auf der Pirsch mit seiner fortwährenden Suche nach Nahrung.
Deine Aufmerksamkeit wird belohnt! Wenn du deine Antennen ausfährst, findest du immer und überall etwas, das Herz und Geist erfreut. Da gibt es also ein Gegenüber und es kommt zu einer Begegnung. Das löst in deinem Inneren etwas aus und öffnet einen Raum. So gibt es halt Menschen oder Gegenstände, die das bei dir besonders gut bewirken können. Manche Bücher schaffen es, dass du dich jahrelang davon geistig nähren kannst. Manche Menschen schaffen es jahrzehntelang, dass sie dein Herz mit Wohlwollen erfreuen. Du gehst in Resonanz. Dafür musst du dich nicht anstrengen. Es geschieht wie von selbst.
Gibt es eine Möglichkeit, das „Wiederkäuen“ oder „Rückwärtslesen“ zu lernen? Ich glaube ja! Es ist eine Frage der Bewusstheit. Finden die Menschen dich oder findest du die Menschen? Treffen die Bücher auf dich oder triffst du eher die Bücher? Wenn dir ein Buch begegnet bist du zunächst wahrscheinlich eher passiv und das Buch fällt dir irgendwie zu. Oder du triffst einen Menschen, der dein Herz erwärmt, weil er dein Nachbar oder dein Arbeitskollege ist. Die Dinge sind einfach da, weil sie gerade da sind.
Du kannst aber auch gezielt mit deinem Bewusstsein in die Welt hineingehen. Du läufst mit einem wachen Geist durch das Leben und wirst zu einem aktiven Finder mit Hilfe deiner Aufmerksamkeit. Wenn du einem Menschen begegnen möchtest, der dich nährt, kannst du passiv warten, bis da jemand kommt.  Oder du richtest dich aktiv aus. Du wirst wach, aufmerksam, gestaltend und schöpferisch formend. Du wirst das Wort Jesu auf einer tieferen Ebene verstehen wenn er sagt: „Das Reich Gottes in dir“.
Und noch zum Schluss: Im Rückwärtslesen und Wiederkäuen wirst du dir des Schatzes bewusst, den du gefunden hast. Du springst nicht hastig von dem einen zum nächsten Ereignis in der Sorge, ja nichts zu verpassen. Du wirst zum Genießer. Du kostest aus! Du musst nicht mehr alles und jedes  Neue erleben. Dein Leben folgt dem Gesetz des „Genügens“ des „Vergnügens“.  In diesem Sinne „ein genüssliches Wiederkäuen!“

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