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Montag, 8. Juni 2015

Die Kunst, Wörter zu verstecken


Du wartest auf ein Wort? Ja, du wartest auf ein Wort! Auf ein ganz bestimmtes Wort! Du denkst, dass dieses Wort jetzt kommen müsste!
Du lernst einen Menschen kennen, der dir sagt, dass du ein tolles Outfit an hast. Dann macht er dir noch mehr Komplimente. Du bist beglückt und freust dich über so viel Aufmerksamkeit. Dann hoffst du auf mehr! Auf noch ein Wort mehr! Und kommt es? Weißt du, welches Wort ich meine? Nein? Kannst du es dir nicht denken?
Du hast dich verabredet. Deine Verabredung kommt zu spät. Deine Verabredung erklärt dir, dass die Garage zugeparkt war, dass sie noch tanken musste und dass es viel Verkehr gab. Du runzelst die Stirn. Du bemühst dich um Verständnis. Zugleich hoffst du auf ein anderes Wort! Ein ganz bestimmtes Wort! Es kommt aber nicht. Es steckt fest im Herzen deiner Verabredung. Weißt du, welches Wort ich meine?
Dir erzählt jemand eine Geschichte, die er erlebt hat. Dann dreht er eine Schleife. "Kennst du den?" "Nein?" "Dann muss ich dir zuerst etwas über den sagen, sonst verstehst du ja meine Geschichte gar nicht!" So beginnt in der ersten Geschichte eine zweite Geschichte. Dann kommt in der zweiten Geschichte eine dritte Geschichte und hoffentlich dann wieder ein Teil der ersten Geschichte. Und du? Du wartest! Du sitzt auf heißen Kohlen! Wann kommt endlich die Pointe?! Was will er mir sagen? Na was? Was?
Hast du schon mal zu jemandem gesagt: "Du spannst mich ganz schön auf die Folter?" Wenn du diese Erfahrung gemacht hast, dann bist du jemandem begegnet, der die Kunst versteht, Wörter zu verstecken.
Ich komme mit Wörterversteckern nicht wirklich gut klar. Ich kann auch nicht warten! Ich bin ungeduldig! Dann falle ich ins Wort und presse es gleichsam meinem Gegenüber aus dem Mund. Aus dem Herzen pressen, das kann ich noch nicht. Da ist das Wort mir noch zu unbekannt. Aber wenn es im Mund angekommen ist, dann kann ich mich nicht mehr halten. Dann hat es ja auch schon das Versteck verlassen!
Jeder gute Geschichtenerzähler ist eigentlich zugleich ein Wörterverstecker. Wenn er es schafft, über ein ganzes Buch einen einzigen Satz zu verstecken, dann ziehe ich meinen Hut. "Sie hat lange gewartet auf den Mann ihrer Träume. Dann ist er da! Aber vergeben! An die Falsche! Die Schlange! Die Konkurrentin! Aber er gibt ein Zeichen von Interesse! Dann verschwindet er! Sie denkt an ihn! Viele Jahre! Dann taucht er auf! Nur für einen kurzen Augenblick! Er schaut sie nur an! Dann nichts mehr! Wieder gehen die Jahre dahin - zwei Buchbände - . Dann taucht er wieder auf! Sie lernen sich kennen. Ihre Ahnung bekommt Nahrung! Da taucht die Konkurrentin von früher wieder auf! Das allzu zarte Pflänzchen droht zu ersticken! Viele Verwicklungen! Bis zur letzten Seite! Dann der allerletzte Satz! "Ich brauche es dir eigentlich nicht mehr sagen. Du weißt es ja schon!" Schweigen! Na gut, wir müssen damit leben. Das letzte Wort bleibt im Versteck.
So ist das Leben überhaupt, nicht wahr? Das letzte Wort über unser Leben wartet im Versteck darauf, dass wir es entdecken.
www.matthias-koenning.de

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