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Freitag, 11. August 2023

Bist du verrückt?


 

Manchmal sage ich es so leicht dahin: „Ich werde verrückt!“ Mir fällt auf einmal meine PIN-Nummer nicht mehr ein und ich weiß nicht einmal mehr, wo ich sie hinterlegt habe. Ich habe sie so sicher versteckt, dass ich sie nach ein paar Monaten selbst nicht mehr finde. Auch die Banken sichern alles immer mehr hab. Manchmal habe ich die Befürchtung, ich könnte nie wieder an mein Konto gelangen. Da könnte ich verrückt werden!

Am Ende des Jahres bekomme ich eine Mail von meinem Arbeitgeber, dass ich die Arbeitssicherheitsprüfung wiederholen muss bis zu einem bestimmten Datum. Ab dann bekomme ich wöchentlich eine Erinnerungsmail, die nahezu bedrohlich wirkt. „Erfülle endlich deine Pflicht, sonst…!“ Ich spüre den Druck und könnte darüber fast verrückt werden.

Bei einem Kundenseminar für Führungskräfte erzählen die Beteiligten auf einmal von den Phasen, wo sie dem Burn-out nahe waren. Schlaflose Nächte, ständiges Grübeln, ausweglose Situationen am Arbeitsplatz. Fast zum verrückt werden.

Eine Frau erzählte mir, wie sie von ihrer Familie in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie gesteckt wurde. Sie wusste nicht warum. Sie war dagegen und fühlte sich vergewaltigt. Die Ärzte fand sie auch nicht gerade hilfreich, weil niemand sie aufklärte über die Gründe ihrer Einweisung. Alle hielten sie für zu verrückt. Nicht mehr bei Verstand. Dabei hatte sie den Zugang zu ihren Gedanken nicht verloren. Wenn sie vorher noch nicht verrückt war, dann war es ihr Bestreben, jetzt nicht noch verrückter zu werden.

Du wirst sicher auch Gründe haben, manchmal kurz vor dem Verrücktwerden zu stehen. Wie gut, wenn du dich noch immer hast. Wenn es in dir noch eine Instanz gibt, die sich klar anfühlt. Wenn du verrückt geworden bist, hast du die Regie über dein Leben erst einmal verloren.

Woran könntest du merken, dass du dich mehr und mehr verlässt und dich im Feld des Verrücktseins wiederfindest? Wie würde sich dein Denken verändern? Woran würden es deine Lieblingsmenschen merken? Was würdest du anders machen als normal?

Ich vermute, du bräuchtest dafür eine gute Portion Druck und eine immer mehr sich verstärkende Angst. „Ich könnte vor Angst verrückt werden.“ „Dieser Druck macht mich verrückt.“ Und die Angst, verrückt werden zu können steigert die Angst und den Druck. Verrückt werden ist dann zugleich eine Lösung. Du musst nicht mehr aufpassen und kontrollieren. Wenn du nicht mehr bei dir bist und dich verlassen hast, kannst du das Geschehene besser aushalten und ertragen.

Ich kenne niemanden, der gerne in der Psychiatrie landen möchte. Wer gefährdet ist, strengt sich an, das Leben selbst zu steuern, solange es geht. Wir Menschen mögen unsere Autonomie. Selbst ist der Mann und selbst ist die Frau. Die Stichworte dafür heißen: Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, Selbstkontrolle.

Die Corona Krise beschäftigt uns seit zwei Jahren und jetzt kommt noch der Krieg in der Ukraine dazu. Vor ein paar Tagen bekam ich einen Anruf von einer Frau, die in Deutschland lebt, aber deren Eltern gerade im Bunker um ihr Leben bangen. Bislang konnte ich die Gefahren auf Abstand halten. Ich konnte mich schützen durch Masken und Hygieneregeln. Am Telefon im Kontakt mit der Frau fuhr mir der Schrecken in die Glieder. Es wurde richtig körperlich. Gedachte Angst fühlt sich anders an als körperliche Panik. Die Vorstellungen im Kopf der Frau führten dahin, dass sie kaum wusste, wohin mit ihrer Angst. Diese kluge Frau verlor fast den Verstand. Um nicht verrückt zu werden, musste ich mit ihr etwas finden, das sie erdete.

Ich war präsent, an ihrer Seite. Ich habe mit ausgehalten für einen Moment. Diese Ohnmacht und Ratlosigkeit. Die Panik und dann wieder um Atem ringen. Sie wollte konkret etwas machen. Hinreisen, die Eltern aus dem Bunker holen. Sie versorgen und sich kümmern. Aber all das ging nicht. Was konnte sie noch tun? Mit den Eltern im Kontakt bleiben. Ihnen Mut zusprechen und Hoffnung machen. Präsent sein und mit aushalten. Sprechen und die Verbindung fühlen.

Während des Gespräches hatte ich den Eindruck, dass es wirklich darum ging, etwas dafür zu tun, dass diese Frau nicht verrückt wird und ihre Handlungsfähigkeit zurückbekommt. Zugleich fühlte ich die Dankbarkeit, jetzt und im Augenblick hier sicher zu sein.

Was also hilft dabei, in diesen Zeiten nicht verrückt zu werden? Mir helfen vor allem die Menschen an meiner Seite. Alle sind meine Schwestern und Brüder. Meine Familie. Menschen, die sich freuen und leiden, so wie ich. Menschen, die mich mögen und die ich mag. Das Wissen, dass ich allein nicht existieren kann und muss und soziale Kontakte habe.

Was mir auch hilft ist das Wissen um meine Ressourcen und Fähigkeiten. Ich habe inzwischen schon viele Krisen überstanden und es wird auch dieses Mal so sein. Ich schließe meine Augen und verbinde mich mit mir selbst. Mit meinen Angstgefühlen, mit meinem Zorn, meinem Wunsch nach Liebe und mit meinen Fähigkeiten, für mehr den Frieden zu arbeiten.

So oft es geht, zünde ich jeden Tag um 18.00 Uhr ein Licht an und verbinde mich mit allen und allem, was ist. Es gibt einen Raum jenseits der Unterschiede und Polaritäten, wo eine tiefe Verbindung möglich ist. Dort gibt es keine Feinde und keine Verschwörungen. Dort gibt es Licht, Wahrheit, Liebe und Frieden. Nur für einen Augenblick. Das ist für mich heilsam und hilfreich, bei sich zu bleiben und den Verstand nicht zu verlieren.

Zugleich spüre ich die Brüchigkeit und Fragilität. Jetzt in diesem Augenblick bin ich klar, aber ich weiß nicht, wie es morgen sein wird. Der christliche Kalender beginnt die Fastenzeit mit dem Aschermittwoch. Die Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit lässt sich gedanklich gut bewältigen. Ein wenig Asche aufs Haupt und mit der Sterblichkeit einverstanden sein. Was aber, wenn die konkrete Gefahr die eigene Sicherheitszone durchbricht. Wenn der Tod mir auf den Leib rückt. Wenn der Verstand zwar scheinbar einverstanden ist, aber der Körper die drohende Zerstörung wahrnimmt.

Darin liegt für mich der Unterschied. Der Verstand mag kluge Strategien gegen die Angst, aber dem Körper nützt das nicht so viel. Der Körper braucht Nähe, Trost, Fürsorge und die Präsenz eines anderen Menschen.

Ich vermute, wir werden als Menschen bis zum letzten Atemzug alles dafür tun, bei uns zu bleiben mit Körper, Geist und Seele. Wenn wir verrückt werden, hören wir auf zu existieren in unserer Persönlichkeit.

Und wenn es wirklich passiert, dass das Unvorstellbare geschieht? Wir würden so richtig verrückt werden? Immerhin wurde Jesus einmal auf einem Berg vor den Augen seiner Freunde „entrückt“. Darin liegt der Unterschied. Wer Angst hat, wird verrückt. Wer vertraut, wird entrückt. Vielleicht liegt darin ein interessanter Gedanke. Jesus hat sich völlig in Gott verankert und die Angst hatte bei ihm keine Chance. Darum konnte er auch seinen Körper verlassen und verlor dennoch nicht sein „Selbst“. Wenn wir vor Angst vergehen, dann vergeht der Teil, der sowieso im Tod vergehen wird. So ist das auf dieser Erde. Aber es gibt einen Teil in mir, der nicht vergeht. Der Teil, der mich zu dem macht, der ich eigentlich bin. Mein Höheres Selbst. Der göttliche Anteil. Der Bereich, der nicht zu Raum und Zeit gehört.

Ich möchte dich damit nicht einladen zu einer „Egal-Haltung“. Und ich bin auch nicht so spirituell erleuchtet, dass die Angst mir nichts anhaben könnte. Das merke ich in diesen Tagen besonders deutlich, dass diese Angst tief im Körper vorhanden ist und wirkt. Aber ich möchte die Herausforderung annehmen, beide Dimensionen zu leben. Die menschliche Präsenz in meinem Körper und die Zugehörigkeit zu einem höheren Bewusstsein. Es mag dann alles geben: Etwas Verrücktes, etwas Entrücktes, etwas Vertrautes und etwas Fremdes.

Mir kommt das Bild von einem Diamanten, der noch nicht sichtbar ist in all seinen Facetten. Dazu braucht es einen Schliff. Der Schliff selbst ist unangenehm und schmerzhaft. Ich kann mich nicht einmal verweigern, weil das Leben genau das bietet. Ich kann aber vertrauen, dass etwas dabei herauskommt, das ich mag und zu dem ich Ja sagen kann.

Und vielleicht ist ein wenig Verrücktheit im Alltag auch nicht schlecht. Sich außerhalb der Ordnung stellen und das Leben nicht so wichtig zu nehmen. Die Position des Clowns einzunehmen. Jenseits der Feuerzone und aus der Perspektive des Clowns heraus sind die „Normalos“ vielleicht die eigentlich Verrückten. Verrückt, weil du das Leben so mit aller Macht verteidigst, obwohl das dumm ist. Der Clown Johannes Galli schreibt in seinem Buch über Clowns: „Für den Clown markiert das Scheitern nicht das Ende des Spiels, sondern den Anfang eines neuen. Im Moment seiner tiefen Niederlage entdeckt er eine neue Möglichkeit zu einer noch tieferen Niederlage.“

Ich wünsche dir und mir die Fähigkeit, ein wenig mehr Heiterkeit und Leichtigkeit wahrzunehmen jenseits der Angst, verrückt zu werden.

 

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