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Samstag, 29. Oktober 2022

Du lichtvolles Wesen!


Ich hörte einen Kommentar im Radio: „Wir wurden alle hinters Licht geführt.“ Ich weiß nicht einmal mehr, worum es ging. Es war bestimmt etwas aus der Politik. In der Weltpolitik zeigt es sich immer wieder, dass ständig jemand etwas zu verbergen hat und andere versuchen, das Verborgene ins Licht zu zerren. Ein altes Spiel mit der Absicht: „Ich bin gut und du bist böse.“ Der Enthüllungsjournalismus lebt ja davon, den Schmutz sichtbar zu machen. Und wir reiben uns die Hände, wenn wir alle zu Zeugen werden und das Übel durch Aufdeckung aus dem Weg geräumt wird.
Manchmal möchten wir etwas verbergen, in die Dunkelheit bringen, damit es niemand mehr sehen kann. Unsichtbar für die anderen und vor allem unsichtbar für mich. Müsste ich es betrachten, dann könnte mir die Schamesröte ins Gesicht steigen. Irgendwie verbinde ich die Fastenzeit auch mit so einem Aspekt, die Schattenseiten in uns Menschen zu erlösen. Die Süchte zu kontrollieren, die negativen Eigenschaften abzumildern oder umzuwandeln. Weniger Gier und weniger Sünde. Die negativen Haltungen und Eigenschaften in der Dunkelheit reduzieren. Das kann man so machen, ist aber nicht so sehr mein Weg.
Manche Paare kommen zu mir in die Beratung und machen dem anderen Teil der Partnerschaft vor meinen Ohren nur Vorwürfe. Was alles nicht richtig ist und was richtiger sein sollte. Wie sehr das Gegenüber kränkend mit einem umgeht. Ich sehe das scharfe Schwert in der Hand und spüre den Kampf. Ich hoffe, dass nach einer Stunde noch beide leben und ihre Würde nicht komplett verloren haben. Manchmal wäre es allein schon besser, wenn es weniger Vorwürfe gäbe. Die Hälfte von den nicht ausgesprochenen Vorwürfen würde schon mal das Klima verbessern.
Die Schattenseiten existieren. Bei Politikern, bei meinem Partner, bei meiner Partnerin, bei meinen Kindern und natürlich bei mir selbst. Ich kann in meinem Schatten herumwühlen und in den Wunden meiner Mitgeschöpfe bohren. Ich kann das ans Licht zerren, was so schmutzig ist und mit dem Finger darauf zeigen um meinen Abscheu auszudrücken. Und es gibt vieles in der Welt, das wirklich nicht in Ordnung ist. Wenn ich aber zu viel im Dreck wühle, dann besteht die Gefahr, dass ich mir selbst eine seelische Hölle bereite.
In meinem Theologiestudium wohnte ich zuerst in einer WG, wo alle und jeder durch den Kakao gezogen wurde. Wie furchtbar dieser Kollege ist, wie schlimm jener Ausbilder und wie katastrophal die Kirchenoberen überhaupt. Je mehr darüber gesprochen wurde, desto mehr breitete sich in mir die Depression aus. Das war ein Klima, das mich krank gemacht hat. Das Wühlen in der Dunkelheit und im Schatten ist nicht ungefährlich und kann leicht abfärben. Wie wäre es damit, in der Fastenzeit weniger im Schmutz zu wühlen?
Die von mir sehr geschätzte Sozialarbeiterin und Therapeutin Virginia Satir hat mit Familien gearbeitet, die sehr vorwurfsvoll miteinander umgehen. Sie hat ihnen zuerst einmal empfohlen, den Blick auf das zu richten, was gut ist und rund läuft und dafür auch einmal Danke zu sagen. „Danke, dass du heute für mich den Kaffee gekocht hast. Das hat mir gefallen und gut getan!“ „Schön, dass es dir gelungen ist, heute pünktlich nach Hause zu kommen.“ „Wie schön, dass du in der Schule aufgepasst hast und dich jetzt an deine Hausaufgaben erinnerst.“ Durch die Sammlung und das Aussprechen der Aufmerksamkeiten wächst ein positives Lichtfeld. Die Menschen, mit denen ich zusammenlebe sind keine Feinde. Sie sind zunächst einmal wunderbare Freunde.
Der Blick auf das soziale Wesen an meiner Seite erinnert mich daran, dass ich zum Glück nicht allein auf dieser Welt bin. Da ist jemand an meiner Seite. Das darf ich mir bewusst machen und genießen.
Viele Menschen an meiner Seite sind wirklich wunderbare Lieblingsmenschen. Ich besitze nicht nur eine einzige arme Rose, von der ich abhängig bin. Ich bin eingebettet in einen Strauß voller bunter Blumen. Vielfältiger als die größte Blumenwiese. Ich muss nur an einen bestimmten Menschen denken, dann entfaltet sich in meinem Herzen ein köstlicher Duft von Nähe und Vertrauen. Ich darf ins Licht stellen, was lichtvoll ist. Ich kann diesen Aspekt jeden Tag verstärken indem ich es sehe, würdige, darüber spreche, es vermehre.
Ich möchte mich und dich gerne jeden Tag daran erinnern. Dass du liebe Leserin und lieber Leser ein wunderbar lichtvolles Wesen bist. Du bist ein göttliches Universum voller Liebe und Wahrheit. Wenn es dich nicht gäbe, wäre die Welt ärmer. Aber die Welt ist reich für mich, weil du da bist. Du bist nicht nur eine oder einer von Vielen. Du gehörst zum Großen und Ganzen der Schöpfung dazu. Du magst dich vielleicht nur als kleines Wesen sehen, aber du bist ein unendlich wichtiger Teil davon.
Ich kann in der Fastenzeit und darüber hinaus die Fehler verringern, die Schattenräume kleiner machen und auf Hass und Entwürdigung verzichten. Oder ich kann die Liebe vermehren.
Wie nimmst du dich selber wahr und wie geht es dir damit, wenn ich dich so anspreche. Kannst du das glauben? Dass du ein äußerst liebenswürdiger Mensch bist? Fallen dir bei dir selbst die vielen wunderbaren Seiten ein, die das bestätigen? Oder denkst du eher: „Wenn du wüsstest wer ich wirklich bin oder wer ich sonst sein könnte – dann würdest du dich von mir abwenden. Ich kann mich ja selber nicht einmal vor dem Spiegel ertragen.“
Ich denke, es ist leicht, in der Fastenzeit auf irgendetwas zu verzichten. Aber es ist für viele Menschen schwer, ganz im Licht zu stehen und sehr liebevoll mit sich zu sein. Obwohl ich das so deutlich sage und für so wichtig finde erlebe ich mich darin auch immer noch als Übenden.
Es beginnt ja schon damit, dass ich mich bei den Gedanken ertappe, von etwas weniger zu machen. Ich möchte zum Beispiel weniger kritisieren. Leider ist der Tag so lang und mir passieren so viele Dinge und es gibt so viele Begegnungen, dass sich ein Haufen Kritik ansammelt. Die Kartoffeln waren einen Augenblick zu lange im Wasser. Ein Autofahrer hat beim Überholen nicht genug Abstand gehalten und mich auf dem Fahrrad gefährdet. Die Verkäuferin hat mich nicht angeschaut bei der Rückgabe des Wechselgeldes. Die Kollegin ist an meinem Büro vorbeigegangen und hat sich nicht verabschiedet. Im Wohnzimmer ist es ein wenig zu kühl. An einem Tag kann es eine lange Liste geben von Dingen, die nicht in Ordnung sind. Dabei ist es egal, ob die anderen etwas falsch machen oder ich selber mich falsch fühle.
Auch, wenn die anderen schuldig an meinem Unwohlsein sind und ich alles richtig gemacht habe gibt es dieses Unwohlsein. Es taucht auf, weil ich so viele Kritikgedanken im Laufe des Tages in mir gesammelt habe.  Die Kritikgedanken in mir erschaffen ein schädliches Klima. Wenn ich fürsorglich mit mir umgehe, werde ich etwas dazu beitragen, dass das Lebensklima freundlicher wird.
In Ahlen wird im Augenblick darüber gestritten, ob das alte Rathaus abgerissen oder saniert werden soll. Da haben sich echte Fronten aufgetan. Feindbilder sind entstanden. Unversöhnliche Ansichten stehen sich gegenüber. Kann aus so einem Konfliktpaket etwas entstehen, wo alle Einwohner einverstanden sind? Ist es noch möglich, dem „Gegner“ wohlwollend zu begegnen. Dass beide Gruppen einen Teil von Wahrheit erkannt haben? Manchmal ist es so, dass die Einen sich als „lichtvoll“ erleben und die anderen „dämonisch“. Schon entsteht eine Polarität, die entzweit und trennt. Wer hat Recht, wer ist machtvoller und wer kann sich durchsetzen?
Die Kirche macht es nicht anders. Da gibt es den synodalen Weg und die Frage, wer geweiht werden darf und wer ausgeschlossen wird. Die eine Gruppe der Bischöfe fürchtet um den Verlust der katholischen Identität und die anderen darum, unterzugehen, wenn sich nichts ändert. Was wird aus dieser Atmosphäre entstehen? Wer ist im Licht und wen stecke ich in die dunkle Ecke?
Wie sähe eine Antwort in Richtung Rathaus, synodaler Weg oder deinem eigenen inneren Dilemma aus, wenn ich andere Fragen stelle: Wie kannst du angesichts dieser Situation noch liebevoll sein? Wie kannst du das Wohl aller vermehren? Was kann ich für dich tun und was du für mich? Wie könnten wir beide dazu beitragen, dass das Leben liebenswerter ist? Wenn wir das machen würden – wie sähe dann ein Rathaus aus oder ein synodaler Weg? Gäbe es vielleicht sogar etwas völlig unerwartet Neues? Etwas, was Rathaus oder synodale Wege übersteigt? Was kann ich dazu beitragen, dass das lichtvolle Wesen in jedem Menschen besser leuchten kann? Was lässt Menschen friedvoller werden?
Wie sähe mein oder dein Leben aus, wenn es liebe- und lichtvoller wäre? Gäbe es einen Unterschied zum Jetztzustand? Könnte ich einen kleinen Schritt in die Richtung setzen, dass mehr davon entsteht? Von dem Lichtvollen? Der Wunsch und die Bewusstheit in mir sind da. Und ich kann es immer und an jedem Ort machen. Ich brauche dafür keine Voraussetzung und keine Vorbedingung. Nur den Impuls in mir und die Entscheidung, es einfach zu tun. Hallo du lichtvolles Wesen an meiner Seite und in der räumlichen Ferne! Danke, dass ich das mit dir teilen darf.

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