„Ich tue
das nie, nie wieder!“ In mir entsteht das Bild von mir als ich ein kleiner
Junge war. Ich möchte einmal diese wunderbare bunte chinesische Tasse in der
Hand halten und befühlen. Dabei werde ich erwischt und lasse vor Schreck die
Tasse fallen. Mutter steht zornig und enttäuscht vor mir. Ich bekomme ihre
ganze Wut und den Ärger ab. Die schöne chinesische Tasse von meiner Tante liegt
nun in tausend Scherben da.
Ich bin ein
Verbrecher. Man wird mich von meinen Eltern entfernen und ich lande im Heim.
Unter lauter fremden Kindern. Ich werde alles verlieren. Meine Mutter wird mich
nie wieder lieben und bei Vater werde ich auch keinen Trost finden. Ich bin
schuldig. Die Scherben liegen da. Das Bild prägt sich ein wie das Brandmal bei
einem Kalb. Die zerbrochene Tasse, die wütende und aufgelöste Mutter und ich
hilflos und voller Angst. Nichts kann mich trösten oder beruhigen.
Unauslöschlich gräbt sich das Erlebnis ein in jede Zelle meiner Haut.
Ich
übertreibe? Ja, aus der Perspektive eines Erwachsenen. Du würdest es
nivellieren. Es war schlimm und so schlimm auch wieder nicht. War ja nur ein
Tasse. Die kann man ersetzen. In der Erwachsenenhaut gibt es das Erschrecken
und das Beruhigen. Die Einsicht, dass ein Schaden entstanden ist. Ich
entschuldige mich und bezahle die Rechnung. Ich vergewissere mich, dass die
Beziehung nicht gelitten hat und dass wir uns wieder gut sind. Das Ganze dauert
zehn Minuten.
Aber aus
der Perspektive eines Kindes? Du hast keine Vorstellungen von Zeit, Kosten,
Folgen oder Bewertungen. Du erschrickst, erstarrst und fühlst dich dem Tode
nahe. Du bist nicht in der Lage, damit umzugehen. Du musst es erst noch lernen.
Wenn du als Kind so hilflos und ohnmächtig dastehst wirst du alles dafür tun,
dass dir das nie wieder geschieht.
„Ich tu das
nie, nie wieder!“ So schnell wirst du keine Porzellantasse mehr in die Hand
nehmen. Die Angst wird dich hindern. „Lass es stehen! Sonst lässt du es fallen
und du weißt genau, was passieren wird. Willst du, dass die Welt zusammenbricht
und alle geliebten Menschen sich von dir entfernen?“ Das willst du nicht, weil
du ja alleingelassen sterben müsstest. Du bist angewiesen auf deine Eltern und
auf ihr Wohlwollen!
Dabei fing
alles so verheißungsvoll an. Du kommst als Schöpfer, als Erfinder und Entdecker
auf die Welt. Voller Lust und positiver Energie drückst du dich aus. Das Wort
Angst kennst du nicht im Zusammenhang mit Menschen. Höchstens mit normalen
Abläufen des Alltags wie bei den Tieren. Da kommt plötzlich und unerwartet
etwas auf dich zu, das dich erschreckt. Die Nacht bricht herein und du siehst
nichts mehr. Geräusche dringen an dein Ohr, die du nicht deuten kannst.
Direkt bei
dir jedoch hast du Kontakt zu deinen Eltern. In ihrer Nähe fühlst du dich
sicher und geborgen. So lernst du eine gesunde Mischung aus Vertrauen und den
Umgang mit unbekannten Situationen. Die Nähe deiner Eltern verleiht dir den
Mut, deine Komfortzone zu verlassen und Neues zu wagen.
Wie jedoch
entwickelst du dich, wenn deine Eltern unsicher sind? Wenn Vater und Mutter in einer
angespannten Beziehung leben? Wenn deine Mutter Angst um dich hat und dir
nichts zutraut? Wenn sie dich permanent beschimpft und überfordert? Wenn du in
einem Umfeld von Angst aufwachsen musst? Die ersten Jahre deines Lebens prägen
dich. Und als Erwachsener musst du mit deiner Prägung das Leben bestehen.
Vielleicht
erinnerst du dich gar nicht mehr an die einzelnen Ereignisse aus deiner
Kindheit. Aber du wirst ein Grundgefühl entwickelt haben. Du wirst eher
vertrauen und dir kraftvoll das Leben erobern oder dich zögerlich zurückhalten
und dich eher verweigern.
Wenn du
angstvoll aufgewachsen bist bleibt dir nichts anderes übrig, als damit zu
leben. Du wirst in der Regel sehr vorsichtig sein. Du wirst dazu neigen, viele
Versicherungen abzuschließen, Türen und Fenster in deiner Wohnung zu verriegeln
und ständig zu überprüfen. Dir unbekannte Menschen werden erst einmal beweisen
müssen, dass sie vertrauenswürdig sind. Dein Immunsystem wird stark
herausgefordert sein und du wirst stärker zu Allergien neigen als andere. Du
wirst oft das Für und Wider abwägen und dich nicht gut entscheiden können. Du
wirst dazu neigen, die Schuld auf dich zu nehmen und lieber kein Nein zu
riskieren. Du wirst Lebensmittel nicht essen wenn sie nicht absolut sicher
sind. Du wirst das Gefühl haben als ob um dich herum eine Mauer aufgebaut ist,
die du nur angestrengt überwinden kannst. Je größer die Angst, desto höher und
dicker die Mauern und das Bemühen, dir Sicherheit zu verschaffen.
Und du
machst die Erfahrung, dass es nie genug ist. Noch eine Versicherung zusätzlich,
noch vorsichtiger sein, noch weniger wagen. Die Angst und die Angst vor der
Angst lauern dir ständig auf.
Wenn du
dich weiterentwickeln möchtest bleibt dir nichts anderes übrig, als zu lernen,
mit der Angst umzugehen. Menschen, die relativ angstfrei aufwachsen können sich
da nicht wirklich gut einfühlen. Welche Möglichkeiten hast du? Du kannst
weitermachen und alles, was Angst macht, vermeiden. Du flüchtest! Oder du
stellst dich mutig den Herausforderungen. Du durchlebst die Angst. Du lässt
dich von ihr überfluten. Du setzt dich daneben. Du lernst, trotzdem zu atmen.
Du entschließt dich dazu, der Angst nicht mehr so viel Raum zu geben, dass sie
dein Leben verhindert. Du entschließt dich zu einer neuen Lebensphilosophie:
„Ich habe Angst davor, also mache ich es.“ Mach dir keine Sorgen. Es wird noch
genug Angst übrig bleiben. Aber du wirst dich weiterentwickeln.
Stell dir
aber vor, dass es den großen Tag geben wird, wo du dich weiterentwickelst
jenseits der Angst. Einfach nur weil du Freude hast. Tiefe Freude an dir, an
den Menschen um dich herum und an den Dingen. Du kehrst zum Anfang deines
Daseins zurück. Du erinnerst dich daran, dass du mit voller Energie und
grenzenlosem Vertrauen ausprobieren und gestalten darfst. Du darfst wie ein
Baby die Welt erobern und machst das mit einer Bewusstheit von absoluter
Sicherheit.
Du kannst
es lernen, den Raum der Angst zu überwinden und zu ersetzen durch das Wissen,
dass du Teil eines göttlichen Ursprunges bist. Deine Angst verzerrt dir den
Blick auf die Wirklichkeit. Mit deiner Angst wirst du in vielen Menschen einen
Feind sehen, der dich ausbeuten, betrügen und übervorteilen wird. Jenseits der
Angst jedoch wirst du in jedem Menschen einen Bruder oder eine Schwester sehen.
Einen Spielkameraden, mit dem du die Welt erkunden darfst.
Wo
befindest du dich gerade in deiner persönlichen Entwicklung? Hast du schon alle
Urängste kennengelernt und überwunden? Lebst du schon in der Freiheit der
Kinder Gottes? Ich merke immer wieder, dass meine Vergangenheit ihren Schatten
über mich legt, aber die Macht verschwindet mehr und mehr und das fühlt sich
gut an. Stell dir vor, dass du dich angstfrei weiterentwickelst. Stell dir vor,
dass du das kannst und dass das ganz selbstverständlich ist. Lerne solche
Menschen kennen und lass dich von ihnen anstecken. Spüre den Unterschied, der
einen Unterschied macht. Du kannst lustvoll und neugierig die neuen Räume
betreten oder vorsichtig und zurückhaltend. Sterben musst du sowieso. Aber es
reicht, das am letzten Tag deines Lebens zu machen. Sonst stirbst du jeden Tag
und hast gar nicht gelebt.
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