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Samstag, 29. Oktober 2022

Du lichtvolles Wesen!


Ich hörte einen Kommentar im Radio: „Wir wurden alle hinters Licht geführt.“ Ich weiß nicht einmal mehr, worum es ging. Es war bestimmt etwas aus der Politik. In der Weltpolitik zeigt es sich immer wieder, dass ständig jemand etwas zu verbergen hat und andere versuchen, das Verborgene ins Licht zu zerren. Ein altes Spiel mit der Absicht: „Ich bin gut und du bist böse.“ Der Enthüllungsjournalismus lebt ja davon, den Schmutz sichtbar zu machen. Und wir reiben uns die Hände, wenn wir alle zu Zeugen werden und das Übel durch Aufdeckung aus dem Weg geräumt wird.
Manchmal möchten wir etwas verbergen, in die Dunkelheit bringen, damit es niemand mehr sehen kann. Unsichtbar für die anderen und vor allem unsichtbar für mich. Müsste ich es betrachten, dann könnte mir die Schamesröte ins Gesicht steigen. Irgendwie verbinde ich die Fastenzeit auch mit so einem Aspekt, die Schattenseiten in uns Menschen zu erlösen. Die Süchte zu kontrollieren, die negativen Eigenschaften abzumildern oder umzuwandeln. Weniger Gier und weniger Sünde. Die negativen Haltungen und Eigenschaften in der Dunkelheit reduzieren. Das kann man so machen, ist aber nicht so sehr mein Weg.
Manche Paare kommen zu mir in die Beratung und machen dem anderen Teil der Partnerschaft vor meinen Ohren nur Vorwürfe. Was alles nicht richtig ist und was richtiger sein sollte. Wie sehr das Gegenüber kränkend mit einem umgeht. Ich sehe das scharfe Schwert in der Hand und spüre den Kampf. Ich hoffe, dass nach einer Stunde noch beide leben und ihre Würde nicht komplett verloren haben. Manchmal wäre es allein schon besser, wenn es weniger Vorwürfe gäbe. Die Hälfte von den nicht ausgesprochenen Vorwürfen würde schon mal das Klima verbessern.
Die Schattenseiten existieren. Bei Politikern, bei meinem Partner, bei meiner Partnerin, bei meinen Kindern und natürlich bei mir selbst. Ich kann in meinem Schatten herumwühlen und in den Wunden meiner Mitgeschöpfe bohren. Ich kann das ans Licht zerren, was so schmutzig ist und mit dem Finger darauf zeigen um meinen Abscheu auszudrücken. Und es gibt vieles in der Welt, das wirklich nicht in Ordnung ist. Wenn ich aber zu viel im Dreck wühle, dann besteht die Gefahr, dass ich mir selbst eine seelische Hölle bereite.
In meinem Theologiestudium wohnte ich zuerst in einer WG, wo alle und jeder durch den Kakao gezogen wurde. Wie furchtbar dieser Kollege ist, wie schlimm jener Ausbilder und wie katastrophal die Kirchenoberen überhaupt. Je mehr darüber gesprochen wurde, desto mehr breitete sich in mir die Depression aus. Das war ein Klima, das mich krank gemacht hat. Das Wühlen in der Dunkelheit und im Schatten ist nicht ungefährlich und kann leicht abfärben. Wie wäre es damit, in der Fastenzeit weniger im Schmutz zu wühlen?
Die von mir sehr geschätzte Sozialarbeiterin und Therapeutin Virginia Satir hat mit Familien gearbeitet, die sehr vorwurfsvoll miteinander umgehen. Sie hat ihnen zuerst einmal empfohlen, den Blick auf das zu richten, was gut ist und rund läuft und dafür auch einmal Danke zu sagen. „Danke, dass du heute für mich den Kaffee gekocht hast. Das hat mir gefallen und gut getan!“ „Schön, dass es dir gelungen ist, heute pünktlich nach Hause zu kommen.“ „Wie schön, dass du in der Schule aufgepasst hast und dich jetzt an deine Hausaufgaben erinnerst.“ Durch die Sammlung und das Aussprechen der Aufmerksamkeiten wächst ein positives Lichtfeld. Die Menschen, mit denen ich zusammenlebe sind keine Feinde. Sie sind zunächst einmal wunderbare Freunde.
Der Blick auf das soziale Wesen an meiner Seite erinnert mich daran, dass ich zum Glück nicht allein auf dieser Welt bin. Da ist jemand an meiner Seite. Das darf ich mir bewusst machen und genießen.
Viele Menschen an meiner Seite sind wirklich wunderbare Lieblingsmenschen. Ich besitze nicht nur eine einzige arme Rose, von der ich abhängig bin. Ich bin eingebettet in einen Strauß voller bunter Blumen. Vielfältiger als die größte Blumenwiese. Ich muss nur an einen bestimmten Menschen denken, dann entfaltet sich in meinem Herzen ein köstlicher Duft von Nähe und Vertrauen. Ich darf ins Licht stellen, was lichtvoll ist. Ich kann diesen Aspekt jeden Tag verstärken indem ich es sehe, würdige, darüber spreche, es vermehre.
Ich möchte mich und dich gerne jeden Tag daran erinnern. Dass du liebe Leserin und lieber Leser ein wunderbar lichtvolles Wesen bist. Du bist ein göttliches Universum voller Liebe und Wahrheit. Wenn es dich nicht gäbe, wäre die Welt ärmer. Aber die Welt ist reich für mich, weil du da bist. Du bist nicht nur eine oder einer von Vielen. Du gehörst zum Großen und Ganzen der Schöpfung dazu. Du magst dich vielleicht nur als kleines Wesen sehen, aber du bist ein unendlich wichtiger Teil davon.
Ich kann in der Fastenzeit und darüber hinaus die Fehler verringern, die Schattenräume kleiner machen und auf Hass und Entwürdigung verzichten. Oder ich kann die Liebe vermehren.
Wie nimmst du dich selber wahr und wie geht es dir damit, wenn ich dich so anspreche. Kannst du das glauben? Dass du ein äußerst liebenswürdiger Mensch bist? Fallen dir bei dir selbst die vielen wunderbaren Seiten ein, die das bestätigen? Oder denkst du eher: „Wenn du wüsstest wer ich wirklich bin oder wer ich sonst sein könnte – dann würdest du dich von mir abwenden. Ich kann mich ja selber nicht einmal vor dem Spiegel ertragen.“
Ich denke, es ist leicht, in der Fastenzeit auf irgendetwas zu verzichten. Aber es ist für viele Menschen schwer, ganz im Licht zu stehen und sehr liebevoll mit sich zu sein. Obwohl ich das so deutlich sage und für so wichtig finde erlebe ich mich darin auch immer noch als Übenden.
Es beginnt ja schon damit, dass ich mich bei den Gedanken ertappe, von etwas weniger zu machen. Ich möchte zum Beispiel weniger kritisieren. Leider ist der Tag so lang und mir passieren so viele Dinge und es gibt so viele Begegnungen, dass sich ein Haufen Kritik ansammelt. Die Kartoffeln waren einen Augenblick zu lange im Wasser. Ein Autofahrer hat beim Überholen nicht genug Abstand gehalten und mich auf dem Fahrrad gefährdet. Die Verkäuferin hat mich nicht angeschaut bei der Rückgabe des Wechselgeldes. Die Kollegin ist an meinem Büro vorbeigegangen und hat sich nicht verabschiedet. Im Wohnzimmer ist es ein wenig zu kühl. An einem Tag kann es eine lange Liste geben von Dingen, die nicht in Ordnung sind. Dabei ist es egal, ob die anderen etwas falsch machen oder ich selber mich falsch fühle.
Auch, wenn die anderen schuldig an meinem Unwohlsein sind und ich alles richtig gemacht habe gibt es dieses Unwohlsein. Es taucht auf, weil ich so viele Kritikgedanken im Laufe des Tages in mir gesammelt habe.  Die Kritikgedanken in mir erschaffen ein schädliches Klima. Wenn ich fürsorglich mit mir umgehe, werde ich etwas dazu beitragen, dass das Lebensklima freundlicher wird.
In Ahlen wird im Augenblick darüber gestritten, ob das alte Rathaus abgerissen oder saniert werden soll. Da haben sich echte Fronten aufgetan. Feindbilder sind entstanden. Unversöhnliche Ansichten stehen sich gegenüber. Kann aus so einem Konfliktpaket etwas entstehen, wo alle Einwohner einverstanden sind? Ist es noch möglich, dem „Gegner“ wohlwollend zu begegnen. Dass beide Gruppen einen Teil von Wahrheit erkannt haben? Manchmal ist es so, dass die Einen sich als „lichtvoll“ erleben und die anderen „dämonisch“. Schon entsteht eine Polarität, die entzweit und trennt. Wer hat Recht, wer ist machtvoller und wer kann sich durchsetzen?
Die Kirche macht es nicht anders. Da gibt es den synodalen Weg und die Frage, wer geweiht werden darf und wer ausgeschlossen wird. Die eine Gruppe der Bischöfe fürchtet um den Verlust der katholischen Identität und die anderen darum, unterzugehen, wenn sich nichts ändert. Was wird aus dieser Atmosphäre entstehen? Wer ist im Licht und wen stecke ich in die dunkle Ecke?
Wie sähe eine Antwort in Richtung Rathaus, synodaler Weg oder deinem eigenen inneren Dilemma aus, wenn ich andere Fragen stelle: Wie kannst du angesichts dieser Situation noch liebevoll sein? Wie kannst du das Wohl aller vermehren? Was kann ich für dich tun und was du für mich? Wie könnten wir beide dazu beitragen, dass das Leben liebenswerter ist? Wenn wir das machen würden – wie sähe dann ein Rathaus aus oder ein synodaler Weg? Gäbe es vielleicht sogar etwas völlig unerwartet Neues? Etwas, was Rathaus oder synodale Wege übersteigt? Was kann ich dazu beitragen, dass das lichtvolle Wesen in jedem Menschen besser leuchten kann? Was lässt Menschen friedvoller werden?
Wie sähe mein oder dein Leben aus, wenn es liebe- und lichtvoller wäre? Gäbe es einen Unterschied zum Jetztzustand? Könnte ich einen kleinen Schritt in die Richtung setzen, dass mehr davon entsteht? Von dem Lichtvollen? Der Wunsch und die Bewusstheit in mir sind da. Und ich kann es immer und an jedem Ort machen. Ich brauche dafür keine Voraussetzung und keine Vorbedingung. Nur den Impuls in mir und die Entscheidung, es einfach zu tun. Hallo du lichtvolles Wesen an meiner Seite und in der räumlichen Ferne! Danke, dass ich das mit dir teilen darf.

Freitag, 28. Oktober 2022

Ein im Herzen eines Apfels versteckter Kern ist ein unsichtbarer Obstgarten. (Khalil Gibran)


Wenn ich einen Apfel esse und bis zum Gehäuse vordringe, dann stoße ich auf die Kerne. Unscheinbare kleine braune bis schwarze Kerne. Ich weiß, dass das die Samen sind für neue Apfelbäume. Doch was sehe ich? Was nehme ich wahr? Wie deute ich ich das, was ich sehe und welche Gefühle entstehen in mir? Khalil Gibran betrachtet einen Kern im Herzen des Apfels und "sieht" einen unsichtbaren Obstgarten.
Er sieht nicht ein "Gehäuse", sondern das "Herz". Nicht ein verborgener Baum sondern einen ganzen Obstgarten. Welche Hoffnung und welch grenzenloser Optimismus! Er sieht im Verborgenen schon die Vollendung. Nicht die Möglichkeit sondern die vorweggenommene Wirklichkeit.
Kann der Apfelkern da noch etwas anderes machen als zu wachsen und zu einem Obstgarten werden? Wie wird aus dem Kern ein Garten? Nun, im Schatten des ersten Baumes werden sich andere Pflanzen ansiedeln. Sie werden den Platz schätzen und sich dort wohl fühlen und mit entwickeln. Der eine Apfelbaum wird zum Paradies. Und das erinnert an das verloren gegangene Paradies in der Bibel. Ich beiße in den Apfel und erkenne den verborgenen Obstgarten, das Paradies auf Erden.

Wofür ist das nun ein Bild? Für dich und für mich! Du bist der Obstgarten! In deinem Herzen steckt dieser Kern. Wie siehst du dich selber? Wie oder was nimmst du von dir selber wahr? Denkst du, dass du ein kümmerlicher schwarzer kleiner Kern bist? Denkst du, dass mit dir nichts los ist und dass du froh sein kannst, irgendwie zu überleben?
Du darfst größer von dir denken. Viel größer! Du bist ein Obstgarten! Vielleicht noch unsichtbar? Mir gefällt die Vorstellung von der vorweggenommenen Wirklichkeit. Nicht die Möglichkeit. Eine Möglichkeit kann kommen, muss aber nicht. Eine vorweggenommene Wirklichkeit tut schon mal so, als sei sie real. Und dazu möchte ich dich einladen. Schau in den Spiegel und entdecke deine Potentiale. Alles ist in dir schon angelegt. Es ist schon vorhanden wie in einem Apfelkern. Du musst nichts von dir neu erfinden oder mühsam suchen. Es ist alles da. Kannst du es entdecken? Was hindert dich noch daran, es wachsen zu lassen? Deine Zweifel? Deine irrigen Glaubenssätze? Deine erdrückende Vergangenheit? Deine schlimmen Kindheitserlebnisse? Du bist ein Obstgarten! Ein Paradies! In dir wohnt Gott. Wo anders sollte er wohnen als in dir? Er wohnt in dir und in seinem eigenen Paradies.
www.matthias-koenning.de

Donnerstag, 27. Oktober 2022

Tote Zeiten!




Vor einiger Zeit sprang mein Auto nicht an und ich musste mit dem Zug zur Arbeit nach Münster fahren. Mit dem Auto wären es nur 45 Minuten. Mit Fahrrad, Bahn und Bus benötige ich 1,5 Stunden. Ich stehe am Bahnsteig. Der Zug verspätet sich. Ich warte zehn Minuten. In Hamm koppeln sich zwei Züge aneinander und ich sitze dort und warte wieder zehn Minuten. In Münster stehe ich am Busbahnhof und warte noch einmal zehn Minuten. So kommen dreißig Minuten Wartezeit zusammen. Lauter tote Zeiten!
Ich warte vor meiner Kaffeekanne bis das Wasser kocht. Manchmal kann ich etwas parallel in der Küche machen. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und rechne die toten Minuten des Tages zusammen. Minuten, wo ich warte. Minuten, wo nichts passiert. Sinnentleerte Minuten. Minuten, die sich unheimlich dehnen. Ich höre einer Predigt zu, die nur zehn Minuten dauert, sich aber wie eine Stunde anfühlt. Ich stehe beim Bäcker oder an der Kasse im Supermarkt und ich sehe die kostbaren Minuten meines Tages dahinfließen. Ich stelle mir vor, wie wir alle in der Corona-Quarantäne hocken und Däumchen drehen.
Ich lese ein paar Artikel aus dem Bereich von Zeitmanagement und erfahre, dass ich tote Zeiten auch nutzen kann. Emails schreiben an der Supermarktkasse. Im Zug meditieren. Statt in Stunden denken, lieber den Tag in Viertelstunden aufteilen. Also tote Zeiten vermeiden oder irgendwie sinnvoll nutzen mit kleinen Dingen.
Und dann kommen dennoch die toten Zeiten. Ich sitze im Wartezimmer beim Arzt und mag weder lesen noch meditieren. Gespräche führen mit den anderen Patienten finde ich auch nicht so spannend. Ich schlage buchstäblich die Zeit tot. Ich sitze mit meiner „Zeitklatsche“ da und schlage Minute um Minute tot. Ich komme einfach nicht dran. Immerhin kann ich die Zeit totschlagen.
Tote Zeiten? Ich sitze da und lese für meine Tätigkeit ein Buch oder einen Aufsatz. Der Text langweilt mich. „Es langweilt mich zu Tode“, sagen wir ja manchmal. Bei einer Fernsehsendung, einem Kinofilm oder einer Konferenz. Dann sitzen wir da und machen etwas, aber es fühlt sich sinnlos an. Wenn eine Tagung wirklich einen ganzen Tag dauert halte ich am Abend Rückschau und denke: „Das hätte ich mir schenken können.“ Tote Zeit! Oder du liest jetzt meinen Text und denkst: „Frustrierend! Kenne ich schon! Nicht besonders interessant!“ Du ärgerst dich, dass du die Zeit verplempert hast.
Toten Zeiten! Wir gehen in den Supermarkt und das Sonderangebot ist schon ausverkauft. Umsonst gelaufen. Du holst den Kuchen aus dem Backofen, der dir so viel Zeit gekostet hat und er ist verbrannt. Stundenlang stehst du am Herd für dein wunderbares Rezept und die Familie mault.
Noch mehr tote Zeiten? Du könntest ja mal Bilanz ziehen im Rückblick auf dein gesamtes Leben. Sprachen, die du gelernt hast und nicht anwendest. Kurse, die du besucht hast und wovon du nichts umsetzt. Freundschaften, die du pflegst, obwohl sie schon lange „tot“ sind. Auf wie viele tote Jahre kommst du?
Woher kommt eigentlich unsere Vorstellung, dass wir unsere Zeit sinnvoll nutzen sollten. Jede Minute an jedem Tag in jedem Jahr und ein ganzes Leben lang! Carpe diem! Da stimmt doch was nicht! An meinem Denken und an meiner Einstellung.
Ich sehe überall Uhren und Kalender. Ich trage dort meine Arbeitszeiten ein. Meinen Urlaub und meine Begegnungen. Im Smartphone, im PC und auf dem Papier.
Ich werde geboren an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Jahr und nehme ab dann teil am Erdenleben. Es kommt die Minute und der Tag, an dem ich diese Erde wieder verlasse. Die Zeit begleitet mich nicht nur, sondern sie gibt den Takt vor. Nicht bewusst in den ersten Jahren meines Lebens. Als Baby habe ich völlig unabhängig vom Wochentag geschrien. Da kannte ich die Zeit noch nicht. Aber irgendwann brachten meine Eltern mir bei, wie ich eine Uhr lesen muss und dass es wichtig ist, pünktlich zu sein und sich die Zeit gut einzuteilen. Denn die Zeit ist Geld und die Zeit ist begrenzt.
Als kleines Kind hatte ich noch gedacht, dass ich einfach frei bin. Ich spielte, ich aß, ich schlief. Ich war Teil einer Familie. Bedürfnisse wurden erfüllt oder auch nicht. Dasein in der totalen Gegenwart.
Doch jetzt bin ich ein Wesen, dass einem Kalender und einer Uhr folgt. Die Uhr und der Kalender weisen mich hin auf tote Zeiten. „Mach mehr aus deinem Leben! Hol raus, was du rausholen kannst. Du weißt nicht, ob du morgen noch eine Möglichkeit hast!“
Ich sitze jetzt vor meiner Uhr und schaue sie an. Da laufen Sekunden-, Minuten-, und der Stundenzeiger und versetzen mich in einen Trancezustand. Und jetzt erzähle ich dir, was die Uhr zu mir gesprochen hat. Und wenn du dein Leben so ahnungslos wie bislang weiterführen möchtest dann liest du ab jetzt auf keinen Fall mehr weiter. Es wäre nicht gut für dich! Wenn du weiterliest, gehst du ein Risiko ein. Also überleg es dir gut! Folgendes hat die Uhr mir zugeflüstert:
„Du erlebst tote Zeiten? Gut, dass du sie erlebst. Spürst du den Druck? Du solltest ein sinnvolles Leben führen? Die Zeit ausnutzen? Etwas aus dir machen? Wenn du diesen Druck spürst dann habe ich erreicht, was ich wollte. Ich sage es dir kurz und knapp.
Ich bin die Herrin und du mein Sklave. Es ist doch so, dass du mir gehorchst, nicht wahr? Du stellst mich am Abend ein, damit ich dich am Morgen wecke. Und brav stehst du auf. Du kochst dir den Kaffee und frühstückst mit dem Blick auf mich. Ich stehe an deinem Bett, hänge an deiner Wohnzimmerwand, habe einen Platz an deinem Arm und auf deinem Smartphone. Frühstücke nur, aber behalte mich im Blick. Oder auch nicht. Du kannst mir sowieso nicht ausweichen. Ich klebe wie ein Parasit in deinen Zellen. Du wirst mich nicht los!
Ich arbeite übrigens für deinen Arbeitgeber. Der möchte möglichst viel von dir haben und dass du dich genau an die Zeiten hältst. Ich habe mit ihm einen Vertrag geschlossen, dass du mindestens 140 000 Stunden zur Verfügung stehst. Nicht heute, aber insgesamt. Ich bin ständig präsent und achte darauf, dass du deinen Vertrag einhältst. Ich bin immer mit im Spiel. Es geht nie ohne mich! Selbst im Urlaub bin ich präsent und zeige dir ab dem ersten Tag, dass dein Urlaub bald schon vorbei ist. Ich sehe dir in die Augen und merke, wie du leidest. Du bedauerst, dass du nur zwei Wochen Urlaub hast. Du hättest gerne mehr davon. Ich verlängere um zwei Tage und sehe die Erleichterung in deinem Gesicht. Ich genieße meine Macht und deine Abhängigkeit. Wie du aufatmest bei zwei mickrigen Tagen! Ich bleibe Sieger. Du gehörst mir. Mir, der Zeit. Ich bin der Besitzer und du bist mein Eigentum. Ich lasse es dich nicht spüren. Du sollst mir ja freiwillig gehorchen. Das macht es mir leichter. Ich will dich ja nicht zu den Terminen prügeln. Am Ende stirbst du noch vor der Zeit, die dir biologisch vergönnt ist. Ich lese deine eigene Todesanzeige und dort wird ein Datum stehen. Von dann bis dann hast du mir gehört. Ich bestimme also auch noch das Erscheinungsbild auf deiner Todesanzeige. Oder hast du schon mal eine Anzeige gesehen wo stand: „Das war Matthias! Du warst ein netter Kerl. Wir werden uns gerne an dich erinnern. Mach es gut!“ Nein, dort steht von wann bis wann! Je kürzer die Zeit, desto größer der Schrecken beim Leser. Dann reibe ich mir die Hände. Du wirst dein Tempo erhöhen!
Wenn du im Stau stehst, dann mache ich dir Druck! Ich kann zwar nichts machen und muss es aushalten. Aber ich kann dafür sorgen, dass du dir Sorgen machst. Dass du ein schlechtes Gewissen bekommst. Jeder Stau hilft mir dabei, dass du gehorsamer wirst. Stell dir doch einmal vor, dass es auf der ganzen Welt keine Uhr gäbe! Du würdest im Stau stehen und wärest völlig gelassen. Du müsstest ja nirgendwo pünktlich ankommen. Du würdest vielleicht nur zwei Stunden arbeiten anstatt sieben oder acht. Daran hat dein Arbeitgeber kein Interesse. Er möchte, dass der Betrieb so präzise abläuft wie ich, die Uhr.
Ich weiß, dass es eigentlich unmenschlich ist. Menschlicher wäre es, wenn du mit der Sonne aufwachst und dich dem Rhythmus des Lichtes und des Herzens überlassen würdest. Aber dann würde ich meine Bestimmung verlieren. Ich lebe davon, dass du mir gehorchst.
In den vielen Jahren meiner Existenz habe ich gelernt, ganz dezent im Hintergrund zu arbeiten. Du kannst mein Wirken vergleich mit der Geschichte vom Frosch im heißen Wasser. Wenn ein Frosch ins heiße Wasser fällt dann springt er vor Schreck sofort wieder heraus. Wenn er aber im kalten Wasser ist und ich langsam und stetig die Temperatur erhöhe wird er nicht springen. Inzwischen könnt ihr Menschen nicht einmal mehr ohne mich leben. Ihr verplant euer Leben und ich gebe den Takt vor.
Und dann sind da die geheimnisvollen toten Zeiten. Die sind gefährlich für mich. Wenn du nichts zu tun hast dann wirst du innerlich unruhig. Es kommt dir seltsam vor. Du möchtest etwas Sinnvolles tun. Ich laufe ja immer weiter und habe dich gut konditioniert. Du bist mein pawlowscher Hund. Nur, wenn die toten Zeiten kommen, dann könnte etwas geschehen, wovor ich Angst habe. Ich flüstere es dir jetzt ins Ohr. Komme näher.
Wenn du in einer toten Zeit in dich hineinspürst, dann könntest du bemerken, dass ich dich beherrsche. Du könntest aufwachen und dir sagen: „Genug!“ „Nicht mehr mit mir!“ Du könntest alle Uhren und Zeiten aus deinem Leben verbannen. Du würdest einfach tun was du wolltest. Dir wäre es egal, ob du noch zwei oder zwanzig Jahre Zeit zum Leben hättest. Du würdest angstfrei und gewissenlos werden und nach deinen inneren Impulsen leben. Du würdest nicht mehr berechenbare 40 Stunden für so und soviel Euro arbeiten sondern irgendwie und einfach so. Dein Arbeitgeber wüsste nicht mehr, was er dir bezahlen sollte. Du würdest ihm sagen, dass du gut gearbeitet hast und dir wünschst, dass er dich jetzt gut bezahlt. Alles würde mehr nach einem Gefühl oder zeitlosem Rhythmus laufen.
Ich würde meine Macht und Vorrangstellung verlieren. Und daran habe ich kein Interesse. Es läuft doch prima so, wie es läuft. Nicht wahr? Es läuft und läuft und läuft. Ein kleiner Burnout gefällig? An die Verhinderung muss ich wohl noch arbeiten.
Was wäre das Gegenteil oder der Gegenpol von Zeit? Hast du einmal darüber nachgedacht? Wenn du diesen Pol entdeckst, dann bin ich dich los. Daran habe ich kein Interesse. Und jetzt wach auf und arbeite weiter!“
Ich wache auf und stelle die Uhr beiseite. Ich tauche tief in meine toten Zeiten ein. Wie wäre es, wenn ich nicht die toten Zeiten betrachte mit einem Gefühl des Versagens, sondern die Zeit an und für sich ausschalte oder töte. Es gibt Augenblicke, wo die Zeit gar keine Rolle spielt. Ich denke an das, was ich liebe. Ich fühle es und plötzlich existiert die Zeit nicht mehr. Sie ist gar nicht mehr da. Die Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlieren ihre Bedeutung. Zeit zeigt sich nur als Teil meiner menschlich begrenzten Denkweise. In diesem Zustand gibt es kein Gegenteil von Zeit. Auch keinen Gegenpol. Keine grenzenlos ausgedehnte Zeit.
Wenn ich in einer „toten Zeit“ in mein Inneres eintauche werde ich mir meiner selbst bewusst. Ein wort- und gedankenloser Zustand. Worte und Gedanken bin ich los. Stille? Frieden? Verbunden sein? Ein Schweigen!
Vielleicht finde ich in den toten Zeiten das Gegenteil vom Tod. Lebendigkeit. Den Atem, der kommt und geht. Den Puls und den Herzschlag. Das alles kann ich wahrnehmen in toten Zeiten.
In den toten Zeiten komme ich zurück zu meinem natürlichen Zustand. Ich werde mir bewusst, dass es eigentlich keinen Zwang gibt. Das pure Leben an sich ist völlig zwanglos. Löwen teilen auch nicht ein nach Frühstück und Mittagessen. Die Uhr suggeriert mir nur, dass ich mich nach ihr richten muss. Beherrsche ich die Uhr oder beherrscht sie mich. Das Motto für jede Fastenzeit und auch für eine österliche Erfahrung. Beherrsche ich den Alkohol oder beherrscht er mich. Beherrschen mich die Gefühle oder beherrsche ich sie?
Zugleich wird mir bewusst, dass auch das „Herrschen“ und das „Beherrschen“ zu einem Zwang werden kann, der mich unfrei macht. Wie wäre es, mit der Zeit zu spielen? Mit dem Alkohol zu spielen? Mit allen „Herrschaften“ zu spielen! Vielleicht ist es ja möglich, in all den vielen „Herrschaftsräumen“ sich „Freiheitsräume“ zu ermöglichen. Und wenn die Zeit sich als Herrschaftsraum zeigt, dann könnte ich mich ab und zu mal einfach verweigern. In „tote Zeiten“ abtauchen! Mich darin innerlich lebendig fühlen und ein wenig ausdehnen. Jemanden an der Kasse vorlassen. Im Wartezimmer beim Arzt sich fühlen wie in der Sauna. Am Bahnsteig einfach nur herumstehen dürfen. Es gibt nichts zu tun!


Mittwoch, 26. Oktober 2022

Jede Krise birgt auch eine Chance!

                                                                                              
Das Kind bekommt ein schlechtes Zeugnis und wird nicht versetzt in die nächste Klasse. Da kann man nichts machen!
Das Paar hat sich heillos zerstritten und reicht die Scheidung ein. Da kann man nichts machen.
Der Kranke liegt im Sterben und der Tod wartet vor der Tür. Da kann man nichts machen.

Klingt wie Resignation, nicht wahr. Manchmal müssen wir uns dem "Schicksal" ergeben. Das Kind hat sich alle Mühe gegeben und dennoch die erforderlichen Noten nicht geschafft. Das Ehepaar war sogar in einer Beratung und der Kranke hat lange gekämpft. Da kann man nichts machen. Es mag sein, dass das Kind nicht versetzt wird, das Paar sich trennt und der Kranke stirbt. In jeder Situation "kann man dann dennoch etwas machen".
Das Kind kann daraus eine Lektion für die Zukunft lernen und andere Wege gehen. Das Paar findet in der Krise vielleicht einen neuen Anfang. Der Kranke kann noch vor dem Tod seinen Angehörigen seine Liebe zeigen.
Die Situationen können wir manchmal nicht verändern, aber unsere innere Einstellungen. Jedes Ereignis, das uns herausfordert, gibt uns die Gelegenheit zum inneren Wachsen.

Du kannst dein Leben bejahen mit allen Facetten. Es gibt nichts zu tun.
Du kannst Ja sagen auch  zu deinen Fehlern. Dann gibt es nichts zu tun.
Du kannst dich mit dir selber aussöhnen. Dann gibt es nichts zu tun.

Da kann man nichts machen - Resignation.
Es gibt nichts zu tun - einfach im Sein sein!

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Dienstag, 25. Oktober 2022

Wir hinterlassen Spuren... aber nicht immer!


Manchmal verschwindet etwas spurlos. Socken verschwinden in der Waschmaschine und Pullover befinden sich plötzlich nicht mehr im Schrank. Du bist dir sicher, wo du deine Sachen abgelegt hast und auf einmal sind sie nicht mehr da. Spurlos verschwunden. Ich vermisse meinen Personalausweis. Er ist spurlos verschwunden. Ich habe alle Schubladen abgesucht und alle Jacken- und Hosentaschen gefilzt. Ich habe an jeden auch nur erdenklichen Ort nachgeschaut und jetzt blicke ich der Tatsache ins Auge. Mein Peronalausweis ist unauffindbar. Dabei steht doch darauf, wer ich bin. Mein Name, meine Anschrift, die Körperlänge und die Farbe meiner Augen. Merkwürdig, nicht wahr? Zur gleichen Zeit befinde ich mich in einer Identitätskrise. Vor zwei Jahren wusste ich noch, wer ich war. Das weiß ich im Moment nicht mehr. Ist es da nicht folgerichtig, dass sich der Personalausweis auch auflöst? Wie im Inneren so auch im Äußeren. Ich versuche, eine Weile ohne Identität auszukommen und probiere es auch mit meinem Ausweis. Wenn ich hoffentlich irgendeine Identität wiedergefunden habe wird sich auch der Ausweis einfinden.
Spurlos verschwinden Dinge und auch Menschen. Hast du schon erlebt, wie Menschen in deinem Leben spurlos verschwunden sind? Sie haben sich nicht verabschiedet und du hast auch nicht selbst Abschied genommen. Ihr habt euch nicht gestritten und nicht bewusst getrennt. Aber wenn du genau hinspürst, dann ist es doch stimmig. Es ist nicht grundlos, dass diese Menschen aus deinem Leben verschwunden sind.
In einer Achtsamkeitsübung habe ich gelesen, dass ich für eine Woche einen Raum in meiner Wohnung nur so benutze, dass nach der Aktion keine Spuren sichtbar sind. Ich räume also meine Küche so auf, dass ein Fremder denkt, die wird gar nicht benutzt. 
Manchmal ist es gut, wenn die Dinge oder Menschen verschwinden. Wir können eh nichts festhalten. Alles im Leben ist wie Sand und zerrinnt zwischen den Fingern. Wenn etwas spurlos verschwindet gibt dir das Leben die Möglichkeit, eine Lektion zu lernen. Lasse los!

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