Immer
wieder beschäftigt mich die Frage: Wo gibt es einen Platz für mich? Wo darf ich
leben, wo darf ich sein? Ergeht es dir auch manchmal so wie bei dem Kinderspiel
von der Reise nach Jerusalem? Es ist kein Stuhl mehr für dich frei! Du hast das
Gefühl, du gehörst nicht dazu. Du kommst zum Beispiel etwas später zu einer
Geburtstagsfeier. Alle lachen, unterhalten sich und sind in ausgelassener und
gelöster Stimmung. Du hast den Eindruck, du kommst nicht wirklich dazwischen. Und
du bist die Einzige, der Einzige, der nicht dazwischen kommt. Du strengst dich
an, nickst allen freundlich zu und signalisierst dein Interesse. Deine Seele
scheint irgendwo im Raum zu schwirren, aber nicht in dir an dem Platz, wo sie
sich wohlfühlt. Da kommen vielleicht so alte Kindersprüche hoch, die dich
damals schon gekränkt haben: „Aufgestanden, Platz vergangen, musst dir einen
wieder fangen!“ Schrecklich, nicht wahr! Das wird schnell zu einem Einfallstor
für eine depressive Grundstimmung: „Ich gehöre hier nicht hin!“ „Ich gehöre nirgendwo
hin!“ „Es ist so anstrengend, sich immer zu bemühen!“ Und viele Ausbrüche mehr.
Ich
möchte dir von meiner letzten Zugfahrt erzählen. Ich war zu einem Meeting in
Stuttgart und hatte für den Rückweg im ICE einen Platz reserviert. Als ich im
Zug einstieg, saß auf meinem Platz ein Mann und las seine Zeitung. Zwischen
seinen Füßen stand seine Aktentasche. Am Haken hing sein Mantel. „Es tut mir leid“, sagte ich, „aber dieser Platz ist leider reserviert.“ (Nur so nebenbei –
das mit dem „Leidtun“ ist doch eine Floskel, oder? Man ist doch froh über einen
Platz, der freigehalten wird von der Bahn, extra für dich. Außerdem kostet das
ja auch Geld.)
Aber
weiter zu meinem Erlebnis. Der Mann faltete wortlos seine Zeitung zusammen,
nahm seinen Mantel und seine Tasche und setzte sich direkt auf den Sitz vor
meinem jetzt frei gewordenen Platz und faltete seine Zeitung wieder
auseinander. Aber dort gab es auch
eine Reservierung. Der „Besitzer“ dieses Platzes kam weniger als eine Minute
später. Das gleiche Spiel wiederholte sich: „Entschuldigung…“ Zeitung falten,
Mantel und Tasche nehmen. Wieder einen Platz weiter, jetzt schräg rechts davor.
Wieder keinen Blick auf das „Reserviert“ - Zeichen und die Zeitung ausfaltend.
Dieses mal saß dort schon ein Gast, der nur mal kurz zur Toilette musste.
Wieder stand Mister „Besetzer“ wortlos auf und suchte sich den nächsten freien
Platz. Der lag dann leider im nächsten Abteil und ich weiß nicht, wie die
Geschichte endete. Meine ersten Regungen waren: „Der hat nicht alle Tassen im
Schrank! Kann er denn nicht nachschauen! Ist der blind? Warum hat er sich nicht
eine Reservierung bestellt wie jeder andere? Ist der dreist!“
Zugleich
jedoch musste ich innerlich grinsen. „Welch herrliches Erlebnis hier im Zug!
Ach, wie wunderbar dreist doch jemand sein kann! Wie abgefahren! So frech
möchte ich auch mal sein! So bekommt man auch einen Platz – halt immer wieder
einen neuen. Das ist zwar anstrengend und aufwendig, aber so geht es auch!“
Es
gibt viele Möglichkeit mit der Frage nach dem Platz im eigenen Leben umzugehen.
Warte ich darauf, bis mir jemand einen Platz an seiner Seite anbietet? Ergreife
ich die Gelegenheiten, die sich mir bieten? Nehme ich einfach Platz, wo immer
ich einen sehe? Warte ich auf Einladungen? Verbinde ich das mit der Frage:
Werde ich gesehen? Mag mich jemand? Kann ich es akzeptieren, auch einmal
übersehen oder abgelehnt zu werden?
Unsere Verstorbenen hatten mal einen körperlichen Platz in dieser
Welt und mussten ihn verlassen. Auch wir werden diesen Platz einmal räumen
müssen. Es gibt keine festen Plätze, die für immer und ewig an der gleichen
Stelle unser Eigen sind. Du bist Gast auf dieser Welt und ich bin es auch. Als
Gast habe ich auf jeden Fall einen Platz, wo ich gerade bin. Das ist doch schon
mal eine Aussage!
Da,
wo ich gerade bin, kann niemand anders sein. Ich habe meinen Platz, weil ich bin. Also sei gelassen! Aufgestanden, Platz vergangen… Na und? Stell dir vor, dass da wo du gerade sitzt, sich dein Thron befindet. Dort darfst du thronen. Bist du auf dem Sprung oder sitzt du ordentlich fest!www.matthias-koenning.de
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen