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Montag, 3. Juli 2017

Mein innerer Totengräber


Ich bin ein Sammler. Ich sammle vor allem Gedanken. Und ich sammle Kränkungen. Gesammelte Kränkungen machen mich krank. Das ist nicht gut für meinen Körper und für mein Wohlbefinden. Es fühlt sich sehr vergiftet an.
Manche Kränkungen kann ich schnell vergessen. Vor allem die kleinen Kränkungen im Alltag. Aber wie ist das mit den großen Kränkungen wie die Brüche von langen Freundschaften. Ich kann mich jetzt zurückerinnern an eine Freundschaft, die bis vor zwanzig Jahren noch sehr schön war. Dann kam der Bruch und wochenlang Schmerzen, Frust, Trauer, Wut und Enttäuschung. Die Gefühle wurden im Laufe der Jahre schwächer. Aber ich kann mich ganz schnell da wieder reinsteigern. Und plötzlich ist es wie vor zwanzig Jahren. Ein Ereignis, das Jahre zurückliegt, wird wieder aktiv. Wie eingelagerte Viren, die nur auf den richtigen Augenblick warten.
Ich koche mir einen Tee und trinke ihn. Dann hänge ich diesen gleichen Teebeutel wieder in die nächste Tasse, weil der Tee so gut geschmeckt hat. Ich hänge diesen Teebeutel wieder und wieder in die Tasse und bin nicht bereit, den Teebeutel wegzuwerfen. Wie eine Sucht! Wie ein Zwang! Mein ehemaliger Freund würde jetzt bestimmt sagen: "Das wünsche ich dir. So wie du mich behandelt hast..."
Jetzt habe ich vor ein paar Tagen gehört, dass Fußballfans friedlicher werden, wenn sie vor dem Spiel an einem Friedhof vorbeifahren müssen. Der Friedhof mit dem Thema Tod führt die Menschen zur Besinnung. Das brachte mich auf eine schöne Idee. Der Totengräber begräbt die Toten. Er entsorgt die Leichen in ein Grab, damit sie nicht überirdisch ihren Gestank verbreiten.
Kränkungen stinken auch. Sie hören nicht einfach so auf! Ich muss aktiv etwas machen. Erst, wenn ich die Kränkungen zu Grabe trage, kann Frieden einkehren. Dann habe ich meine Augen geschlossen und in mir geforscht, ob es dort einen Totengräber gibt. Da stand doch tatsächlich so ein Kerl da rum und lehnte sich entspannt auf seinen Spaten. Ich fragte ihn, ob er nichts zu tun hätte. Da sagte er zu mir: "Zu tun hätte ich schon genug. Aber du willst ja deine stinkenden Kränkungen lieber behalten. Seit Jahren stehe ich hier herum und habe einen total sauberen Spaten. Ich habe nichts zu tun. Aber es stinkt gewaltig. Du müsstest mir nur einen Auftrag erteilen und dann würde ich sofort loslegen." Super, dachte ich! Weg mit dieser zwanzig Jahre alten Kränkung!
Zugleich merkte ich aber auch, dass ich diese Kränkung gar nicht wirklich loswerden wollte. Ich hatte mich so gewöhnt an dieses Scheißgefühl. Da konnte ich mich so richtig drin eingraben und meinen Weltschmerzgefühl aufrecht halten. Dieser Freund hatte doch meine Ansicht bestätigt, dass es in der Welt nur Verrat gäbe. Sollte ich wirklich dieses Gefühl loslassen und dem inneren Totengräber sagen: "Prima! Vielen Dank! Vergrabe diese stinkende Kränkungsbrühe!"
Ich habe mich entschieden! Weg damit! Das war echt eine Entscheidung! Da ist auf einmal ein Loch. Was mache ich jetzt, wo das Kränkungsgefühl weg ist. Das hat doch mein Überleben gesichert. Es hat mich zwar vergiftet, aber es war sicher. Jetzt ist mein Leben unsicher. Mein Totengräber will es aber nicht wieder ausbuddeln, das Kränkungsgefühl. Er hat mir gesagt, dass er dafür nicht zuständig sei. Er buddelt nur ein. Ich solle einfach ein paar Wochen warten, dann verwandelt sich die stinkende Brühe in wunderbarem Humus.
Wow! Meine Kränkung soll zu Humus werden. Völlig neue Perspektiven! Jetzt warte ich mal ab und vertrau dem Meister der Verwesung! Und? Wie sauber ist die Schüppe deines inneren Totengräbers?
www.matthias-koenning.de

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