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Dienstag, 11. Juli 2017

Ferien vom Ich


Wie wäre es einmal mit „Ferien vom Ich?“ Immerhin steht die Urlaubszeit vor der Tür und die Urlaubsziele stehen hoffentlich fest. Den Alltag hinter sich lassen. Keinen Stress mehr! Keine Termine im Kalender! Super! Wirst du es genießen können? Bist du frei von Sorgen und Aufgabenpaketen? Fühlst du dich frei im Herzen? Oder wirst du deinen ganzen Gedankenmüll mit auf die Reise nehmen. Vielleicht möchtest du ja auch verreisen in der Hoffnung, am Urlaubsort dein Zeug loszuwerden. Der Nordseestrand sozusagen als Sammelplatz von Sorgenhaufen! ;-)
In meiner Erinnerung tauchte vor ein paar Tagen der Gedanke auf: „Ferien vom Ich“. Bei meiner Recherche stellte ich fest, dass so der Titel eines Buches von Paul Keller heißt. Eine Idee daraus wurde dreimal verfilmt. Ein gesundheitlich lädierter Milliardär steigt aus seinem reichen Leben aus und macht anonym eine Art Reha. Pause von den lästigen Kakerlaken, die nur sein Geld wollen. Flucht vor denen, die sich in der Sonne seines Reichtums mit bescheinen lassen möchten.
„Ferien vom Ich!“ Geht das überhaupt? Und wenn ja – wie? Und vor allem: Was hätte ich davon, wenn ich es täte?
In dem Spielfilm gehört ja zur Identität des Milliardärs sein Geld. Er macht also mal Ferien von seinem Reichtum und taucht ein in die einfache bürgerliche Welt. Bis zur armen Hütte reicht es allerdings nicht. Er bleibt „gutbürgerlich“.
Wenn ich Ferien vom Ich machen wollte müsste ich zuerst wissen, was denn zu meinem „Ich“ so dazu gehört? Ist das ein Ganzes? Besteht es aus Teilen? Wenn ich mit meinem Namen gerufen werde, dann rufe ich: „Das bin ich!“ Und ich meine mich irgendwie ganz. Ein Namensvetter könnte sich zur gleichen melden mit dem gleichen Satz. „Das bin ich!“ Ich bin dann immer irritiert wenn ich nicht gemeint bin. Für den Bruchteil einer Sekunde versinke ich in die Existenzlosigkeit. Ich bin für einen Moment nicht mehr da. Ich wache auf und denke: Menschen mit meinem Namen gibt es also viele.
Zu meinem „Ich“ gehören zugleich viele Teile. Mein Aussehen und das Bild, das ich selbst von mir habe. Da gehören meine Familienangehörigen zu und meine Freunde. Meine Ausbildungen und mein Beruf. Meine guten und meine schwierigen Kindheitserlebnisse. Meine Fähigkeiten und Eigenschaften, Meine Werte und meine Persönlichkeit. Meine Wünsche, meine Träume und meine Scham. All dieses und noch viele Teile mehr würden ein buntes Mosaik ergeben. Ich könnte da die Überschrift hinsetzen und sagen: „Das bin Ich!“ Auch wenn es mehrere Menschen mit meinem Vornamen gibt unterscheide ich mich doch recht deutlich. Ich stelle mich vor den Spiegel und erkenne mich wieder. Da sehe ich niemanden, der so ähnlich ist wie ich. Ich sehe mich selbst.
Wenn ich mein Lebensmosaik betrachte könnte ich auf die Idee kommen, dass das Mosaik irgendwie willkürlich ist. Gebastelt. Könnte auch anders aussehen. Mehr davon oder sogar weniger? Ich könnte im Urlaub mal reduzieren. Ganz schön viel, was ich da vom „Ich“ mit herumschleppen muss. Ständig erwartet jemand etwas von mir. Und ich möchte zugleich meinem eigenen Bild entsprechen. Es gehört ja zu meinem Ich dazu. Ich gehe regelmäßig zur Arbeit. Ich möchte mich selber so sehen und auch, dass die anderen mich so wahrnehmen. Ich bleibe nicht einfach so zu Hause! Ich bin ein Freund und entscheide mich nicht, mal jeden zweiten Tag ein Feind von meinem Freund zu sein. Die vielen Puzzleteile meines „Ich“ stärken meine Identität und geben mir Halt und Sicherheit. Sie bilden einen Rahmen, so dass ich nicht auseinanderfalle. Wer wäre ich denn ohne all diese Teile meines Ich-Mosaikes?
In meinen Beratungen fällt mir auf, dass manche Menschen sich auf eine eigenartige Weise selbst beschreiben. Sie sagen zum Beispiel nicht direkt und einfach: „Ich mag gerne Milch.“ Oder „Ich komme oft zu spät.“ Sie sagen stattdessen: „Ich gehöre zu den Menschen, die immer noch Milch trinken.“ Sie fühlen sich einer Art Gruppe zugehörig. Die Gruppe der „Milchtrinker “ oder der „Zuspätkommer“. In einer Gruppe kann man gut abtauchen oder sich verstecken. Oder durch die „Gruppe“ fühlt sich der Mensch nicht mehr so allein und unverstanden. Zugleich klingt es wie eine Rechtfertigung oder Aufklärung. Ich selbst höre allerdings immer auch mit: „Ich gehöre zwar zu den Menschen, aber ich weiß nicht, ob das wirklich so stimmt. Und ich schäme mich ein wenig dafür!“ Ich höre also eine gewisse Unsicherheit mit. So jemand könnte ja auch mal diese Gruppe verlassen. „Ich gehöre zu den Menschen, die Milch trinken. Aber jetzt verlasse ich die Gruppe, weil es für mich nicht mehr so notwendig ist.“
Wenn ich mir mein „Ich-Mosaik“ betrachte komme ich zugleich auf die Idee, dass es da Teile gibt, die schon lange nicht mehr so richtig passen. Teile, die früher mein „Ich“ ausgemacht haben, die ich immer noch mit mir herumschleppe, obwohl ich es nicht mehr bin. Wenn ich meine Eltern besuche, dann bin ich immer noch „Sohn“. Ich fühle mich dann auch manchmal wie 10 oder 15 Jahre. Ich finde das nicht angemessen. Klar bin ich immer noch Sohn für meine Eltern, aber erwachsener Sohn und nicht kindlicher Sohn. Dieser hilflose „Ich“-Anteil ist aber immer noch lebendig und wartet auf einen angemesseneren Platz.
In meinem „Ichmosaik“ kommen manchmal Dinge hinzu und manchmal verschwindet auch was. Mein „Kirchen-Ich“ hat sich im Laufe der Zeit stark reduziert. Manchmal leuchtet er noch auf. Aber vor ein paar Jahren machte der noch einen ganz großen Teil meines Lebens aus. Mein „Ich“ ist also gar nicht so starr festgelegt. Ich dachte lange Zeit, dass ich alle diese Anteile brauchte. Sie gehören zu mir dazu. Ich brauche sie. Dann stellte ich fest, dass ich weiter existierte, auch wenn bestimmte Ich-Anteile verschwunden sind. Trotz weniger „Kirchen-Ich“ existiere ich noch. In die freigewordene Lücke findet sich schnell ein neuer Anteil. Mein Mosaik ist selten leer.
„Ferien vom Ich!“ Ich könnte mal anonym irgendwo Urlaub machen. Da könnte ich dann meine Geschichte verbergen, meinen Namen, meinen Beruf und meine sozialen Verbindungen. Wer wäre ich dann stattdessen? Was bliebe von mir noch übrig? Würde es mir damit gut gehen? Immerhin bekomme ich ja ganz viel Zuwendung für mein „Ich-Mosaik“. „Toll, dass du so ein schönes Haus hast!“ „Du hast ein tolles Brot gebacken. Schmeckt fantastisch!“ Der Zuspruch und die Anerkennung stärken mein „Ich!“ Wenn ich jetzt anonym in den Urlaub fahren würde, bekäme ich möglicherweise keine Anerkennung mehr. Mein Ich würde nach und nach verhungern. Demnach müsste ich dich warnen, Ferien vom Ich zu machen. Das wäre ein höchst riskantes Unternehmen. Du müsstest jemanden mitnehmen, der auf dich aufpasst!
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Menschen, die bewusst in die Einsamkeit, in die Wüste gehen. Da wird das „Ich“ entlarvt. Ausgehungert! Da zählt nicht mehr, was du kannst und wer du bist! Kannst du dir vorstellen, Ferien vom Ich zu machen? So wie Jesus – vierzig Tag ab in die Wüste?
Ich brauche also mein Ich. Es hält mich aufrecht, gibt mir Identität und stabilisiert mich. Nicht umsonst ist es schwer für einen Ehepartner, wenn nach vielen Jahren die „andere Hälfte“ geht. Wer ist die Frau ohne den Ehemann und umgekehrt? Bei der Trauer geht es nicht nur um den Abschied, sondern auch um die Aufgabe, sich wieder selbst zu finden. Wer bin ich ohne den anderen?
„Ferien vom Ich!“ Macht es nun Sinn? Unter bestimmten Voraussetzungen schon. Dann kann es sogar heilsam sein. Es kann ja passieren, dass ich mich einfach zu sehr in meine Arbeit vergraben habe nach dem Motto: „Arbeit ist alles!“ Dann kann ich mich in den Ferien für eine Auszeit entscheiden um wieder in einen Normalmodus schalten zu können. Oder ich hatte gedacht, dass zu meinem „Ich“ gehört, dass ich ständig mit vielen Leuten im Kontakt sein muss. Hier ein Anruf, da ein Treffen, noch ein Whatsapp. Ich mache Ferien von meinen Kontakten und ... stelle fest, dass ich vielleicht ein Junkie bin. Ich bin abhängig davon, dass das Leben um mich herum zirkuliert. Ich bin, weil die anderen sind. Ich könnte Ferien machen von diesem Teil meines Ich. Vielleicht wird es auf einmal still. Beängstigend still. Ich spüre die Leere. Halte das Schweigen aus. Überlebe es. Merke meine Abhängigkeiten. Mache einen ordentlichen Entzug und nehme mir die Zeit, wieder mich selber mehr zu spüren. Ich kann es mit mir aushalten, auch wenn nichts läuft.
Ab und zu einmal Teile meines Ich in die Ferien schicken. Um Platz zu schaffen für neue Impulse. Ich erlaube mir eine Weiterentwicklung. Gebe auf, was ich nicht mehr wirklich brauche und halte mal eine Lücke aus.
Wir müssen ständig Teile unseres Ich aufgeben. Eines Tages verabschieden wir uns vom Beruf, von den Kindern, von Freunden und Verwandten, von der Gesundheit, von Gepflogenheiten, von Häusern... Was bleibt von mir, wenn alle Ich-Anteile sich verabschieden? Breche ich zusammen? Löse ich mich auf? Gibt es etwas hinter allen „Ich-Anteilen“, was mit mir zu tun hat? Auf einer tieferen oder höheren Ebene? Verschwinden die Teile und es bleibt trotzdem das Ganze?
Wenn ich nach und nach meine Ich-Anteile loslassen kann werde ich vielleicht erfahren, dass ich mich nicht auflöse sondern auf einer tieferen Ebene mehr zu mir selbst komme. Zu meinem Selbst. Zu meinem Ursprung und Ziel, zu dem, was jenseits meiner Masken und der Materie liegt. Dort, wo ich „eigentlich“ bin. In meinem Eigenen.
„Ferien vom Ich?“ Eine interessante Ergänzung zu dem Satz „Ich mache Ferien!“ Wir legen ja viel Wert auf die „Ferien“. Wo fahre ich hin? Wie lange und mit wem? Viel weniger fragen wir: „Wer ist das Ich, das Ferien macht..“ oder „Welches Ich macht da jetzt Ferien?“ Da gibt es ja ein „Ich“, das sich ständig überlastet und gestresst fühlt. Dieses Ich braucht eine Pause. Aber das „Ich“ der Beziehungen hat das vielleicht gar nicht nötig. Das braucht keine Ferien. Das „Ich“ der Freundschaft findet Urlaub vielleicht völlig überflüssig oder sogar bedrohlich. Früher machten die Menschen auch keine Ferien und haben nichts vermisst. Vielleicht bekommst du jetzt eine Ahnung, warum reisen für dich unangenehm ist. Du hast es nur nie zugegeben oder zugelassen, weil alle Welt Urlaub toll findet. Dein „Geborgenheits-Sofa-Ich“ will nicht weg!
Für das „Ich“ der Beziehungen kann Urlaub ganz schädlich sein. So weit weg von den Menschen, die du liebst! Wir sollten nicht die Menschen bedauern, die nicht wegfahren. Die pflegen ihre anderen „Ich“-Anteile, welche auch immer das sind.
Ich besaß bislang übrigens kein „Garten–Ich“. In meiner Kindheit war das die Aufgabe meiner Eltern. Gartenarbeiten fand ich furchtbar. Später im Leben wohnte ich immer zur Miete ohne Garten. Jetzt entwickle ich seit ein paar Wochen ein Garten-Ich. Ich hätte nie gedacht, dass das zu einer Facette meines Lebens gehören würde. Noch schaue ich ein wenig irritiert dabei zu und schüttle den Kopf. Ich benutze lauter Geräte, zu denen ich bislang kein Verhältnis hatte.
Aber besteht nicht das Abenteuer des Lebens darin, ständig neue Ich-Anteile zu entdecken und zu entwickeln? Das bin ich und das bin ich auch. Das eine war ich einmal und das andere bin ich nicht mehr. Das könnte ich noch werden, muss es aber nicht. Und alle diese Anteile vom Ich sind nur vorläufig und keines davon ist endgültig. Und viele werden zusammengehalten von der Angst.
Die Angst, dass ich aufhören könnte zu existieren, wenn das „Ich“ nicht mehr da ist. Und das ist wohl die größte Herausforderung an mich.  
Und? Machst du Ferien? Möchtest du Ferien machen vom Ich? Von einem Teil davon? Oder ist dieser Gedanke für dich abwegig und fremd? Ich wünsche dir auf jeden Fall eine Ferienzeit, in der du gut mit dir sein kannst, mit welchen Anteilen oder welchem Ich auch immer. Die Fußballvereine nutzen die Zeit, ihre Mannschaft neu zu sortieren. Nach dem Sommer fängt eine neue Saison an. Wer wird dabei sein?  

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