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Samstag, 7. November 2015

Jetzt ist es rund!



Du liebst es, wenn etwas sich so richtig rund anfühlt, nicht wahr? Du hast zu deinem Geburtstag eingeladen. Die Gäste waren da und die Stimmung war prächtig. Das Essen hat geschmeckt und alle haben sich gut verstanden. Wenn die Gäste gegangen sind setzt du dich mit einem Glas Wein gemütlich auf das Sofa und blickst zurück mit der Erkenntnis: „Das war so richtig rund!“
Wenn ein neues Projekt anläuft dann gibt es zu Beginn häufig noch Ecken und Kanten. Wir sagen: „Es läuft noch nicht richtig rund. Wir müssen noch nachbessern.“ Beim Einkaufen wird schon einmal auf- oder abgerundet mit dem Ziel der Vereinfachung und dem Wunsch, es runder zu machen.
Braut und Bräutigam stecken sich beim Ja-Wort den Ring an den Finger. Der Ring ist rund, glatt, kostbar, glänzend. Als wollte der Ring das ausdrücken, was sich das Paar wünscht. Die Beziehung möge rund und glatt sein. Ohne Dellen und Blessuren. Ohne Kratzer und Verletzungen. Die Liebe möge glänzen und leuchten. Eben rund sein! Du stellst dir vor, dass du am Ende des Ehe-Weges voll und ganz „Ja“ sagen kannst wenn der Tod euch scheidet.
Im November blicken wir zum Einen auf die Ernte zurück.  Und zugleich sehen wir in der Natur, dass alles sich vorbereitet auf die Winterruhe. Nicht umsonst verorten wir hier die Totengedenktage. Bei Beerdigungen tragen Angehörige oft den Wunsch in sich, dass beim Abschied alles rund sein möge. Eine persönliche Feier. Eine positive Bilanz für den Verstorbenen, die rund ausfällt, damit die Familienmitglieder gut abschließen und beruhigt weiter gehen können. Keine Gespenster von unerledigten Geschäften und Gefühlen!
Meine Gedanken möchte ich gerne mit folgender Geschichte ins Wort bringen.
Jetzt ist es rund!
Der Großvater schlug in den Balken der Holzhütte den letzten Nagel ein und trat einen Schritt zurück. Dann schaute er stolz seinen Enkel Tim an und sagte zu ihm: „Jetzt ist es rund, nicht wahr Tim?“
Tim verstand aber nicht, was sein Großvater meinte. „Was meinst du damit, dass es rund ist. Die Hütte ist doch sehr gerade geworden. Die Balken sind gerade, das Dach ist gerade und die Fenster auch. Alles ist wunderschön gerade und genau richtig geworden.“ „Ja genau,“ sagte da der Großvater, „das meinte ich ja, es ist alles so richtig rund geworden.“ Dann erklärte er seinem Enkel, was er damit meinte. „Das sagt man halt so. Wenn du so richtig zufrieden bist mit deiner Arbeit und alles gut gelaufen ist. Wenn du dich freust und dein Werk dir anschaust, dann mag eine Hütte vielleicht eckig bleiben, aber es fühlt sich so rund an. Rund ist einfach nur ein gutes Gefühl.“
„Ich verstehe, was du meinst,“ sagte dann Tim nachdenklich zum Großvater. „Wenn ich in der Schule eine Arbeit habe und am Ende das Heft zumache und alles aufgeschrieben habe was ich wusste, dann fühlt es sich auch manchmal rund an, nicht wahr?“ Der Großvater nickte und gemeinsam standen sie vor der Hütte, die so exakt eckig aber zugleich auch so rund war.
Beim Betrachten der wundervollen Hütte sah Tim plötzlich einen langen Riss in einem der Balken. „Schau mal Großvater, es ist doch nicht so rund, wie du gedacht hast. Siehst du den Riss dort im Balken. Die Hütte ist nicht perfekt. Was sollen wir jetzt machen?“
Da schaute sich der Großvater den Riss genauer an und kam zu dem Urteil: „Der Riss macht nichts. Die Hütte steht und wird diesen kleinen Riss vertragen.“ Dann inspizierten sie noch einmal die Hütte und entdeckten beim genaueren Hinsehen hier eine Macke, dort einen Riss und hier und da eine Unebenheit.  Da wurde Tim sehr traurig. „Ach Großvater, es war doch alles so rund und jetzt fühlt es sich so eckig an. Die Hütte finde ich jetzt gar nicht mehr schön!“
Der Großvater ließ sich jedoch nicht beirren. „Nichts ist perfekt. Weder die Hütte noch deine Schularbeiten noch sonst etwas. Es kommt auf den Gesamteindruck an. Insgesamt bleibt unsere Hütte rund. Und wenn du genau hinschaust, dann machen die kleinen Risse und Macken doch erst unsere Hütte aus! Die Risse und Macken machen unsere Hütte unverwechselbar!“
Da wischte sich Tim die letzten Tränen aus seinem Gesicht und schaute zufrieden seinen Großvater an. „Ja“, sagte er, „du und ich. Wenn wir zusammen etwas machen, dann ist es rund, egal was dabei herauskommt. Du und ich, wir zwei zusammen, das ist so richtig rund. Viel runder als jede Hütte.“
Tief in uns Menschen gibt es den Wunsch nach einem absoluten „Ja“ zu einem gelingenden Leben. Die „Paradiessehnsucht“ begleitet uns und treibt uns voran. Am Ende des Lebens möge alles rund sein. Wenn es dann nicht die Einschränkungen gäbe! Wenn du stirbst hinterlässt du viele positive Werte. Aber auch deine Hypotheken, Verletzungen und Kränkungen gegenüber deinen Angehörigen. Die unvollendeten Aufgaben! Deine Fehler und Unzulänglichkeiten hinterlassen eine so deutliche Spur wie auch deine gelungenen Anteile. Wie du es drehst und wendest: Dein Lebensring ist zugleich rund und besitzt Scharten und Schrammen. Mit dieser „Hypothek“ muss deine Nachwelt weiterleben.
Neben deinem Leben wird die ganze Welt „eckig“ bleiben, bis sie in das Göttliche des Ganzen jenseits und am Ende der Zeiten zurückkehrt. Zugleich jedoch wird sie ebenfalls die runden Anteile haben – immer dann, wenn die Liebe zum Zuge kommt. Das Eckige und Kantige ist nicht immer leicht zu tragen und zu ertragen. „Ich hätte es so gerne rund!“ Da gibt es den Schönheitsfehler bei der Geburtstagsfeier, dass ein Gast sich daneben benommen hat. Da gibt es den Schmerz, dass du nicht das passende Geschenk gefunden hast für Weihnachten. Da hast du deinen Arbeitskollegen gekränkt und konntest es nicht wieder gut machen. Schau dir einmal in einer Mußestunde den Scherbenhaufen an, an dem du irgendwie mit beteiligt warst. Schau dir in dieser Mußestunde aber auch alle die vielen runden Dinge deines Lebensjahres an. Welche bunten Luftballons durften aufsteigen und den Himmel verschönern? Wie viele runde Smileys hast du Menschen geschenkt oder entgegengenommen? Mach nicht die Bilanz und wäge ab, ob es mehr Eckiges oder Rundes gab. Du landest dann zu schnell in eine Wertung, die dich unzufrieden macht.
Vielleicht kommst du ja zur Erkenntnis, dass das Raue und Eckige auch da sein darf. Dann kann wie in der Geschichte beides mit einem großen „Ja!“ nebeneinander und miteinander stehen bleiben. Rund und eckig ergibt? Mir fällt das Bild einer runden Kartoffel ein, die im Laufe der Zeit runzelig und schrumpelig wird. Das Runde ist noch deutlich erkennbar und wunderschöne Falten zeugen gleichzeitig von der langen Lebensgeschichte. So wie bei dir! Dein rundes Gesicht wird vielleicht auch ein wenig runzelig im November deines Lebens. Hoffentlich gehst du gnädig und liebevoll mit dir um, wenn du dann in den Spiegel schaust und bei dir das Runde und Eckige erkennst. 
www.matthias-koenning.de 

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