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Mittwoch, 27. Mai 2015
Die Kunst, Besucher in seiner eigenen Wohnung zu sein
In meiner Wohnung bin ich zu Hause. Ich habe dort meinen festen Platz. Dort steht mein Bett und dort steht mein Stuhl. Im Kühlschrank befinden sich meine Nahrungsmittel und ich brauche niemanden zu fragen. Im Schrank hängen und liegen meine Anziehsachen. Die passen mir haargenau und sie riechen nach mir. Meine Wohnung fühlt sich an wie eine Haut um meine Haut herum.
Alle Gegenstände sind mir vertraut. Sie gehören zu mir und ich gehöre zu ihnen. Manchmal bin ich überrascht, wenn ich etwas finde in der Ecke meines Schreibtisches, an das ich mich nicht mehr erinnere. Aber dennoch weiß ich: Auch das gehört zu mir. Ich habe es lediglich vergessen.
In einer fremden Wohnung bin ich nicht zu Hause. Im Kühlschrank dort gibt es Dinge, die ich mir nie kaufen würde. In den Kleiderschränken hängen Dinge, die mir nicht passen in Farben, die mir nicht stehen. Sie gehören mir auch nicht. In den Schränken dort gehört mir kein einziges Teil. Alles ist mir fremd. Die Möbel sind mir fremd und auch der Blick aus dem Fenster. Ich bin ein Besucher. Ich darf mich dort aufhalten, weil ich eine Erlaubnis bekommen habe. Ich sehe den Stuhl an und frage: "Darf ich?" Ich blicke auf die Wasserflasche und frage wieder: "Darf ich!" Überall steht dran: "Du musst mich schon fragen!" Ich bin ein Besucher und ich frage mich, wie lange ich bleiben darf. Einen Nachmittag? Oder mit Übernachtung und Frühstück? Ich bin ein Besucher in einer mir fremden Wohnung.
Jetzt stell dir doch mal einen Augenblick vor, dass du diese Gefühle der Fremdheit in einer fremden Wohnung überträgst auf dein "zu Hause". Du betrittst deine Wohnung und bist ein "Besucher". Dort gehört dir nichts. Es gehört einem Fremden. Zufällig mag im Kühlschrank etwas stehen, was du auch magst. Im Schrank mag es Kleidung geben, dir dir auch passt. Aber all diese Dinge gehören dir nicht. Du bist ein Besucher in deiner eigenen Wohnung. Kennst du dieses Gefühl? Mir geht es oft so nach einer Urlaubsreise. Ich komme nach Hause und es hat seine Vertrautheit verloren. Während deiner Abwesenheit haben sich fremde Gerüche verbreitet und du befindest dich in einem Zustand des "Fremdelns". Du musst dich neu anfreunden in und mit deiner eigenen Wohnung.
Jetzt könntest dir weiterhin vorstellen, dass du ein Experiment machst. Geh doch einfach mal in eine Besucheridentität hinein. Du kommst von einem anderen Planeten und darfst dir deine eigene Wohnung anschauen. Lass alle Dinge einmal ganz neu auf dich wirken. Beobachte, was in deinem Kühlschrank ist. Wie bist du eingerichtet? Was erzählt dir der Bewohner über sein Wesen, seine Gewohnheiten, Vorlieben? Wie aufgeräumt oder chaotisch wohnt dieser Mensch. Du gehst herum und staunst über diesen Menschen, der so lebt, wie er da lebt. Du wirst vielleicht vieles mögen. Vielleicht wirst du als Besucher deiner eigenen Wohnung aber auch an der einen oder anderen Stelle anhalten und dich fragen: "Macht das Sinn, so zu leben? Ginge es nicht auch anders?" Als Besucher wirst du nichts verändern können, denn du hast dort ja keine Rechte. Du musst also die Wohnung wieder verlassen und noch einmal hineingehen. Jetzt gehst du durch die Tür wie ein Bewohner. Aber du nimmst die Impulse deines Besuchers mit und hast wertvolle Anregungen für eine verbesserungswürdige Veränderung. Und so ganz nebenbei wirst du die Kunst lernen, Besucher in deiner eigenen Wohnung zu sein.
www.matthias-koenning.de
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