1. Der Ausgangspunkt: Erkenntnisse aus einer
Bilderausstellung
Während meiner Zeit als Pfarrer in einer katholischen
Kirchengemeinde sprach mich ein Künstler an. Ihn faszinierte unsere alte gotische
Pfarrkirche und er wollte dort eine Ausstellung mit neuen Bildern veranstalten.
Zwischen Kreuzwegstationen und Steinfiguren erschuf er einen Fries, der sich
wie ein durchgängiges Band an der Wand in der Kirche entlang zog.
Der Besucher, der die Kirche betrat, sah also zuerst dieses
langgezogene Band, das aus der Entfernung wie ein einziges großes Gemälde
wirkte verteilt auf vier Wände. Wenn er dann näher herantrat an eine Wand entdeckte
er, dass sich das lange und schmale und scheinbar einzige Bild aufteilte in
lauter kleine selbständige Abschnitte. Und wenn er dann noch näher herantrat
konnte er auf diesem kleinen Abschnitt auch die winzigen Details erkennen. Da
gab es eher abstrakte Strukturen und Streifen oder Segel und andere
wiedererkennbare Gegenstände.
Wenn der Besucher quasi mit der Nase an einem kleinen
Bildausschnitt klebte verlor er aber den Blick auf den ganzen Fries. Das Auge
sah nur den kleinen Ausschnitt und war nicht in der Lage das zu sehen, was sich
weit entfernt an der Seite oder im Rücken des Betrachters befand.
Wichtig wäre noch zu erwähnen, dass der Besucher am Eingang
einen Wanderstab erhielt. Die Ausstellung war so konzipiert, dass man mit dem
Stab in der Hand zuerst das Große und Ganze sah und dann von Bild zu Bild
schlenderte, sich die Details ansah und dann das Ganze wieder von einem anderen
Standort in der Kirche her betrachtete.
Diese Ausstellung brachte mich ins Nachdenken und animierte
mich, als Seelsorger und Coach diese Erfahrung auf das Beratungsabläufe zu
übertragen.
2. Die Übertragung in die Beratungspraxis: Der Weg vom Ganzen
ins Detail und wieder zurück zum Ganzen
Wenn ein Mensch zu mir in die Beratung kommt gibt es
zunächst eine Auftragsklärung. Was möchten Sie? Wobei soll ich Sie
unterstützen? Was sind Ihre Ziele? Dann kommt vielleicht die Antwort: „Ich habe
Probleme in meiner Ehe.“ Das nenne ich den Blick auf das Ganze. Es geht um das
Thema „Ehe“ und das „Gelingen von
Beziehung“. Das gibt mir die Möglichkeit, dass ich mich auf ein Thema
fokussieren kann. Ich muss nicht nachdenken über Arbeitskonflikte oder
gesundheitliche Schwierigkeiten. Zuerst blicken wir also auf das Thema und
klären den Auftrag. „Was ist das Ziel, das Sie erreichen möchten? Was wünschen
Sie sich für die Beratung?“ Wenn das ausgesprochen und geklärt ist geht es ins
Detail. In welchen Bereichen gibt es Schwierigkeiten? Wo genau? Wer sagt was in
welcher Situation? Wer fühlt sich wann gekränkt und was macht er oder sie dann?
Ist es immer so oder gibt es Ausnahmen? Die vielen Details ergeben dann ein
Gesamtbild der Beziehung und auch der Probleme und möglicher Lösungsansätze.
Dann gibt es eine merkwürdige Erfahrung. Im Gespräch werde
ich nie alle Details erfahren. Die Zeit reicht nie dafür aus. Es werden immer
nur einzelne Aspekte sichtbar. Viele Erlebnisse wurden vergessen. Und die
meisten Kränkungsgefühle reichen bis weit in die Kindheit zurück und bleiben für
die aktuelle Situation unbewusst. Außerdem verlocken die Details dazu voreilig
Schlüsse zu ziehen, die am Ende doch nicht stimmen. Auf der einen Seite ist es
wichtig, einige Details zu kennen um sich ein genaueres Bild zu machen. Auf der
anderen Seite ist es wichtig, zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzutreten und
wieder den Blick auf das Ganze zu werfen. Das Ganze ist mehr und manchmal auch völlig
anders als die Summe der Details. Um auf unser Eheproblem zurückzukommen könnte
das folgendermaßen aussehen.
Die Details würden
vielleicht heißen: „Wir streiten uns ständig. Dabei geht es um
Kleinigkeiten. Wir schaukeln uns gegenseitig hoch. Wenn er das sagt, dann mache
ich das usw.“ Wenn dann der Schritt innerlich zurückgehen soll stelle ich
vielleicht folgende Frage: „Wenn Sie das jetzt alles so erzählen und insgesamt
auf sich einwirken lassen was geschieht da mit oder in Ihnen?“ Der Blick geht auf das Ganze und dann kommt
vielleicht ein alles zusammenfassender Satz: „Ich bin unglücklich!“ oder „Ich
bin frustriert und enttäuscht!“ Die ganze Wucht und Schwere kommt auf einmal
mit Macht zum Vorschein.
Was geschieht, wenn die Bewegung weg vom Detail hin zum
Ganzen nicht geschieht? Dann gibt es vielleicht praktische Lösungen für eine
bessere Streitkultur oder andere Tipps für eine gute Kommunikation. Dann mag
der eine oder andere Hinweis für diese einzelne Frage hilfreich sein, aber es
fehlt etwas. Das „große und ganze Beziehungsunglück“ benötigt noch eine
„tiefere“ eigene Antwort.
Dazu gehe ich noch einmal zurück zu der Ausstellung. Der
Besucher bekommt einen ersten Eindruck vom Gesamtwerk und sagt: „Wie schön!“
oder „Wie eindrucksvoll!“ Es ist ein Gefühl, das sich im ganzen Körper und im
Herzen ausbreitet mit dem Wunsch: „Das will ich näher betrachten! Das macht mich neugierig!“ Der Antrieb
besteht in einem inneren starken und eher emotionalen Impuls.
Übertragen auf die Eheberatung braucht es etwas Ähnliches. Nach der Feststellung: „An
diesem und jenem Punkt muss ich an meiner Beziehung arbeiten,“ braucht es einen
ganzheitlichen Impuls. Ich könnte ihn Hoffnung, Vertrauen, Bereitschaft oder
Zuversicht nennen.
Dieser Prozess vom Ganzen zum Detail und zurück geschieht
nicht nur einmal. Er geschieht immer wieder. In der Ausstellung tritt der
Besucher zurück mit den Erfahrungen der Details und spürt dem nach: Wie ist
jetzt der Gesamteindruck? Hat sich etwas verändert? Vielleicht hat er mehr verstanden
und bekommt die Bestätigung: „Diese Bilder sind wirklich toll!“ Dann entdeckt
er neue Details und tritt wieder zurück. Irgendwann kommt dann der Punkt, wo
alles zur Ruhe kommt. „Jetzt ist es genug!“
In einer Beratung ist es ähnlich. Es ist ein Prozess, ein
Weg, ein Pendel, eine Bewegung. Auch hier bis zum Punkt: „Jetzt ist es genug!“
3. Dein persönliches Ganzes, Deine Details und dein Weg
zurück zum Ganzen
Jetzt lade ich dich ein, einmal dein eigenes Leben auf diese
Weise zu betrachten. Schau dir doch einmal dein ganzes bisheriges Leben an und
beschreibe dein Grundgefühl. Welche Überschriften findest du? Zu welchem
Gesamteindruck kommst du? Gibt es ein großes „Ja!“ oder eher ein „Naja!“ oder
ein „Ich bin zufrieden!“
Dann gehe mit deiner Aufmerksamkeit in die verschiedenen
Altersphasen deines Lebens. Du kannst das
z. B. in Siebenjahresschritten machen. Du beginnst mit der Lebensspanne
von deiner Geburt bis zu dem Zeitpunkt, wo du sieben Jahre alt warst. Welche
Erinnerungen steigen auf? Welche Gefühle kommen da hoch? Dann gehst du wieder
in deine jetzige Gegenwart und blickst erneut auf das Ganze deines Lebens.
Vielleicht stellst du fest: „Damals mit fünf Jahren durfte ich auf der Straße
nicht mitspielen. Ich war frustriert. Heute erlebe ich das auch manchmal. Ich
darf nicht dabei sein. Da kommt dann das alte Gefühl wieder hoch. Aber ich habe
dazu gelernt. Heute mache ich das anders.“
Du bleibst aber nicht bei diesem Eindruck stehen sondern du
gehst dann zur nächsten Lebensphase von sieben bis vierzehn - deine Jugendzeit.
Dann trittst du wieder ein in das Hier und Jetzt. Du gehst nun in die Phase des
Erwachsenwerdens, dann in die Berufsverdichtungszeit, die Familiengründung. Du
schaust dir die Details an und nach jedem Besuch wirfst du einen Blick auf dein
ganzes Leben. Was verändert sich? Was verändert sich, wenn du das Detail
anschaust und was geschieht, wenn du wieder das Ganze auf dich wirken lässt?
Vielleicht musst du dich noch mit bestimmten Phasen aussöhnen.
Vielleicht entsteht auch ein Gefühl von Dankbarkeit für all das Gelungene.
Möglicherweise gibt es auch einen Schmerz oder es braucht noch ein paar Tränen für unglückliche
Zeiten.
Dann wirst du irgendwann einen Schlusspunkt setzen und dir
sagen: „Jetzt ist es genug!“ Du machst eine Pause und wirst still.
Ich kann mir vorstellen, dass dein Weg vom Ganzen zum Detail
und wieder zurück zum Ganzen zu einer heilsamen spirituellen Übung werden kann.
Vielleicht erschreckt dich jetzt mein letzter Satz, wenn ich dich auffordere,
an deine Todesstunde zu denken. Was denkst du, wirst du da machen? Vielleicht
genau dies! Deinen Lebensweg in Gedanken noch einmal gehen. Und? Was soll dir
passieren? Du hast ja schon geübt! Du weißt, wie es geht! Du siehst dein Ganzes
und sagst „Ja“! Du siehst deine Details mit einem Lächeln und mit Liebe und
sagst „Ja“! Du siehst wieder das Ganze und sagst am Ende: „Jetzt ist es genug.
Ich kann gehen.“
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