Ich habe keine Lust mehr auf Corona. Aber es lässt uns noch nicht los.
In der Anfangsphase hatte ich den Eindruck, dass es um das Thema Sicherheit
ging. Gefährdete oder infizierte Menschen wurden isoliert und es die Distanz
sollte bewirken, dass das Virus sich nicht mehr sprunghaft ausbreiten kann. Das
war bestimmt ein gesundheitspolitischer kluger Gedanke. Diese Phase der
Isolation dauert noch bis heute an. Es gibt noch keine Normalität. Welche
Menschen umarmst du schon wieder? Wo haben sich deine Fluchtreflexe schon
automatisiert? Dein Griff zur Maske? Wir sind alle ein Stück abgetaucht ins
Private, Intime und Verborgene. Zunehmend spüre ich in meinen Beratungen neue
Themen: Die sozialen und psychischen Folgen der Isolation. Wir sagen ja so
leicht hin zu alten Menschen: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Dabei halten
wir uns als jüngere noch für flexibel und beweglich.
Ich glaube, das ist ein Irrtum. Wir haben bislang alle gedacht, dass wir
sehr sicher sind. Die Sicherheit haben wir aber nicht in unserem inneren
Personenkern gefunden sondern durch die Einbindung in eine soziales Netzwerk,
einen zuverlässig funktionierenden Arbeitsplatz und die Möglichkeiten, immer
wieder einen Ausgleich finden durch Reisen und Hobbys. Erst, wenn wir all das
nicht mehr so zur Verfügung haben merken wir, wie sehr das zu uns gehört. Das
Bedürfnis nach Sicherheit bekam viel Raum und unsere Bedürfnisse nach
Verbundenheit und Autonomie mussten hinten anstehen. Bei Hören von einem Podcast
fiel das Wort „Psychotop“ und ich wurde wach. Was ist denn das?
Das Wort „Biotop“ ist mir geläufig. Es handelt sich um ein
zusammengesetztes Wort aus dem Griechischen und heißt: Leben und Raum, Lebensraum.
Auf so einem überschaubaren und abgegrenzten Lebensraum finden sich Pflanzen
und Tiere ein, die eine Art Lebensgemeinschaft bilden. Das kann eine Flussaue
sein, ein Wald oder eine Streuobstwiese. Eine Gemeinschaft, die sich einen Raum
teilt und wo alle gut existieren können.
Eine Pflanze kann nicht überall wachsen und gedeihen. Sie braucht einen
bestimmten Ort und eine kompatible Umgebung. In unserem Garten gibt es
prächtige Orte für die Sonnenblumen und Stellen, wo sie kämpfen müssen und eher
dahinkümmern. Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Es ist nicht nur die Sonne
und der Regen. Auch der Boden, der Wind, die Umgebung und rätselhafte Faktoren
spielen eine Rolle.
Und nun meine Gedanken zum „Psychotop“. Wir Menschen sind ja nicht viel
anders als die Pflanzen. Wir existieren ja nicht einfach als Einzelwesen,
sondern wir gehören auch zu einem Lebensraum. Und weil wir so verschieden sind,
brauchen wir auch sehr unterschiedliche Psychotope – Räume, in denen sich
unsere Seele aufhält, hoffentlich wohlfühlt und weiterentwickelt wie die
Pflanzen.
Den ersten Aspekt sehe ich im körperlichen Anteil. Manchmal komme ich in
eine Wohnung, wo ich mich einfach wohlfühle. Ich finde vom Verstand dafür nicht
sofort Gründe, warum das so ist. Der Körper scheint von sich aus das Signal zu
vermitteln: „Hier mag ich mich aufhalten. Hier ist es angenehm.“ Beim
Nachdenken gibt es dann Erkenntnisse und Begründungen dafür. Es liegt
vielleicht an den vielen Pflanzen. Oder an der Farbgebung im Raum. Ich mag eher
die Größe und Weite oder das kuschelige Beieinander von Stoffen und Kissen. Es
können auch die Gerüche sein, die der Raum verströmt.
Manchmal komme ich in eine Wohnung und habe das Gefühl, dass ich sofort
wieder gehen muss. Es riecht abgestanden. Der Staub hat sich überall
niedergesetzt. Die Möbel stehen beziehungslos in der Gegend herum. Es ist schmuddelig
und nicht aufgeräumt. Oder der Raum ist völlig steril, staubkornfrei,
leergeräumt und wirkt so, als ob dort niemand wohnt. Dann frage ich mich, wie
Menschen es dort aushalten. Ich muss mir klarmachen, dass das ihr äußeres
Psychotop ist und nicht meines. Nicht jede Pflanze braucht einen Dschungel oder
eine mediterrane Landschaft. Man kann auch die Wüste lieben und nur dort
existieren.
Wie erlebst du deine eigene Wohnung? Wohnst du so, dass es für dich
angenehm ist. Fühlst du dich wohl? Geh doch mal durch deine Räume und überprüfe
es. Stell dich in jeden Raum hinein und spüre nach, wie er wirkt auf dich.
Angenehm oder unangenehm? Vielleicht gibt es Räume, in die du sehr gerne gehst
und Räume, die du vermeidest. Das verwaiste Kinderzimmer, dass dich schmerzlich
daran erinnert, dass deine Familienphase nun lange abgeschlossen ist. Der
Kellerraum, der immer einen Modergeruch verströmt den du nie abstellen
konntest. Ein bestimmter Raum, der von einem anderen Familienmitglied mehr oder
weniger besetzt wird und wo du nach wenigen Sekunden flüchten möchtest. In
deiner eigenen Wohnung gibt es mehrere Psychotope, die sich den Raum teilen und
miteinander auskommen müssen. Bleibt dir genug Platz für dein eigenes Psychotop
oder beschränkst du dich auf eine kleine Ecke?
Wenn ein Psychotop über viele Jahre besteht dann gewöhnen wir uns
Menschen daran. Eigentlich möchte ich manches verändern. Vieles passt nicht
mehr so richtig. Wie Kleidung im Schrank, die mich daran erinnert, dass ich einmal
eine andere Figur und einen anderen Geschmack hatte. Überprüf einmal das „äußere“
Psychotop deiner Wohnräume und schau, ob du es wieder passender für dich machen
kannst.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf das Miteinander. In einem Biotop gibt
es die Nachbarschaft und das Beisammensein der unmittelbaren Nachbarn. Pflanzen
stehen beieinander, weil sie sich gegenseitig unterstützen und genug Entfaltungsmöglichkeit
geben. Bäume und Pilze versorgen und unterstützen sich gegenseitig. Bienen und
Blüten profitieren voneinander und überall kannst du Beziehungsketten und
Zusammenhänge entdecken.
In unserem menschlichen Psychotop sehe ich das ähnlich. Wir sind von
Menschen umgeben, die wir mögen und die uns mögen. Manche mehr und manche auch
weniger. Und manchmal verändert sich das. Freundschaften können zerbrechen.
Unerträgliche Arbeitskollegen finden wir doch netter als wir dachten. Blöde
Nachbaren haben auch ihre guten Seiten. Wenn ich mir mein Psychotop basteln
könnte, dann würde ich einige menschliche Pflanzen weiter von mir wegstellen
und andere wieder näher zu mir holen. Es gibt auch menschliche Pflanzen, die
ich nicht so mag, die mir aber helfen in meiner Weiterentwicklung. Und es gibt
menschliche Pflanzen, die ich aus meinem Psychotop entfernt habe, weil es nicht
funktioniert in meinem nahen Umfeld.
Überprüf doch mal dein soziales Psychotop. Da wächst etwas über Jahre
vor sich hin und wird zum Gestrüpp und
zum Wildwuchs. Oder du magst deinen Sozialraum immer weniger, vergraulst alle
und es ist am Ende niemand mehr da. Betrachte doch einmal dein soziales
Psychotop und überprüfe, ob es noch für dich stimmig ist. Wo könntest du was
dazu pflanzen? Was könnte von dir weiter weg? Was ist schon lange unverträglich
und könnte sich ein anderes Psychotop wählen? Erinnere dich daran, dass du die
Weichen stellen kannst. Die gesamte Menschheit können wir nicht beeinflussen,
aber unserem eigenen Psychotop können wir Gestalt geben.
Neben dem Ort, an und in dem du wohnst und neben den Menschen, die dein
Leben mitbestimmen gibt es mindestens noch eine dritte wichtige Komponente.
Dein inneres Psychotop. Das finde ich persönlich sehr spannend und interessant.
So groß die Welt im Außen ist, die ich mit Milliarden von Menschen teile, so
groß ist auch mein inneres Psychotop. Nur ein winzig kleiner Teil davon ist mir
bewusst. In mir trage ich also eine verborgene riesengroße Welt, die mein Leben
beeinflusst.
Es macht viel Sinn, sich mit dem eigenen inneren Psychotop zu
beschäftigen. Was brauche ich, um mich wohlzufühlen oder gut mit mir zu sein?
Was sind meine Bedürfnisse? Wie viel Sicherheit brauche ich eigentlich? Wie
stark bin ich in Verbindung mit mir und mit allem, was ist? Wo habe ich
Autonomiebestrebungen? Wie stark greifen immer wieder frühkindliche Traumata in
mein Leben ein und bestimmen meinen Alltag? Was dürfen andere Menschen von mir
sehen und wissen und was möchte ich gerne verbergen? Wie streng bin ich mit mir
selbst oder wie großzügig und freigiebig darf ich sein? Was passiert mit mir,
wenn ich in meine Stressmuster falle und wie kann ich so auf mich achtgeben,
dass das nicht so schnell passiert. Wie komme ich aus den Sackgassen meines
Lebens einigermaßen gut heraus? Kann ich gut in mir wohnen, so dass es
ausstrahlt auf meine Umgebung? Bin ich mir selbst ein Himmel oder eher die
Hölle?
Du hörst lauter Fragen, die beantwortet werden wollen. Stell dir mal
vor, dass ein anderer Mensch in dir wohnen darf. Das wäre hypothetisch einfach
möglich. Dieser Mensch denkt genau deine Gedanken, fühlt deine Gefühle als
wäret ihr wie Doppelgänger nur ineinander verschachtelt und er kennt deine
ganze Lebensgeschichte so, als hätte er sie selbst erlebt. Könntest du das erlauben?
Gäbe es einen Menschen, der dir so willkommen wäre?
Was wäre deine erste Reaktion? Wäre es so etwas wie große Freude? Weil
du so reich bist und alles in dir gerne teilst? Oder käme da schnell Scham
hoch. „Hilfe, die Hälfte meiner Innenräume würde ich schnell abschließen. Da
darf niemand hinschauen. Nicht einmal ich selbst!“ Vielleicht hättest du aber
auch Sorge, dass es deinen Besuchern einfach nicht gefallen würde in dir. Klar,
wenn du dich selber vergiftet hast mit lauter negativen Gedanken, einem
vernichtenden Kritiker, lauter Dämonen und destruktiver Gefühle – also so, dass
du es mit dir selber kaum aushalten kannst - dann würde ich bestimmt niemanden
einladen.
Vielleicht aber könnte die Vorstellung hilfreich sein, dein inneres
Psychotop mal zu sanieren. So, dass du dich nicht mehr schämen musst. So, dass
du dich mit dir selber wohlfühlst und auch das negative Zeug mal sortierst und
wohlwollend betrachtest. Dir würde dann auffallen, wie viel Zeit und Energie du
damit verbringst, die Teile in Schach zu halten, die dich innerlich bedrohen.
Der einzige Mensch, der es mit dir ein Leben lang aushalten muss bist du
selbst. Du kannst deine Wohnung wechseln, Menschen austauschen, den
Arbeitsplatz kündigen. Das kannst du alles machen und zu bestimmten Zeiten
macht das auch Sinn. Überprüfe, ob dein Psychotop als Wohn- und Sozialraum noch
stimmig ist. Aber dein eigenes inneres Psychotop begleitet dich überall mit
hin. Du kannst es nicht ablegen, nicht wegpacken und nie austauschen. Es ist
einfach ein Teil von dir und letztlich du selbst. Du kannst es aber gestalten
und bewohnbarer machen. Du darfst selbstfreundlich und wohlwollend mit dir
sein. Du bist da drin dein eigener Gast. Einen anderen Menschen kannst du in
dir natürlich nie so einladen, dass er alles von dir mitbekommen würde. Aber du
selber kannst das mit dir so machen.
Du bist in dir selbst eine blühende Landschaft mit ungeheurem Reichtum.
Du bist so reich in dir, dass es für ein Leben nicht reicht. So überbordend die
Schöpfung im Außen ist, so unglaublich reich ist deine innere Landschaft. Sie
hat angenehme und auch unangenehme Seiten. Du bist voller Sonne und voller
Schatten. Du bist voller innerer Liebe und Freude und voller innerer Angst und
Wut. Das alles und noch viel mehr ist dein innerer Reichtum. Wenn du in deiner
Angst, in deinen Schatten und in deiner Wut versinkst und nichts anderes mehr
wahrnehmen kannst, wird es natürlich schwierig. Und es kann sein, dass du dich
wie ein chronisches Katastrophengebiet erlebst. Ich bin mir aber sicher, dass
es diese anderen wohlwollenden, freudigen und lebensbejahenden Landschaften in
dir auch gibt.
Hast du einmal darüber nachgedacht, wie sich dein inneres Psychotop
zusammensetzt und ob du es beeinflussen, verändern und gestalten kannst? Was
kannst du also tun, um dein inneres Psychotop so zu gestalten, dass du dich mit
dir selber angenehmer fühlst?
Spirituell drückt Jesus es im Lukasevangelium so aus: „Das Reich Gottes
ist inwendig in euch.“ (Lk 17,21) Es kommt nicht, es entsteht nicht, es ist
immer schon da in mir. Es wird Zeit, dass wir uns auf Entdeckungsreise begeben.
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