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Freitag, 14. Juli 2023

Gestalte dein Psychotop



Ich habe keine Lust mehr auf Corona. Aber es lässt uns noch nicht los. In der Anfangsphase hatte ich den Eindruck, dass es um das Thema Sicherheit ging. Gefährdete oder infizierte Menschen wurden isoliert und es die Distanz sollte bewirken, dass das Virus sich nicht mehr sprunghaft ausbreiten kann. Das war bestimmt ein gesundheitspolitischer kluger Gedanke. Diese Phase der Isolation dauert noch bis heute an. Es gibt noch keine Normalität. Welche Menschen umarmst du schon wieder? Wo haben sich deine Fluchtreflexe schon automatisiert? Dein Griff zur Maske? Wir sind alle ein Stück abgetaucht ins Private, Intime und Verborgene. Zunehmend spüre ich in meinen Beratungen neue Themen: Die sozialen und psychischen Folgen der Isolation. Wir sagen ja so leicht hin zu alten Menschen: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Dabei halten wir uns als jüngere noch für flexibel und beweglich.
Ich glaube, das ist ein Irrtum. Wir haben bislang alle gedacht, dass wir sehr sicher sind. Die Sicherheit haben wir aber nicht in unserem inneren Personenkern gefunden sondern durch die Einbindung in eine soziales Netzwerk, einen zuverlässig funktionierenden Arbeitsplatz und die Möglichkeiten, immer wieder einen Ausgleich finden durch Reisen und Hobbys. Erst, wenn wir all das nicht mehr so zur Verfügung haben merken wir, wie sehr das zu uns gehört. Das Bedürfnis nach Sicherheit bekam viel Raum und unsere Bedürfnisse nach Verbundenheit und Autonomie mussten hinten anstehen. Bei Hören von einem Podcast fiel das Wort „Psychotop“ und ich wurde wach. Was ist denn das?
Das Wort „Biotop“ ist mir geläufig. Es handelt sich um ein zusammengesetztes Wort aus dem Griechischen und heißt: Leben und Raum, Lebensraum. Auf so einem überschaubaren und abgegrenzten Lebensraum finden sich Pflanzen und Tiere ein, die eine Art Lebensgemeinschaft bilden. Das kann eine Flussaue sein, ein Wald oder eine Streuobstwiese. Eine Gemeinschaft, die sich einen Raum teilt und wo alle gut existieren können.
Eine Pflanze kann nicht überall wachsen und gedeihen. Sie braucht einen bestimmten Ort und eine kompatible Umgebung. In unserem Garten gibt es prächtige Orte für die Sonnenblumen und Stellen, wo sie kämpfen müssen und eher dahinkümmern. Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Es ist nicht nur die Sonne und der Regen. Auch der Boden, der Wind, die Umgebung und rätselhafte Faktoren spielen eine Rolle.
Und nun meine Gedanken zum „Psychotop“. Wir Menschen sind ja nicht viel anders als die Pflanzen. Wir existieren ja nicht einfach als Einzelwesen, sondern wir gehören auch zu einem Lebensraum. Und weil wir so verschieden sind, brauchen wir auch sehr unterschiedliche Psychotope – Räume, in denen sich unsere Seele aufhält, hoffentlich wohlfühlt und weiterentwickelt wie die Pflanzen.
Den ersten Aspekt sehe ich im körperlichen Anteil. Manchmal komme ich in eine Wohnung, wo ich mich einfach wohlfühle. Ich finde vom Verstand dafür nicht sofort Gründe, warum das so ist. Der Körper scheint von sich aus das Signal zu vermitteln: „Hier mag ich mich aufhalten. Hier ist es angenehm.“ Beim Nachdenken gibt es dann Erkenntnisse und Begründungen dafür. Es liegt vielleicht an den vielen Pflanzen. Oder an der Farbgebung im Raum. Ich mag eher die Größe und Weite oder das kuschelige Beieinander von Stoffen und Kissen. Es können auch die Gerüche sein, die der Raum verströmt.
Manchmal komme ich in eine Wohnung und habe das Gefühl, dass ich sofort wieder gehen muss. Es riecht abgestanden. Der Staub hat sich überall niedergesetzt. Die Möbel stehen beziehungslos in der Gegend herum. Es ist schmuddelig und nicht aufgeräumt. Oder der Raum ist völlig steril, staubkornfrei, leergeräumt und wirkt so, als ob dort niemand wohnt. Dann frage ich mich, wie Menschen es dort aushalten. Ich muss mir klarmachen, dass das ihr äußeres Psychotop ist und nicht meines. Nicht jede Pflanze braucht einen Dschungel oder eine mediterrane Landschaft. Man kann auch die Wüste lieben und nur dort existieren.
Wie erlebst du deine eigene Wohnung? Wohnst du so, dass es für dich angenehm ist. Fühlst du dich wohl? Geh doch mal durch deine Räume und überprüfe es. Stell dich in jeden Raum hinein und spüre nach, wie er wirkt auf dich. Angenehm oder unangenehm? Vielleicht gibt es Räume, in die du sehr gerne gehst und Räume, die du vermeidest. Das verwaiste Kinderzimmer, dass dich schmerzlich daran erinnert, dass deine Familienphase nun lange abgeschlossen ist. Der Kellerraum, der immer einen Modergeruch verströmt den du nie abstellen konntest. Ein bestimmter Raum, der von einem anderen Familienmitglied mehr oder weniger besetzt wird und wo du nach wenigen Sekunden flüchten möchtest. In deiner eigenen Wohnung gibt es mehrere Psychotope, die sich den Raum teilen und miteinander auskommen müssen. Bleibt dir genug Platz für dein eigenes Psychotop oder beschränkst du dich auf eine kleine Ecke?
Wenn ein Psychotop über viele Jahre besteht dann gewöhnen wir uns Menschen daran. Eigentlich möchte ich manches verändern. Vieles passt nicht mehr so richtig. Wie Kleidung im Schrank, die mich daran erinnert, dass ich einmal eine andere Figur und einen anderen Geschmack hatte. Überprüf einmal das „äußere“ Psychotop deiner Wohnräume und schau, ob du es wieder passender für dich machen kannst.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf das Miteinander. In einem Biotop gibt es die Nachbarschaft und das Beisammensein der unmittelbaren Nachbarn. Pflanzen stehen beieinander, weil sie sich gegenseitig unterstützen und genug Entfaltungsmöglichkeit geben. Bäume und Pilze versorgen und unterstützen sich gegenseitig. Bienen und Blüten profitieren voneinander und überall kannst du Beziehungsketten und Zusammenhänge entdecken.
In unserem menschlichen Psychotop sehe ich das ähnlich. Wir sind von Menschen umgeben, die wir mögen und die uns mögen. Manche mehr und manche auch weniger. Und manchmal verändert sich das. Freundschaften können zerbrechen. Unerträgliche Arbeitskollegen finden wir doch netter als wir dachten. Blöde Nachbaren haben auch ihre guten Seiten. Wenn ich mir mein Psychotop basteln könnte, dann würde ich einige menschliche Pflanzen weiter von mir wegstellen und andere wieder näher zu mir holen. Es gibt auch menschliche Pflanzen, die ich nicht so mag, die mir aber helfen in meiner Weiterentwicklung. Und es gibt menschliche Pflanzen, die ich aus meinem Psychotop entfernt habe, weil es nicht funktioniert in meinem nahen Umfeld.
Überprüf doch mal dein soziales Psychotop. Da wächst etwas über Jahre vor sich hin und wird  zum Gestrüpp und zum Wildwuchs. Oder du magst deinen Sozialraum immer weniger, vergraulst alle und es ist am Ende niemand mehr da. Betrachte doch einmal dein soziales Psychotop und überprüfe, ob es noch für dich stimmig ist. Wo könntest du was dazu pflanzen? Was könnte von dir weiter weg? Was ist schon lange unverträglich und könnte sich ein anderes Psychotop wählen? Erinnere dich daran, dass du die Weichen stellen kannst. Die gesamte Menschheit können wir nicht beeinflussen, aber unserem eigenen Psychotop können wir Gestalt geben.
Neben dem Ort, an und in dem du wohnst und neben den Menschen, die dein Leben mitbestimmen gibt es mindestens noch eine dritte wichtige Komponente. Dein inneres Psychotop. Das finde ich persönlich sehr spannend und interessant. So groß die Welt im Außen ist, die ich mit Milliarden von Menschen teile, so groß ist auch mein inneres Psychotop. Nur ein winzig kleiner Teil davon ist mir bewusst. In mir trage ich also eine verborgene riesengroße Welt, die mein Leben beeinflusst.
Es macht viel Sinn, sich mit dem eigenen inneren Psychotop zu beschäftigen. Was brauche ich, um mich wohlzufühlen oder gut mit mir zu sein? Was sind meine Bedürfnisse? Wie viel Sicherheit brauche ich eigentlich? Wie stark bin ich in Verbindung mit mir und mit allem, was ist? Wo habe ich Autonomiebestrebungen? Wie stark greifen immer wieder frühkindliche Traumata in mein Leben ein und bestimmen meinen Alltag? Was dürfen andere Menschen von mir sehen und wissen und was möchte ich gerne verbergen? Wie streng bin ich mit mir selbst oder wie großzügig und freigiebig darf ich sein? Was passiert mit mir, wenn ich in meine Stressmuster falle und wie kann ich so auf mich achtgeben, dass das nicht so schnell passiert. Wie komme ich aus den Sackgassen meines Lebens einigermaßen gut heraus? Kann ich gut in mir wohnen, so dass es ausstrahlt auf meine Umgebung? Bin ich mir selbst ein Himmel oder eher die Hölle?
Du hörst lauter Fragen, die beantwortet werden wollen. Stell dir mal vor, dass ein anderer Mensch in dir wohnen darf. Das wäre hypothetisch einfach möglich. Dieser Mensch denkt genau deine Gedanken, fühlt deine Gefühle als wäret ihr wie Doppelgänger nur ineinander verschachtelt und er kennt deine ganze Lebensgeschichte so, als hätte er sie selbst erlebt. Könntest du das erlauben? Gäbe es einen Menschen, der dir so willkommen wäre?
Was wäre deine erste Reaktion? Wäre es so etwas wie große Freude? Weil du so reich bist und alles in dir gerne teilst? Oder käme da schnell Scham hoch. „Hilfe, die Hälfte meiner Innenräume würde ich schnell abschließen. Da darf niemand hinschauen. Nicht einmal ich selbst!“ Vielleicht hättest du aber auch Sorge, dass es deinen Besuchern einfach nicht gefallen würde in dir. Klar, wenn du dich selber vergiftet hast mit lauter negativen Gedanken, einem vernichtenden Kritiker, lauter Dämonen und destruktiver Gefühle – also so, dass du es mit dir selber kaum aushalten kannst - dann würde ich bestimmt niemanden einladen.
Vielleicht aber könnte die Vorstellung hilfreich sein, dein inneres Psychotop mal zu sanieren. So, dass du dich nicht mehr schämen musst. So, dass du dich mit dir selber wohlfühlst und auch das negative Zeug mal sortierst und wohlwollend betrachtest. Dir würde dann auffallen, wie viel Zeit und Energie du damit verbringst, die Teile in Schach zu halten, die dich innerlich bedrohen.
Der einzige Mensch, der es mit dir ein Leben lang aushalten muss bist du selbst. Du kannst deine Wohnung wechseln, Menschen austauschen, den Arbeitsplatz kündigen. Das kannst du alles machen und zu bestimmten Zeiten macht das auch Sinn. Überprüfe, ob dein Psychotop als Wohn- und Sozialraum noch stimmig ist. Aber dein eigenes inneres Psychotop begleitet dich überall mit hin. Du kannst es nicht ablegen, nicht wegpacken und nie austauschen. Es ist einfach ein Teil von dir und letztlich du selbst. Du kannst es aber gestalten und bewohnbarer machen. Du darfst selbstfreundlich und wohlwollend mit dir sein. Du bist da drin dein eigener Gast. Einen anderen Menschen kannst du in dir natürlich nie so einladen, dass er alles von dir mitbekommen würde. Aber du selber kannst das mit dir so machen.
Du bist in dir selbst eine blühende Landschaft mit ungeheurem Reichtum. Du bist so reich in dir, dass es für ein Leben nicht reicht. So überbordend die Schöpfung im Außen ist, so unglaublich reich ist deine innere Landschaft. Sie hat angenehme und auch unangenehme Seiten. Du bist voller Sonne und voller Schatten. Du bist voller innerer Liebe und Freude und voller innerer Angst und Wut. Das alles und noch viel mehr ist dein innerer Reichtum. Wenn du in deiner Angst, in deinen Schatten und in deiner Wut versinkst und nichts anderes mehr wahrnehmen kannst, wird es natürlich schwierig. Und es kann sein, dass du dich wie ein chronisches Katastrophengebiet erlebst. Ich bin mir aber sicher, dass es diese anderen wohlwollenden, freudigen und lebensbejahenden Landschaften in dir auch gibt.
Hast du einmal darüber nachgedacht, wie sich dein inneres Psychotop zusammensetzt und ob du es beeinflussen, verändern und gestalten kannst? Was kannst du also tun, um dein inneres Psychotop so zu gestalten, dass du dich mit dir selber angenehmer fühlst? 
Spirituell drückt Jesus es im Lukasevangelium so aus: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ (Lk 17,21) Es kommt nicht, es entsteht nicht, es ist immer schon da in mir. Es wird Zeit, dass wir uns auf Entdeckungsreise begeben. 

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