Was mich bewegt
Man
muss den Dingen,
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen –
und dann
Gebären …
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen –
und dann
Gebären …
Reifen
wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber
er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …
Man
muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es
handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.
(Rainer
Maria Rilke)
Am
Ende des Jahres geht es für mich darum, einen guten Übergang zu finden. Was
möchte ich loslassen. Was soll im nächsten Jahr gestärkt werden. Welche Pläne
und Wünsche beschäftigen mich, wenn ich an 2019 denke. Rainer Maria Rilkes
Gedicht „Was mich bewegt“ kommt mir bei meinen Reflektionen sehr entgegen. Und
vielleicht darf ich meine Gedanken dazu mit dir teilen.
In
der Regel plane und entwickle ich verschiedene Projekte und Ideen. Rilke
spricht aber davon, den Dingen die eigene und ungestörte Entwicklung zu lassen.
Zulassen, dass etwas ohne mein Drängen geschieht. Das Gesetz von Wachsen und
Reifen beachten. Eigentlich weiß ich das. Spätestens seit ich im Garten
arbeite. Ich kann nicht an Pflanzen herumziehen. Sie wachsen von innen aus sich
heraus in ihrem Tempo mit den Vorausbedingungen, die sie antreffen. Sie wachsen
mit dem Mix aus Sonne, Regen, Erde und den inneren Bedingungen. Dem der Pflanze
innewohnenden Wesen.
Und
wie gehe ich mit „meinen Dingen“ um? Ich weiß, wie lange meine Kartoffeln
kochen und steche nicht ständig darin herum, ob sie schon gar sind. Ich warte
geduldig ab, bis es so weit ist. Ich überlasse den Kuchen sich selbst und bin
geduldig beim Schreiben meiner Texte. Es kommt
was, oder es kommt nichts. Wenn kein Gedanke da ist kann ich auch keinen
aufschreiben. Wenn ich ihn erzwingen will gibt es nur Leere im Kopf.
Rilke
lädt ein, den Dingen ihre ungestörte Entwicklung zu lassen. Schreibt er das aus
einer Ungeduld und Unzufriedenheit heraus als Appell an sich selbst? Oder lebt
er diese Erkenntnis schon lange? Hat er das bitter lernen müssen? Ich weiß es
nicht.
Mir
kommen Situationen in den Sinn, wo es mir nicht so leicht fällt, den Dingen
ihre Zeit zu lassen und das Gesetz von Wachsen und Reifen zu beachten. Wenn der
Zug, in dem ich sitze nicht vorankommt, denke ich, er muss jetzt die Zeit aufholen,
damit ich rechtzeitig mein Ziel erreiche. Ich sitze dann auf meinem Platz und
schiebe meinen Hintern mit nach vorne als ob ich das Tempo dadurch beeinflussen
könnte. Ich fahre also mit, statt mich in den Sitz zurückzulehnen und den Zug
einfach fahren zu lassen.
In
meinen Beratungen bin ich sehr geduldig und beherzige das Gesetz von Wachstum.
Bis zu einem gewissen Punkt. Am Ende des Jahres kommt auf einmal der Gedanke,
dass es doch jetzt genug sein müsste. Mein Kunde muss es doch endlich begriffen
haben. Er müsste doch jetzt die Veränderungsprozesse angestoßen haben. Wie kann
er so lange das Leid aushalten, wo es doch schon einen lichtvolleren Weg gibt.
Der Dezember eignet sich doch wunderbar, für den Januar neue Ziele zu
vereinbaren. Dann sitze ich dort und resigniere, dass das neue Jahr so
weiterlaufen wird, wie das alte Jahr endet. Da möchte ich aufspringen und für
meine Kunden die Veränderungsarbeit machen. Plötzlich gibt es diesen
ungeduldigen „Aufstehimpuls“ im Körper, der mir sagt, dass ich es nicht mehr
aushalte. Da muss doch jetzt was passieren.
„Den
Dingen ihre ungestörte Entwicklung lassen!“ Was ist, wenn es aber jetzt zur
Abwechslung mal meinen kräftigen Impuls braucht. Da gibt es ja auch das
Stagnieren und die Resignation. Schließlich kommen Menschen zu mir in die
Beratung, weil sie etwas brauchen. Weil es von selbst nicht weiterwächst.
Manchmal
gebe ich Kunden einen Impuls und finde ihn wunderbar. Genau richtig! Dann
stelle ich fest, dass er gar nicht hilfreich war. Es war halt mein eigener Impuls
und nicht der des Kunden. Kennst du ähnliche Erfahrungen? Du gibst deiner Partnerin
oder deinen Kindern einen Rat. Ganz wohlmeinend und tief aus deinem Herzen
gesprochen. Aber es bleibt dein eigener Impuls und deine Menschen wollen ihn
nicht. Rilke spricht von den Dingen, die aus tief innen kommt. Jeder Mensch hat
so etwas tief drinnen in seinem eigenen Herzen. Er möchte keine fremden
Pflanzen wachsen lassen, sondern seine eigenen aus dem eigenen Inneren. Darum
fühlen sich fremde Ratschläge auch so unrichtig an. Sie mögen gut gemeint sein,
entsprechen aber nicht deinem Wesen. Wie anders fühlt es sich an, wenn dich
jemand begleitet, indem er dir nicht tolle Tipps gibt, sondern dir hilft, dein
eigenes Inneres zu finden.
„Alles
ist austragen“ meint Rilke. Da gibt es bei mir die tiefe Freude, wenn ich eine
Idee austragen darf. Wenn da etwas wächst in mir und ich einfach nur gespannt und
aufmerksam dabei sein kann. Im Moment habe ich drei Ideen, die in mir wachsen.
Ich möchte noch gar nicht davon erzählen, weil sie noch pflanzlich gesprochen
unter der Erde sind. Erst, wenn sie ans Tageslicht kommen, werde ich sie
teilen. Es muss ausgetragen werden und ich weiß noch nicht, ob und wie der
Prozess sich entwickeln wird. Vielleicht werde ich die eine oder andere Idee nicht
austragen. Das weiß ich aber jetzt noch nicht. Ich kann nur achtsam dabei
bleiben.
„Alles
ist austragen“ Dann folgt bei Rilke ein Bindestrich - „und dann gebären.“ Es
gibt die Zeit des Bindestriches und dann muss etwas geschehen. Egal wie lange
das Austragen dauert, irgendwann muss das Kind auf die Welt. Tot oder lebendig.
Irgendwann muss es heraus. Wie schätzt du am Ende deines Jahres deine Geburten
ein? Möchtest du noch etwas gebären? Gibt es da eine Lust oder eine Angst? Gibt
es vielleicht aber auch Dinge, die schon lange wie tot in dir herumgammeln und
eigentlich entsorgt werden müssten? Dinge, an die du krampfhaft festhältst?
„Eigentlich müsste ich mal wieder...“ – „Ich habe schon lange...“ Wenn du etwas
zu lange „austrägst“ chronifiziert sich das Tragen und wird zum Selbstzweck.
„Schon seit zehn Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, dass mein Haus für
mich viel zu groß ist und ich umziehen müsste.“ Wie lange willst du noch deinen
lähmenden Gedanken tragen? Wann endlich wirst du gebären? Bist du im guten
Fluss mit dem, was in dir und um dich herum geschieht? Fühlst du dich stimmig
mit dir selbst? Trägst du, wenn es zu tragen gilt und gebierst du, wenn es ans
Gebären geht? Oder hältst du vielleicht ängstlich etwas fest? Denk mal darüber
nach!
Im
nächsten Vers spricht Rilke im Bild des Baumes. Der Baum weiß aus Erfahrung,
dass nach jedem Sturm im Frühling auf jeden Fall der Sommer kommt. So stürmisch
es auch ist. Der Sommer kommt gewiss. Auch wenn alles gegenteilig aussieht. Es
sieht so aus, als ob die Krise nie vorübergeht. Es sieht so aus, als ob es
keinen Ausweg gäbe oder das Wachstumsprozesse ins Stocken geraten. Das kann
hart werden und schwer auszuhalten sein. Und dennoch kommt der Sommer.
Unweigerlich. Ich kann machen, was ich will! So wird also auch mein Zug
ankommen. Ich könnte versuchen, ihn anzuschieben, damit er schneller wird. Aber
ich könnte mich auch zurücklehnen in der Gewissheit, dass er ankommt. Ich saß
vor ein paar Wochen in einem ICE, der eine Schleichstrecke durch das Bergische
Land fahren musste mit Tempo 50 Km/H. Das war sehr skurril, aber er kam in
Dortmund an.
Leider
macht sich mein Verstand so seine unsinnigen Gedanken! Das stimmt: Wenn mein
Zug schneller wäre hätte ich am Ende mehr Zeit am Ziel. Aber was würde ich mit
dieser Zeit machen? Meine Unruhe während der Fahrt würde mir viele Nerven
kosten und ich wäre völlig erschöpft. Dabei hätte ich entspannt Zugfahren
können. Das Leben ist sowieso nur eine Reise. Warum nicht im Zug sitzen. Dann
bin ich auf jeden Fall schon mal unterwegs. Meistens. Die Vorstellung vom Baum,
dass es gewiss einen Sommer geben wird kann mich gelassen machen. Egal wie es
wird und was geschieht, es kommt der Sommer. Ich kann am Silvesterabend den
Kamin anmachen und meine unerledigten Geschäfte betrachten. Ich kann mir Sorgen
machen um meine Gesundheit und meine Familie. Es wird den nächsten Sommer
geben. Schwangerschaft, Geburt und der nächste Sommer!
Rilke macht eine kleine Einschränkung: Der Sommer kommt zu
den Geduldigen in ihrer Sorglosigkeit. Zu denen, die das Wort Ewigkeit in den
Zellen eingeschrieben haben. Wenn du ungeduldig bist, könntest du den Sommer einfach
verpassen. Du würdest ihn einfach nicht wahrnehmen. Es ist stürmischer Frühling
und du regst dich auf und dann kommt der stürmische Herbst und im Winter sagst
du, dass der Sommer ausgefallen ist. In diesem Jahr war der Sommer zum Glück „unüberfühlbar“.
Er fand definitiv statt. Satt und prall! Aber wie war es im Jahr davor? Hat da
der Sommer stattgefunden für dich? Wenn du das Ewigkeitsgen in dir trägst wirst
du sommerlich fühlen. Sogar im Winter. Du hast dich dann so in den Sommer
hineingesetzt, dass er dich ganz erfüllt. Du wirst quasi zu einem sommerlichen
Menschen, dem die Kälte des Winters nichts anhaben kann. Wenn du an dein Jahr
denkst, zu welchem Ergebnis kommst du? Bist du voller Sommer und Ewigkeit und
Geduld?
Wenn ich jetzt weitergehe im Gedicht von Rilke komme ich zu
dem „Ungelösten“ im Herzen. Bei dieser Vorstellung werde ich unruhig. Das
Ungelöste! Die Aufgaben, für die ich keine Lösung weiß. Die Beziehungen, die
mir Bauchschmerzen und negative Gefühle machen. Da kommen Begegnungen hoch, für
die ich Scham und Abwehr empfinde. Da verklumpt sich sofort etwas im Herzen und
schreit nach Lösung. Das ist der Augenblick, wo ich am Silvestertag Pläne
schmiede für das nächste Jahr. Das ist die Antriebskraft, mal endlich und
endgültig das Problem anzupacken.
Aber das Ungelöste ist nicht ohne Grund ungelöst. Ich war
unfähig. Es gab nicht den richtigen Zeitpunkt. Da ist jemand inzwischen
gestorben. Da liegen die Scherben am Boden. Im Warten und in der Stille wird
mir das Ungelöste leider viel bewusster und zugleich schmerzhafter. Da sitze
ich dann und möchte gar nicht daran erinnert werden und kann es nicht
verhindern.
Rilke schlägt vor, dass ich beim Ungelösten in meinem Herzen
die Fragen selber liebe. Ich betrachte das Schatzkästchen, dass die mögliche
Lösung enthält und wenn ich an die Lösung nicht herankomme kann ich das
Schatzkästchen selbst lieb haben. Ich kann mich den Fragen als Fragen hingeben
und mich darüber freuen, dass ich ein fragendes Wesen bin. Nicht die Antworten
treiben mich voran, sondern der Akt des Fragens. Vielleicht muss ich meine
Fragen anders stellen! Vielleicht fühlt es sich in meinem Herzen darum ungelöst
an, weil ich Fragen stelle, die sich nicht beantworten lassen. Ich besitze ein
Buch in einer fremden Sprache und darf diese Sprache jetzt lernen. Das
Ungelöste in meinem Herzen kann auch etwas Verlockendes haben. Ich könnte also mit dem Ungelösten in meinem
Herzen neugierig in das nächste Jahr hineingehen und einfach gespannt sein.
Rilke lädt ein, alles zu leben. Nicht auswählen, was ich mag
und weglassen, was ich nicht mag. Da gibt es ja den Wunsch für das neue Jahr,
dass es glücklich sein möge. Aber es wird nicht nur glücklich werden. Das wäre
ein wenig unrealistisch. Es wird viele Aspekte haben wie dieses Jahr auch.
Manche sagen, dass sie in diesem Jahr viel Pech hatten und sich für das neue
Jahr besseres wünschten. Aber wenn ich so denke dann komme ich in eine
Abhängigkeit und Wertung. Das Jahr wird gut, wenn ich Glück habe und schlecht
wenn ich Pech habe. Befreie dich von solchen Vorstellungen. Das Ungelöste in
meinem Herzen gehört zu mir und zu meinem Leben dazu. Es ist ein beständiger
Teil davon und könnte mich auch reich machen.
Wie wunderbar ist doch die Vorstellung, dass wir in die
Antwort hineinleben könnten. Die Antwort ereignet sich völlig ungeplant.
Irgendwann denke ich mal wieder über meine ungelösten Dinge nach und es fühlt
sich irgendwie gelöst an. Ich weiß nicht einmal, wie das geschah. Vielleicht
kann ich aufhören, ständig nach Lösungen zu suchen. Wenn ich annehmen kann, was
ist, brauche ich nicht nach etwas besserem zu suchen. Ich muss das, was
geschieht, auch nicht bewerten. Ich lebe halt in einem Haus mit vielen Fragen
und manchmal nicht so vielen Antworten. Und so ist es.
Am Ende des Jahres werde ich mir manchmal meiner Erschöpfung
bewusst. Es war viel in diesem Jahr. Dann halte ich inne und lache über mich. Das
sage ich jedes Jahr wieder neu. Es war viel dieses Jahr! Wenn ich in die
Antworten hineinlebe kann ich einen Unterschied machen. Es ist nie zu viel. Es
ist dann immer genau so richtig. Andererseits: Wenn alle Menschen in ihre
Antworten hineinleben täten wäre ich als Berater arbeitslos. Aber auch das wäre
nicht schlecht. Wäre ich die Arbeit los, könnte ich was anderes machen. Ich
habe von einem Psychiater gelesen, wie er Depressionen bewertet. Er meint, dass
manche Therapien die Depression verlängern. Manche Depressionen wären ohne
Therapie kürzer weil der Patient sich von selbst her heilt. Er hat einfach die
Nase voll von den Depressionen.
Rilke teilt in seinem Gedicht das mit uns, was ihn bewegt. Sein
Vertrauen, seine Hoffnung und sein Einverständnis mit den ungelösten Dingen.
Einen Dichter erlebe ich manchmal allein mit seinen Gedanken. Darum bewegt mich die Vorstellung, dass ich nicht allein bin mit meinen Wachstumsprozessen
und den ungelösten Dingen in meinem Herzen. Mir wird es warm ums Herz wenn ich
an dich denke und mich mit dir verbinde. Wenn ich die Solidarität spüre, dass
wir alle unsere Prozesse haben und mit den ungelösten Dingen leben müssen. Sich
zu verbinden fördert mein Wachstum unglaublich und macht die ungelösten Dinge
ganz erträglich. Und mir gefällt die Vorstellung in Anlehnung an Rilke, dass
ich in meine Beziehungen hineinleben kann. Ich muss mich nicht dafür
anstrengen. Die Menschen sind ja schon alle da. Du auch! Ob ich dich sehe oder
nicht. Du bist auf jeden Fall da. Und ich gerne mit dir!
www.matthias-koenning.de
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