Das
Bild stammt von einer Postkarte, die an meinem Schrank hängt. Ein
elegant gekleideter Vogel trägt einen Schlüssel im Schnabel. Er heißt
übrigens Gregorius und wirkt mit seiner Brille klug und weise.
Eine
Frau erzählte mir einmal von ihrer Beichtpraxis. Sie musste auf den
Pfarrer warten, weil dieser noch einen dringenden Termin hatte. Zur
Vorbereitung bekam sie ein Märchen der Gebrüder Grimm in die Hand
gedrückt mit der Überschrift: "Der goldene Schlüssel." Kennst du dieses
eigenartige Märchen? Es geht so:
Der goldene Schlüssel
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge
hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun
zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren
war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich
ein bisschen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den
Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun
glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub
in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. Wenn der Schlüssel nur
passt! dachte er, es sind gewiss kostbare Sachen in dem Kästchen. Er
suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins,
aber so klein, dass man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der
Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir
warten, bis er vollends aufgeschlossen, und den Deckel aufgemacht hat,
dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen
lagen. (Märchen der Gebrüder Grimm)
Ein wenig
ärgerlich, nicht wahr? Am Ende des Märchens fragst du dich, was denn
wohl in dem Kästchen liegt. Du bekommst jedoch keine Antwort. Das
Märchen hat nur eine Person und es gibt kaum Handlung. Keine
Verwicklungen. Kein Drama. Keine Verwandlungen. Es geschieht nichts.
Es
ist dennoch interessant, das Märchen ohne Geschichte! Es gleicht eher
einem Traumbild oder einem Gleichnis. Wir sind alle Besitzerinnen und
Besitzer eines "goldenen Schlüssels". Wir können in unserem Leben etwas
"goldenes" sehen, wenn wir die Augen und das Herz aufmachen. Unser Leben
hat einen sichtbaren und einen unsichtbaren Anteil. Sichtbarer
Schlüssel und verborgenes Schatzkästchen. Dein "goldener Schlüssel"
könnte deine handwerkliche Geschicklichkeit sein, die Fähigkeit mit den
Augen zu sehen. Vielleicht kannst du zwischen den Zeilen hören und bist
akrobatisch auf einem ganz bestimmten Gebiet. Vielleicht kannst du einen
Finger so bewegen wie niemand sonst auf dieser Welt. Vielleicht nimmst
du aber auch etwas wahr, was nur du wahrnehmen kannst. Es ist also
unglaublich wichtig, dass du um deinen "goldenen Schlüssel" weißt. Von
da aus kannst du auf dein "Kästchen" schließen. Wo es einen Schlüssel
gibt, gibt es auch ein Kästchen. Es wäre Schade, wenn du deinen
Schlüssel nicht einsetzen würdest. In deinem Herzen könnte lebenslang
ein "Schatz" warten und du würdest ihn nicht entdecken, heben und für
dich nutzen!
Viele Menschen kennen nicht einmal ihren Schlüssel.
Sie gleichen dem Jungen im kalten Schnee. Das Leben ist mühsam und hart.
Es fehlt die Wärme im Herzen. Kannst du deine "goldenen Schlüssel"
benennen? Welche fallen dir ein? Worin besteht dein Schnee? Wie
verbirgst oder versteckst du deine Fähigkeiten?
Der erste wichtige
Schritt im Umgang mit sich selbst heißt: "Ich habe meine eigenen
goldenen Schlüssel. Ich richte meine Aufmerksamkeit darauf und werde mir
dessen bewusst." Du besitzt "goldene Schlüssel".
Der zweite
wichtige Schritt heißt:"Ich finde mit meinem Schlüssel das dazu passende
Kästchen. Dazu räume ich Hindernisse aus dem Weg und bleibe einfach
dran. Der Schlüssel erinnert mich daran, dass ich mich wirklich einsetze
und immer wieder vertraue."
Ergänzungen:
In
vielen Geschichten gibt es zuerst das Kästchen und dann sucht man den
Schlüssel dazu. Die Verzweiflung kommt, wenn sich der Schlüssel nicht
finden lässt. Was ist jedoch wichtiger? Schlüssel oder Schatz!
Der
Inhalt des Kästchens bleibt uns verborgen. Der Inhalt deines eigenen
Schatzkästchens gehört nur dir! Er geht niemandem etwas an! Es ist deine
ureigene Persönlichkeit. Geh wohlwollend und wertschätzend damit um!
Vielleicht
öffnest du mit deinem Schlüssel irgendwann das Kästchen und kannst
nichts darin entdecken. Du denkst, es sei leer! Dann kommt dir die
Erkenntnis! Es ging gar nicht um das Kästchen. Es ging um den Schlüssel!
Darum
geht es immer! Das wir den Schlüssel zum Leben finden! Das eigene Leben
verstehen lernen! Kraftvoller gehen! Gezielter sich einsetzen! Die
Verletzungen und Kränkungen bearbeiten! Gelassener und wohlwollender
sein! Du könntest entdecken, dass dein "unscheinbarer Schlüssel", den du
oft ignorierst oder übersiehst, sich erst beim näheren Betrachten als
"goldener Schlüssel" erweist.
www.matthias-koenning.de