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Freitag, 26. Februar 2021

Mit dir zusammen ist allein sein schön!

Wenn du deinen Alltag lebst mit vielen Aufgaben, Begegnungen und Erlebnissen kommt keine Langeweile auf. Wenn du nie im Leben auch nur einen Moment mit dir allein bist kannst du etwas vermeiden, was für viele Menschen ganz schrecklich ist. Das Gefühl: "Ich bin allein!"
Du könntest dich jetzt einfach mal hinsetzen und dich diesem Zustand aussetzen, wenn du dich traust! Du setzt dich hin und fängst ordentlich an zu grübeln. Die Menschen an deiner Seite haben nicht oft Zeit für dich. Dein Partner, deine Partnerin versteht dich nur manchmal. Die Freundin und der Freund verstehen dich öfter, sind aber nicht dann erreichbar, wenn du sie dringend brauchst. Dir fällt auf, dass du ganz oft Schwierigkeiten hast, auszudrücken, was du wirklich fühlst und denkst.
Du empfindest deine Arbeit auf den ersten Blick als erfüllend und sinnvoll. Auf den zweiten Blick könntest du aber auch zu der Erkenntnis kommen: Wenn ich sterbe wird es ohne mich weitergehen. Immer die gleiche Routine! Selten wird meine Arbeit gewürdigt!
Du könntest jetzt nach und nach in einen inneren Zustand von Trennung geraten. Kein Mensch ist total und immer für dich da. Den Sinn deiner Arbeit stellst du in Frage. Deine Wohnung besitzt fremde Ecken. Du fühlst dich nicht so wohl in deiner Haut und die Kleidung passt nicht so richtig zu dir.
Wenn du ehrlich bist, so richtig ehrlich mit dir selbst, dann kannst du zu dem Ergebnis kommen: "Am Ende bin ich allein! Spätestens beim Sterben wird es ganz deutlich so sein! Aber in der letzten Tiefe bin ich allein!" Dann kann sich das Gefühl von Einsamkeit, Verzweiflung, Trauer, Depression, Ablehnung und Heimatlosigkeit tief und unendlich ausbreiten.
Du wirst es hoffentlich erfolgreich verhindern, in einen solchen Zustand zu geraten. Der Abgrund ist nicht erstrebenswert. Die größte Gefahr liegt darin, dass du dich dann von allem abgeschnitten fühlst. Es gibt keine Verbindung mehr, auch keine Verbindung zu dir selbst.
Es gibt aber auch den Zustand des "Alleinseins" in der Weise, dass du mit "allem" "Eins" bist. Das steckt auch in dem Wort "All-ein".  Du bist zwar da als einzelne Person, aber in deinem Herzen und deinem Bewusstsein existiert ein sattes Empfinden von Verbindung und Einssein. Dann ist allein sein überhaupt nicht bedrohlich. So kannst du allein im Himmel oder allein in deiner Hölle sein.
"Mit dir zusammen ist allein sein schön!" Ich mag allein sein manchmal als Himmel oder als Hölle empfinden. Als Mensch bin ich kein Einzelwesen, keine Insel. Ich bin eingebunden in ein Netz. Wir Menschen brauchen das. Jemand, der mich hält und den ich halten kann. Körperkontakt, Gespräche, Gesehen werden. Immer wenn das geschieht, dann komme ich in die Wahrnehmung des Hier und Jetzt. "Ah, du bist da. Jetzt! Das tut gut! Das nehme ich wahr. Das macht mich lebendig!"
"Mit dir zusammen ist allein sein schön!" Damit das geschehen kann muss ich meinen Panzer öffnen und die Hand ausstrecken, in Blickkontakt gehen, das Herz öffnen, spüren und wahrnehmen. Wenn ich das nicht mache, dann kann ein Mensch in meiner Nähe sein oder tausend andere. Es geschieht nichts! Ich bleibe einsam und allein - auch unter vielen Menschen! Aber der Satz kann dich wachrütteln. "Hey du, mit dir zusammen ist allein sein schön!"
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Donnerstag, 25. Februar 2021

Vier Schritte für ein helfendes Gespräch

Bei David Servan-Schreiber lese ich im Buch "Die Neue Medizin der Emotionen" einen hilfreichen Gesprächsleitfaden, wenn jemand zu dir kommt, der Unterstützung sucht, weil er etwas Stressauslösendes erlebt hat. Um sich die Schritte zu merken, nennt er sie "Else". Voran geht die Frage:
"Was ist passiert?" Du lässt den Menschen drei Minuten ungestört reden und du hörst aufmerksam zu ohne zu unterbrechen. Drei Minuten reichen aus, dann unterbrichst du.

Dann kommen die vier Schritte.
Schritt 1 steht für die Frage nach E = Emotion: Was hast du dabei empfunden, gefühlt? Im Erzählen des Gefühlten bist du mitten bei den Belastungen.

Schritt 2 steht für die Frage nach L = "Lass mich das Schwierigste wissen." Du weißt nicht, was dein Gegenüber am stärksten belastet. So kommt ihr auf die Spur, den Gipfel des Erlebten ausmacht.

Schritt 3 steht für S = "Was hilft dir am meisten, standzuhalten?" Damit sprichst du die Ressourcen deines Gegenübers an. Welche Stärke hilft, genau in dieser Situation wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

Schritt 4 steht für E = Empathie. Du drückst deinem Gegenüber dein Mitempfinden aus und teilst für einen Augenblick die Last mit dem Anderen.

Viel Freude und Erfolg bei deinen nächsten hilfreichen Gesprächen.

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Mittwoch, 24. Februar 2021

Das Vorübergehende geht vorüber und bleibt nicht!



Vorübergehend ist das Büro nicht besetzt. Vorübergehend haben wir diesen Menschen als Ersatz eingestellt. Vorübergehend findet die Beratung an einem anderen Tag statt. Vorübergehend bin ich hier nicht erreichbar.
Die Menschen wünschen sich eher Sicherheit. In der Regel oder immer ist das Büro besetzt. In der Regel oder immer ist der oder die dafür zuständig. In der Regel oder immer findet die Beratung an einem Montag statt. In der Regel oder immer bin ich hier erreichbar.
Wenn du genauer hinschaust ist jedoch nichts „immer“ sondern alles irgendwie vorübergehend. Vorübergehend lebst du in einer Familie und denkst, es sei für ewig. Vorübergehend hast du diese Stelle, zwar für dreißig Jahre, aber angesichts der Ewigkeit vorübergehend. Vorübergehend liebst du diesen Mann und diese Frau. Alles vorübergehend...
Und nun nimm das Wort wörtlich: Es geht vorüber. Du kannst es nicht festhalten. Du genießt und nutzt es zwar für einen Augenblick, du gehst eine Zeitlang damit, aber es bleibt nicht stehen. Es geht vorüber und ist vorübergehend.
Sei du selbst auch eher ein Vorübergehender als ein Festhalter. Um ein Vorübergehender zu werden musst du deine Lektionen lernen. Eine Lektion heißt: Immer wieder loslassen. 

Dienstag, 23. Februar 2021

Vielleicht gibt es schönere Zeiten; aber diese ist die unsere. (Jean-Paul Sartre)


Gab es in deinem Leben schönere Zeiten als jetzt? Warst du einmal glücklicher? Sehnst du dich nach diesen Zeiten zurück? Trauerst du ihnen noch hinterher?
Träumst du von einer glücklicheren Zukunft? Wenn das und das erst einmal geschieht - dann werde ich das und das tun und mich so und so fühlen?
Wie ist das mit Anspruch überhaupt nach einer "schönen" Zeit. Was muss passieren, dass dein Erlebnis den Stempel "schön" bekommt? Einfach so nach Gefühl oder mit bestimmten Kriterien? Wenn es "schön" sein soll, dann braucht es deine Bewertung. Du musst festlegen, ob und wann etwas "schön" ist. Wie jedoch sieht dein Leben aus, wenn es nicht mehr "schön" sein muss? Wenn du darauf verzichtest. Wenn der Anspruch wegfällt. Wenn du aufhörst mit dem Vergleichen!
Du wirst dir bewusst, dass es "jetzt" ist. Und einen Augenblick später ist es wieder "jetzt". Der Psychotherapeut Christian Meyer lädt ein zu einer Partnerübung, wo du deinen Partner fragst: "Und wessen bist du dir jetzt bewusst." Du sagst dann, wessen du dir gerade bewusst bist. Dein Partner stellt immer wieder die gleiche Frage: "Und wessen bist du dir jetzt bewusst." Diese Übung "zwingt" dich dazu, nicht in Gedanken abzudriften in die Vergangenheit oder Zukunft. Das Bewerten hört auf und du bist im Hier und Jetzt. Wenn du im Hier und Jetzt bist erlebst du dich völlig präsent und hast den Eindruck als ob du von einer Hypnose aufwachst. Probier es mal aus. Du kannst es auch für dich selber machen. "Wessen bin ich mir jetzt gerade bewusst." Antworten. "Und wessen bin ich mir jetzt gerade bewusst?" Antworten...
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Freitag, 19. Februar 2021

Der wahrhaft große Mensch ist der, der niemanden beherrscht und der von niemandem beherrscht wird. (Khalil Gibran)


Niemanden beherrschen und von niemandem beherrscht werden! Wie machen wir Menschen Kommunikation. Wie schaffen wir Verbindung?
"Wenn du mich wirklich lieben würdest, dann würdest du meine Wünsche mir von den Augen ablesen." "Warum fragst du mich nicht wie es mir geht, wo wir doch befreundet sind. Du interessierst dich ja gar nicht für mich." "Sie sollten Ihre Arbeitszeiten ernst nehmen sonst muss ich an Ihren Arbeitswillen zweifeln." "Na, kommst du auch noch?"
Mir fallen Tausende vor Fragen und Sätze ein, die scheinbar eine Verbindung herstellen. Aber eine, die Herrschaft zum Ausdruck bringt. Über Ermahnung, Erpressung, Bemutterung, Bevaterung, Aufforderung. Wie kann ich fühlen, denken und sprechen, dass ich meine Würde und die Würde des anderen bewahre? Bei mir spüre ich es, wenn da ein Raum der Freiheit im Herzen wächst. Es wird einfach weiter. Wenn ein Druck entsteht, ein negatives Gefühl, dann weiß ich, dass es im Moment um Herrschaft und Macht geht.
Wenn ich bedürftig bin und einen Mangel an etwas habe, dann hoffe ich, das Fehlende beim anderen zu finden. Ich kann freundlich bitten und ein Nein akzeptieren. Ich kann aber auch mit Nachdruck fordern. Manche Menschen bitten zwar äußerlich, aber üben dennoch Druck aus. "Unbedingte Bitten!" Khalil Gibran erkennt das als Größe an, wenn ein Mensch niemanden beherrscht und von niemandem beherrscht wird. Wie kann ich diese Größe erreichen? Ich denke, es geht dadurch, dass ich ständig an mir arbeite. Dass ich wach und bewusst durchs Leben gehe. Dass ich meine Bedürfnisse und meinen Mangel kenne. Dass ich mich mehr und mehr versöhne mit meiner Geschichte. Dass ich meine Traumata erlöse. Dass ich das alles wirklich möchte. Immer, wenn da dieser Druck auftaucht, dieses erdrückende Gefühl, bekomme ich die Chance, mich weiterzuentwickeln. Ich halte inne und unterbreche mich in meinen automatisierten Abläufen. Ach ja! Da ist wieder dieser Druck. Diese Angst. Diese Traurigkeit. Ich bleibe mit meiner Aufmerksamkeit für einen Moment dabei und mache nichts. Außer beobachten und spüren. Warten, bis sich der Nebel senkt. Bis die Begierde vorbeigeht. Bis der Machtwunsch dahinfließt. Bis der Freiraum sich öffnet.
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Donnerstag, 18. Februar 2021

Die Schönheit liegt nicht im Antlitz. Die Schönheit ist ein Licht im Herzen. (Khalil Gibran)


Teilst du mit mir diese Erfahrung? Du triffst einen dir unbekannten Menschen. Du schaust ihn an und es trifft dich mitten ins Herz. Du bist angerührt und fragst dich, wie das sein kann. Beim näheren Hinsehen entspricht das Gesicht keinem Schönheitsideal. Du verliebst dich also nicht in das Gesicht. Es kommt dir aber vor, als ob von innen her etwas hochkommt.
Du schaust diesem Menschen in die Augen und er dich. Du spürst so einen Stich im Herzen und hast das Bedürfnis, einen Seufzer zu machen. In diesem Augenblick wirst du berührt von der Schönheit des Lichtes im Herzen deines Gegenübers.
Mir kommt das manchmal so vor, als ob dieser Mensch etwas mit unsichtbarer Tinte auf ein Blatt Papier schreibt, mir zuschickt und ich es ohne Mühe lesen kann. Als ob in diesem Licht aus dem Herzen eine ganze Lebensgeschichte aufgeschrieben ist. "Du auch?" "Ach ja, das kenne ich! Danke, dass ich das mit dir teilen darf."
Wenn du der Schönheit des anderen begegnest, welches aus dem Licht im Herzen kommt, erkennst du dich selber in diesem Menschen wieder. Du fühlst dich verbunden und in dir wird die Erinnerung wach, dass du mit diesem Menschen gemeinsam aus dem Göttlichen kommst.
Leider geht dieser Impuls schnell verloren weil er so flüchtig ist. Aber du kannst deine Aufmerksamkeit darauf ausrichten. Genieße diese Augenblicke, wo dich das Licht im Herzen trifft.
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Mittwoch, 17. Februar 2021

Von Grenzen und von der Freiheit

Stell dir vor, dass du einen kleinen Spaziergang machst. Du befindest dich in einer Oase und läufst los hinein in die Wüste. Eben ein kleiner Spaziergang. Du gehst ein paar Minuten und fühlst dich frisch und kräftig. Du schaust in die Weite und lässt die Oase immer mehr hinter dir. Dann stellst du dich hin und drehst dich um deine eigene Achse. Wo immer du auch hinschaust siehst du freien Raum. Keine Begrenzung. Kein Zaun, der dich aufhält. Kein Meer, das du überqueren müsstest. Kein Weg, an dem du dich halten musst. Du befindest dich in der Grenzenlosigkeit. Bis zum Horizont - keine einzige Einschränkung.
Und? Verlockt dich diese Vorstellung? Wenn ja, wie lange? Hältst du es aus, diese Grenzenlosigkeit? Die Unendlichkeit von Möglichkeiten, deinen Weg fortzusetzen? Oder beschleicht dich irgendwann ein leises Unbehagen? Ich bin allein. Wo soll ich hin. Was erwartet mich, wenn ich weiterlaufe. Sorge, Angst, Todesangst, Panik?
Wenn du jetzt mal an deinen Alltag denkst mit all den Verantwortungen, denen du nachkommen musst. Familie, Beruf, Gesundheit, Finanzen. Deine Landschaft ist voll besetzt. Kaum Freiraum! Jetzt stellt dir vor, dass du ab jetzt keine einzige Verpflichtung mehr hast. Totaler innerer Freiraum - die Leere der Wüste und die Weite des Ozeans! Verlockend?
Mir hilft es, da einen Unterschied zu machen. Ich lebe in der Polarität von Begrenzung und Freiheit. Ich habe mich für dieses Leben entschieden. Für meine Arbeit, für meine Beziehungen, für meine Hobbys. Das erfüllt mich. Darum bin ich auch kein Sklave und erlebe das nicht als Begrenzung. Zugleich erfüllt mich der Wunsch nach Freiheit, nach Entgrenzung, nach neuen Möglichkeiten. Immer, wenn es mir zu viel wird, dann wird der Wunsch nach Entgrenzung mächtig. Wie bekomme ich diese widersprüchliche Polarität zusammen?
Ich entscheide mich für den einen Weg, den ich jetzt gerade gehe. Ich lasse mich ein auf die Menschen, denen ich gerade begegne. Ich lebe aufmerksam im Hier und Jetzt. Ich achte darauf, dass immer auch ein kleiner Freiraum bleibt. Ein Raum, in dem ich genug atmen kann. Ich lasse in meinem Bewusstsein zu, dass ich die völlige Grenzenlosigkeit denken kann. Wenn ich wirklich will, kann ich jetzt meine Oase verlassen und mich der Wüste und dem Meer aussetzen. Ich kann, aber ich muss es nicht. Ich kann es im Geiste und auch mal für ein paar Tage im Urlaub.
Der Unterschied heißt: Es gibt kein "Entweder/Oder" sondern ein "Sowohl/als auch". Begrenzung und Freiheit sind nur scheinbare Widersprüche. Ich erlebe beides zur gleichen Zeit. Ich kann mich wie ein Ausgelieferter erleben oder wie ein Gestalter und Schöpfer. Ich kann "gezwungenermaßen" zur Arbeit gehen und erlebe die Begrenzung. Ich kann aber auch "völlig frei" zur Arbeit gehen und erlebe die vielen Möglichkeiten.
Wie bekommst du das auf die Reihe? Schmerzen dich eher die Grenzen oder eher die vielen Möglichkeiten und deine Unmöglichkeit, dich entscheiden zu können? Wann ist es leicht und wann ist es besonders schwer?
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Dienstag, 16. Februar 2021

Es ist mir ein Fest



Ich hörte ein längeres sehr unterhaltsames und anregendes Radiointerview. Die Fragen waren interessant. Die Antworten waren lebendig. Da war eine Menge Resonanz zwischen den Interviewpartnern zu spüren. Normalerweise endet jedes Gespräch am Radio ähnlich. „Vielen Dank für die Zeit.“ Antwort: „Gerne!“ oder „Danke ebenfalls!“ Dieses Interview endete mit dem Satz des weiblichen Gastes: „Es war mir ein Fest!“
Als sie das sagte wurde es mir ganz warm ums Herz. Es war ihr ein Fest. Es war keine Arbeit. Keine Anstrengung. Keine Pflichterfüllung. Es war ihr ein Fest. Es war auch nicht „wie“ ein Fest. Also vergleichbar! Es war ihr ein Fest.
Jetzt sitze ich und schreibe und denke und fühle: Ach, wie schön! Ich schreibe hier für dich und es ist mir ein Fest. Als hätte ich gekocht, den Tisch schön gedeckt und würde dich willkommen heißen und dir einen Platz anbieten. Als würden wir gemeinsam sitzen und uns über die Begegnung freuen. Als würden wir gemeinsam essen und uns austauschen. Und du würdest spüren, wie sehr du das genießt. Wie sehr du es magst, gemeint zu sein.
Dann sitze ich und mache mir Gedanken und schreibe und stelle mir vor, dass ich nicht so eine Art „Pflichtbrief“ schreibe, sondern ein Fest feiere mit dir. Es ist mir ein Fest, etwas mit dir zu teilen, was in meinem Inneren gerade geschieht, oder was mir begegnet ist. Oder worüber ich gerade so nachdenke.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue auf meine Ablage, auf meine Stifte und auf diverse Kleinigkeiten. Normalerweise ignoriere ich sie. Ich nutze sie, wenn ich sie brauche. Sie haben keine große emotionale Bedeutung. Jetzt aber stelle ich mir vor: „Es ist mir ein Fest!“ Ich sitze an meinem Schreibtisch und sage zu meinen Stiften: „Es ist mir ein Fest.“ Plötzlich entsteht eine Beziehung zwischen den Gegenständen und mir. Als würde ich durch diesen Gedanken alles in meinem Umfeld beleben. Das Arbeitszimmer wird zu einem Festsaal.
In der ersten Februarwoche musste ich bei Schneefall zur Arbeit. Alle Autos fuhren vorsichtig und ich brauchte viel länger als sonst. Ich fuhr in einer langen Kolonne mit vielen langsam fahrenden Autos. „Normalerweise“ mache ich mir dann Druck. „Kann das nicht etwas schneller gehen!“ „Ich komme nicht rechtzeitig und muss dann nacharbeiten!“ „Hoffentlich passiert nichts!“ Normalerweise!
An diesem Februarmorgen aber fuhr ich in der Kolonne und hatte noch das Wort im Ohr: „Es war mir ein Fest.“ Und plötzlich verschwand der Druck völlig. Ich wurde heiter und gelassen. Gedanklich nickte ich allen in meiner Kolonne und im Gegenverkehr zu. „Es ist mir ein Fest!“ „Ich bin einer von euch. Wir sind eine große Schar gemeinsam unterwegs zu verschiedenen Zielen. Wir verbinden uns und schaukeln hier diesen Schnee. Wir lassen uns nicht beeindrucken von dem Wetter. Wir genießen gemeinsam diese weiße Landschaft. Und es ist mir ein Fest, einer von euch zu sein.“
Was geht jetzt in dir vor, wo du das liest und mit dem inneren Ohr hörst? „Jetzt übertreibt der aber!“ „Das ist aber ein bisschen abwegig!“ „Ja doch, das hat was!“ „Ich habe ganz andere Situationen, wann es mir ein Fest ist.“ „Da muss schon wirklich was Außergewöhnliches passieren, dass ich so einen Satz sagen würde.“  In welchen Situationen bekommst du das Gefühl, dass dir etwas wie ein Fest wird? Kommt es dabei auf äußerliche Umstände an wie ein Geburtstag oder eine Hochzeit?
Als ich in diesem Interview aufhorchte bei diesem Satz, wurde ich auf einmal sehr lebendig. Auch mir war es ein Fest. Ich war bei diesem Interview dabei. Das wurde mir erst bei diesem Satz bewusst. Ja, ich war der Teil eines Festes dieses Studiogastes. Ich war ein Gast.
Dieser Satz lädt mich ein, damit noch ein wenig tiefer zu gehen. Ich komme als Baby auf diese Welt und erlebe etwas. Den engen Geburtskanal, die Kälte und das grelle Licht draußen. Die fremden Stimmen und ungemütliche Positionen. Ich erlebe Liebe und Zuwendung. Ich muss aber auch schwierige Situationen meistern. Ich werde älter und älter und drücke dem Leben folgenden Stempel auf: „Leben, dich muss ich meistern. Ich muss bestehen. Es ist eine Anstrengung. Es ist oft schön und zugleich auch herausfordernd. Ich schwanke zwischen Gelassenheit und Anspannung. Hallo Leben, du bist nicht ohne!“
Ich kann aber auch auf die Welt kommen durch den engen Geburtskanal und das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Ich kann zwar noch nicht gut bewusst denken und klare Sätze formulieren mit meinen Babywerkzeugen. Aber ich kann rückwirkend mir vorstellen, wie ich in das Leben trete und sage: „Es ist mir ein Fest.“ Damit erschaffe ich mir gleich ein Lebensprogramm. Es würde sich so anfühlen, als sei ich ein König der auf einem roten Läufer den Festsaal betritt. „Es ist mir ein Fest!“ in dieses Leben einzutreten und zu einem Teil davon zu werden.
Wenn du das Leben eher wie eine Bürde oder eine Pflichtveranstaltung wahrnimmst könnte dieser Satz eine hilfreiche Intervention sein. Gedanklich und mit deinen inneren Bildern gehst du zum Anfang zurück. Du drehst den Film deines Lebens einfach noch einmal neu. Jetzt aber nicht mehr unbewusst mit den Babywerkzeugen, sondern klar, bewusst und entschieden. Du als erwachsener Mensch nimmst dein inneres Baby mit in dein Herz. Du rutscht voller Vergnügen mit deinem Baby durch den Geburtskanal und betrittst diese Welt. Du nimmst wahr, wie du von der Welt empfangen wirst. Alle strahlen dich an und heißen dich willkommen. Ein wohliger Schauer durchflutet deinen erwachsenen Körper. Dein inneres Baby wird dabei überflutet von Glückshormonen. In der Welt angekommen genießt du diesen Augenblick und hältst inne: „Es ist mir ein Fest!“
Letztlich geht es darum, dass du dir deiner eigenen Würde bewusst wirst. Du bist nicht zufällig da. Du bist nicht einfach dem Schicksal des Lebens ausgeliefert. Du bist bewusst und entschieden hier. Du nimmst nicht nur deinen Platz in Anspruch als ob du kämpfen müsstest. „Auch ich darf mal mitmachen.“ Wenn du dir deiner Königswürde bewusst wirst musst du nicht mehr kämpfen oder dich rechtfertigen. Es wird dir zum Fest. Das Leben wird dir zum Vergnügen. Und jetzt ist es mir ein Fest, meine Augen zu schließen und in die Stille abzutauchen. Dich zu meinen und mit dir zusammen zu sein und das Gemeinsame zu genießen. Du und ich, wir schön zusammen!

Freitag, 12. Februar 2021

Jerusalema, der Weg der Sehnsucht


 

Hast du das Lied inzwischen gehört? Vielleicht schon einmal mitgetanzt? Im Netz geht es viral um. Krankenhäuser, Klöster, Betriebe, Feuerwehren und Polizeistationen tanzen sich Corona konform im Rhythmus von Jerusalema. Es tanzt sich ganz einfach. Gut zuschauen, ein paar Mal üben und schon kannst du mitmachen. Die Bewegungen sind so choreografiert, dass du ein quadratisches Feld abtanzt, während einer Sequenz in jede Himmelsrichtung schaust und nach vier Phasen wieder am Ausgangspunkt stehst und von vorne beginnst.

Als Theologe werde ich natürlich hellhörig, wenn ich das Wort Jerusalem höre. Mir ist das neue geistliche Lied vertraut: „In deinen Toren werd ich stehen du freie Stadt Jerusalem, in deinen Toren kann ich atmen, erwacht mein Lied.“ Die jüdische Feier des Sederabends endet mit dem Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Der wird auch ausgesprochen von den Menschen, die in Jerusalem wohnen. Jerusalem heißt übersetzt: Stadt des Friedens. Im hebräischen Wort „Jerushalayim“ klingt noch das Wort für Frieden „Shalom“.

 

Das virale Jerusalema kommt aus Südafrika und der Text auf Deutsch heißt:

 

„Jerusalem ist meine Heimat.
Schütze mich.
Begleite mich.
Lass mich hier nicht zurück.

Mein Platz ist nicht hier.
Mein Königreich ist nicht hier.
Lass mich hier nicht zurück.“

Text: Kgaogelo Moagi, Nomcebo Zikode

Jerusalem, ein wunderbarer Ort und die Hauptstadt Israels. Heimat des Christentums. Heiligtum und Zentrum von drei Weltreligionen. Emotional und spirituell schwer beladen. Löst Gefühle aus und weckt die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott. Weckt die Bedürfnisse nach Sicherheit, Freiheit und Frieden. Diese Tradition findet sich auch im südafrikanischen Text wieder. In einem Interview habe ich gelesen, dass der Texter sich von seiner eigenen Musik inspirieren ließ, und die Worte aus dem Herzen flossen. Da, wo ich gerade bin, ist nicht meine Heimat. Hier fühle ich mich nicht wohl. Hier bin ich verlassen und allein. Bitte nimm mich mit auf den Weg nach Jerusalem und begleite mich. Alleine schaffe ich das nicht. Lass mich hier nicht zurück.

Die Musik und der Rhythmus laden ein, diese Lethargie hinter sich zu lassen. Ich klebe nicht fest in meiner Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ich fange an mit dem ersten Schritt nach vorne im Tanz. Ich erobere mir ein quadratisches Feld. Ein Stück Boden, der für den Augenblick mir gehört. Mein Stück Land von Israel.

Jerusalema tanzen Gruppen, die gerade besonders belastet sind. Krankenschwestern und Polizeistationen. Menschen, die sich um Menschen kümmern, die nicht gut für sich selbst sorgen können.

Spürst du auch, wie der Virus dich mit der Zeit zermürbt? Noch stehst du aufrecht. Immer wieder reißt du dich zusammen und folgst den neuen Regeln. Aber der Appell an deine Einsicht und Unterstützung findet immer mühsamer den Weg in dein Herz. Mir kommen auf einmal Psalm Verse näher die so beginnen: „Wie lange noch…“ Genau! Wie lange müssen wir noch Masken tragen? Wie lange noch dürfen wir uns nicht umarmen? Wie lange noch darf ich nicht dahin reisen, wo ich möchte? Wie lange noch wird der Virus unseren Alltag beeinflussen?

Jerusalem rückt immer weiter weg. Dein Paradies, in dem du bislang glücklich warst, entzieht sich dir mehr und mehr. Glückliche Tage verblassen, an denen du zu Festen eingeladen wurdest oder wo du dich in der Sauna entspannen konntest. Wie fühlte sich das an, wenn du Teil einer großen Gemeinschaft warst im Fußballstadion, in der Kirche, bei einem Volksfest oder beim Stromern durch eine bunte und belebte Fußgängerzone.

Du hast dich vielleicht schon eingerichtet in deinen Rückzug und in deiner Höhle. Da ist es ja auch nicht schlecht. Du hast Nahrung, Wärme und hoffentlich noch einen Menschen, den du umarmen kannst. Du versuchst, das Beste aus der Situation zu machen. Der Flieger in den Urlaub verspätet sich um ein paar Stunden und du packst dein Butterbrot aus, liest in deinem Buch und gehst den Gang auf und ab und versuchst, dich vom duty-free Shop nicht verführen zu lassen. Leben auf kleinem Raum.

Jetzt tanzt du Jerusalema auch auf engem Raum. Du tanzt auf einem Platz eng um einen virtuellen Stuhl herum. Du bringst dich in Bewegung, damit du beim Aufbruch nach Jerusalem nicht eingerostet bist. Du willst ja dabei sein, wenn du die Masken wieder ablegen darfst, im Strom der vielen Menschen mitzulaufen und alle zu umarmen, die du umarmen möchtest. Vor allem braucht deine Sehnsucht Nahrung. Das Leben jetzt ist nicht das normale Leben. Es ist ein Leben in einem krisenhaften Zustand. Du tanzt und du seufzt und du lässt den Wunsch in dir wach werden, dass schon morgen das erste Zeichen auftaucht, dass alles wieder gut wird.

Die letzten Worte des jüdischen Sederabends holen eine wichtige Erkenntnis ins Bewusstsein: „Dieses Jahr sind wir Sklaven. Nächstes Jahr werden wir frei sein… Nächstes Jahr in Jerusalem.“ Bis heute ist das Volk Israel nicht angekommen. Das Erreichen des Ortes reicht nicht aus. Es geht vor allem um den inneren Weg in die Freiheit.

Wenn wir sehnsuchtsvoll Jerusalema singen und tanzen, dann machen wir das im Bewusstsein und im Gefühl von Gefangenen. Natürlich machen wir alles irgendwie freiwillig mit. Wir wollen schließlich sozial sein, die Gesundheit nicht gefährden und alle Bemühungen unterstützen, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Das ändert nichts daran, dass es wichtig ist, dass wir unser Gemüt überprüfen. Empfindest du dich als freier Mensch oder eher wie eine Gefangene, ein Gefangener? Wie hoch sind die Anteile verteilt in dir, wenn du es in Prozent ausdrücken müsstest.

Das Volk Israel eroberte sich die Freiheit mit dem Aufbruch aus Ägypten. Auf hebräisch heißt Ägypten: „Mizrajim“, was so viel bedeutet wie Grenze, Einschränkungen und Hindernisse. Wie fühlst du dich gerade? Eher Mizrajim oder Jerushalayim?

Es ist nicht gesund, sich allzu sehr an Mizrajim zu gewöhnen. Da gibt es die Geschichte von den zwei Fröschen. Wenn man einen Frosch in heißes Wasser wirft, springt er schnell wieder heraus. Er spürt den Schmerz und möchte nicht verbrennen. Wenn man einen Frosch ins Wasser setzt und dieses langsam erhitzt dann gewöhnt er sich daran und stirbt, weil er den Zeitpunkt des Springens verpasst. Darum ist es wichtig, Jerusalema zu tanzen. Sich nicht gewöhnen an den Zustand von Krise. Was kannst du dafür tun, dich besser zu fühlen?

Wenn du also noch in Ägypten bist dann könntest du jetzt schon deine Sachen packen! Bereite dich vor für den Sommer. Recherchiere nach Baggerseen, die du noch nicht kennst. Suche Museen aus, die verborgen um eine Ecke schon lange auf dich warten. Verabrede dich mit deiner verlorenen Jugendfreundin für den 5. September. Finde heraus, wie du im Wohnzimmer in diesem Jahr Tomaten züchten kannst und suche im Keller nach den Materialien dafür.

Zwischendurch darfst du gerne Jerusalema tanzen, damit du an deine Freiheit erinnert wirst. Suche dir eine Freundin oder einen Freund, den du anrufen kannst. Du verabredest eine Zeit, in der du lauthals dein Leid herausrufen darfst. Du kotzt dich so richtig aus und es ist verboten, etwas zu beschwichtigen oder richtig zu stellen. Nur das Elend herauslassen. In Gegenseitigkeit. Verdrücke dir deine guten Ratschläge oder deine ideologischen Einstellungen zum Corona Virus oder Verschwörungstheorien. Es geht nur ums Dampfablassen. Der jüdische Beter tat das mit vorformulierten Klagepsalmen. Du hast aber bestimmt genug eigene Worte für dein Elend.

Anschließend tanzt du wieder Jerusalema, damit du nicht nur mit der Stimme was machst, sondern mit dem ganzen Körper. Das ganze Sklavengift muss raus! Mit Sklavengift meine ich die Ansammlung von Adrenalin, Kortisol und den Rest der verwandten stressbedingten Hormone.

Wenn du dich im Tanzen gereinigt und ausgeschwitzt hast stellst du in deine Tanzfläche einen Stuhl und setzt dich da drauf. Du schließt die Augen und atmest tief ein und aus. Du verbindest dich mit deinem Zorn, deiner Sehnsucht und Erschöpfung, deinen Wünschen und Bedürfnissen, deiner Erschöpfung und deiner Hoffnung und lässt für einen Moment Ruhe einkehren. Jetzt auf deinem Stuhl passiert nichts. Du bist mit dir da und die Welt um dich herum lässt du für einen Moment los. Du wirst wieder aufstehen und mitmachen. Aber jetzt machst du eine Pause und bist ganz bei dir. Da geschieht vielleicht so etwas wie ein Wunder. In all dem Gewirr und Gefühlschaos nimmst du die Zeichen der Freiheit wahr und entscheidest dich dafür, diesen zu folgen.

Jerusalema ist letztlich ein Prozess. Jeder Mensch lebt diesen Prozess ständig und ein Leben lang.  Du nimmst etwas auf, hältst es für eine Weile fest und musst es wieder loslassen. Deine Arbeit, deine Gesundheit, dein Geld, deine Nahrung, deine Lieblingsmenschen, deine Glaubenssätze. Manche nehmen lieber auf, manche halten gerne fest und andere lassen ständig los. Das Gesetz des Lebens sagt dir: Alle drei Phasen laufen ständig ab in deiner Zeit. Mit oder ohne deine Erlaubnis und deinem Segen. Wehre dich nicht dagegen, sondern gestalte es lieber. Ich denke mir manchmal, dass wir viel Kraft und Zeit vergeuden, uns diesem Prozess zu verweigern. Es ist ja auch so verlockend, den Gewinn zu halten und nicht hergeben zu müssen. Aber die Musik von Jerusalema läuft weiter und lädt dich ein. Nächstes Jahr…