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Freitag, 12. Februar 2021

Jerusalema, der Weg der Sehnsucht


 

Hast du das Lied inzwischen gehört? Vielleicht schon einmal mitgetanzt? Im Netz geht es viral um. Krankenhäuser, Klöster, Betriebe, Feuerwehren und Polizeistationen tanzen sich Corona konform im Rhythmus von Jerusalema. Es tanzt sich ganz einfach. Gut zuschauen, ein paar Mal üben und schon kannst du mitmachen. Die Bewegungen sind so choreografiert, dass du ein quadratisches Feld abtanzt, während einer Sequenz in jede Himmelsrichtung schaust und nach vier Phasen wieder am Ausgangspunkt stehst und von vorne beginnst.

Als Theologe werde ich natürlich hellhörig, wenn ich das Wort Jerusalem höre. Mir ist das neue geistliche Lied vertraut: „In deinen Toren werd ich stehen du freie Stadt Jerusalem, in deinen Toren kann ich atmen, erwacht mein Lied.“ Die jüdische Feier des Sederabends endet mit dem Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Der wird auch ausgesprochen von den Menschen, die in Jerusalem wohnen. Jerusalem heißt übersetzt: Stadt des Friedens. Im hebräischen Wort „Jerushalayim“ klingt noch das Wort für Frieden „Shalom“.

 

Das virale Jerusalema kommt aus Südafrika und der Text auf Deutsch heißt:

 

„Jerusalem ist meine Heimat.
Schütze mich.
Begleite mich.
Lass mich hier nicht zurück.

Mein Platz ist nicht hier.
Mein Königreich ist nicht hier.
Lass mich hier nicht zurück.“

Text: Kgaogelo Moagi, Nomcebo Zikode

Jerusalem, ein wunderbarer Ort und die Hauptstadt Israels. Heimat des Christentums. Heiligtum und Zentrum von drei Weltreligionen. Emotional und spirituell schwer beladen. Löst Gefühle aus und weckt die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott. Weckt die Bedürfnisse nach Sicherheit, Freiheit und Frieden. Diese Tradition findet sich auch im südafrikanischen Text wieder. In einem Interview habe ich gelesen, dass der Texter sich von seiner eigenen Musik inspirieren ließ, und die Worte aus dem Herzen flossen. Da, wo ich gerade bin, ist nicht meine Heimat. Hier fühle ich mich nicht wohl. Hier bin ich verlassen und allein. Bitte nimm mich mit auf den Weg nach Jerusalem und begleite mich. Alleine schaffe ich das nicht. Lass mich hier nicht zurück.

Die Musik und der Rhythmus laden ein, diese Lethargie hinter sich zu lassen. Ich klebe nicht fest in meiner Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ich fange an mit dem ersten Schritt nach vorne im Tanz. Ich erobere mir ein quadratisches Feld. Ein Stück Boden, der für den Augenblick mir gehört. Mein Stück Land von Israel.

Jerusalema tanzen Gruppen, die gerade besonders belastet sind. Krankenschwestern und Polizeistationen. Menschen, die sich um Menschen kümmern, die nicht gut für sich selbst sorgen können.

Spürst du auch, wie der Virus dich mit der Zeit zermürbt? Noch stehst du aufrecht. Immer wieder reißt du dich zusammen und folgst den neuen Regeln. Aber der Appell an deine Einsicht und Unterstützung findet immer mühsamer den Weg in dein Herz. Mir kommen auf einmal Psalm Verse näher die so beginnen: „Wie lange noch…“ Genau! Wie lange müssen wir noch Masken tragen? Wie lange noch dürfen wir uns nicht umarmen? Wie lange noch darf ich nicht dahin reisen, wo ich möchte? Wie lange noch wird der Virus unseren Alltag beeinflussen?

Jerusalem rückt immer weiter weg. Dein Paradies, in dem du bislang glücklich warst, entzieht sich dir mehr und mehr. Glückliche Tage verblassen, an denen du zu Festen eingeladen wurdest oder wo du dich in der Sauna entspannen konntest. Wie fühlte sich das an, wenn du Teil einer großen Gemeinschaft warst im Fußballstadion, in der Kirche, bei einem Volksfest oder beim Stromern durch eine bunte und belebte Fußgängerzone.

Du hast dich vielleicht schon eingerichtet in deinen Rückzug und in deiner Höhle. Da ist es ja auch nicht schlecht. Du hast Nahrung, Wärme und hoffentlich noch einen Menschen, den du umarmen kannst. Du versuchst, das Beste aus der Situation zu machen. Der Flieger in den Urlaub verspätet sich um ein paar Stunden und du packst dein Butterbrot aus, liest in deinem Buch und gehst den Gang auf und ab und versuchst, dich vom duty-free Shop nicht verführen zu lassen. Leben auf kleinem Raum.

Jetzt tanzt du Jerusalema auch auf engem Raum. Du tanzt auf einem Platz eng um einen virtuellen Stuhl herum. Du bringst dich in Bewegung, damit du beim Aufbruch nach Jerusalem nicht eingerostet bist. Du willst ja dabei sein, wenn du die Masken wieder ablegen darfst, im Strom der vielen Menschen mitzulaufen und alle zu umarmen, die du umarmen möchtest. Vor allem braucht deine Sehnsucht Nahrung. Das Leben jetzt ist nicht das normale Leben. Es ist ein Leben in einem krisenhaften Zustand. Du tanzt und du seufzt und du lässt den Wunsch in dir wach werden, dass schon morgen das erste Zeichen auftaucht, dass alles wieder gut wird.

Die letzten Worte des jüdischen Sederabends holen eine wichtige Erkenntnis ins Bewusstsein: „Dieses Jahr sind wir Sklaven. Nächstes Jahr werden wir frei sein… Nächstes Jahr in Jerusalem.“ Bis heute ist das Volk Israel nicht angekommen. Das Erreichen des Ortes reicht nicht aus. Es geht vor allem um den inneren Weg in die Freiheit.

Wenn wir sehnsuchtsvoll Jerusalema singen und tanzen, dann machen wir das im Bewusstsein und im Gefühl von Gefangenen. Natürlich machen wir alles irgendwie freiwillig mit. Wir wollen schließlich sozial sein, die Gesundheit nicht gefährden und alle Bemühungen unterstützen, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Das ändert nichts daran, dass es wichtig ist, dass wir unser Gemüt überprüfen. Empfindest du dich als freier Mensch oder eher wie eine Gefangene, ein Gefangener? Wie hoch sind die Anteile verteilt in dir, wenn du es in Prozent ausdrücken müsstest.

Das Volk Israel eroberte sich die Freiheit mit dem Aufbruch aus Ägypten. Auf hebräisch heißt Ägypten: „Mizrajim“, was so viel bedeutet wie Grenze, Einschränkungen und Hindernisse. Wie fühlst du dich gerade? Eher Mizrajim oder Jerushalayim?

Es ist nicht gesund, sich allzu sehr an Mizrajim zu gewöhnen. Da gibt es die Geschichte von den zwei Fröschen. Wenn man einen Frosch in heißes Wasser wirft, springt er schnell wieder heraus. Er spürt den Schmerz und möchte nicht verbrennen. Wenn man einen Frosch ins Wasser setzt und dieses langsam erhitzt dann gewöhnt er sich daran und stirbt, weil er den Zeitpunkt des Springens verpasst. Darum ist es wichtig, Jerusalema zu tanzen. Sich nicht gewöhnen an den Zustand von Krise. Was kannst du dafür tun, dich besser zu fühlen?

Wenn du also noch in Ägypten bist dann könntest du jetzt schon deine Sachen packen! Bereite dich vor für den Sommer. Recherchiere nach Baggerseen, die du noch nicht kennst. Suche Museen aus, die verborgen um eine Ecke schon lange auf dich warten. Verabrede dich mit deiner verlorenen Jugendfreundin für den 5. September. Finde heraus, wie du im Wohnzimmer in diesem Jahr Tomaten züchten kannst und suche im Keller nach den Materialien dafür.

Zwischendurch darfst du gerne Jerusalema tanzen, damit du an deine Freiheit erinnert wirst. Suche dir eine Freundin oder einen Freund, den du anrufen kannst. Du verabredest eine Zeit, in der du lauthals dein Leid herausrufen darfst. Du kotzt dich so richtig aus und es ist verboten, etwas zu beschwichtigen oder richtig zu stellen. Nur das Elend herauslassen. In Gegenseitigkeit. Verdrücke dir deine guten Ratschläge oder deine ideologischen Einstellungen zum Corona Virus oder Verschwörungstheorien. Es geht nur ums Dampfablassen. Der jüdische Beter tat das mit vorformulierten Klagepsalmen. Du hast aber bestimmt genug eigene Worte für dein Elend.

Anschließend tanzt du wieder Jerusalema, damit du nicht nur mit der Stimme was machst, sondern mit dem ganzen Körper. Das ganze Sklavengift muss raus! Mit Sklavengift meine ich die Ansammlung von Adrenalin, Kortisol und den Rest der verwandten stressbedingten Hormone.

Wenn du dich im Tanzen gereinigt und ausgeschwitzt hast stellst du in deine Tanzfläche einen Stuhl und setzt dich da drauf. Du schließt die Augen und atmest tief ein und aus. Du verbindest dich mit deinem Zorn, deiner Sehnsucht und Erschöpfung, deinen Wünschen und Bedürfnissen, deiner Erschöpfung und deiner Hoffnung und lässt für einen Moment Ruhe einkehren. Jetzt auf deinem Stuhl passiert nichts. Du bist mit dir da und die Welt um dich herum lässt du für einen Moment los. Du wirst wieder aufstehen und mitmachen. Aber jetzt machst du eine Pause und bist ganz bei dir. Da geschieht vielleicht so etwas wie ein Wunder. In all dem Gewirr und Gefühlschaos nimmst du die Zeichen der Freiheit wahr und entscheidest dich dafür, diesen zu folgen.

Jerusalema ist letztlich ein Prozess. Jeder Mensch lebt diesen Prozess ständig und ein Leben lang.  Du nimmst etwas auf, hältst es für eine Weile fest und musst es wieder loslassen. Deine Arbeit, deine Gesundheit, dein Geld, deine Nahrung, deine Lieblingsmenschen, deine Glaubenssätze. Manche nehmen lieber auf, manche halten gerne fest und andere lassen ständig los. Das Gesetz des Lebens sagt dir: Alle drei Phasen laufen ständig ab in deiner Zeit. Mit oder ohne deine Erlaubnis und deinem Segen. Wehre dich nicht dagegen, sondern gestalte es lieber. Ich denke mir manchmal, dass wir viel Kraft und Zeit vergeuden, uns diesem Prozess zu verweigern. Es ist ja auch so verlockend, den Gewinn zu halten und nicht hergeben zu müssen. Aber die Musik von Jerusalema läuft weiter und lädt dich ein. Nächstes Jahr…   

 

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