Ich erzähle einem Freund etwas, was ich mit einem Kunden erlebt habe und was mich immer noch beschäftigte. Kaum habe ich meinen Satz beendet bekomme ich die Antwort: „Das kenne ich. Da kann ich dir auch etwas zu sagen.“ Und dann erzählt er sofort seine Geschichte. Dabei bin ich noch bei meinen eigenen Gedanken und bei meinen Gefühlen. Mein Freund hatte bestimmt eine ganz gute Absicht. Sich mit mir solidarisch zu zeigen oder mir einen Tipp zu geben mit der Intention: „Ich fühle mit dir. Das kenne ich auch.“ Aber wenn jemand sofort mit seiner eigenen Geschichte kommt, dann fühle ich mich verlassen und nicht gehört. Es gibt keinen Moment der Pause, etwas nachwirken zu lassen. Es fehlt der Teil, für einen Augenblick miteinander in Verbindung zu gehen. Ein Nicken, dass mich jemand verstanden hat. Eine kurze Rückfrage oder einen Ausdruck der Anteilnahme. Die Gelegenheit, bei mir zu verweilen.
So erlebe ich das auch oft in Gruppen. Jeder versucht, seine Geschichte
loszuwerden und es wirkt wie ein Kampf, wer am besten dazwischenkommt. Jeder
erzählt seine Erlebnisse und niemand geht in Resonanz mit dem jeweiligen
Erzähler. Hinterher kannst du verteilen, wer die meisten Redeanteile hatte.
Manche kommen nie dazwischen und versinken irgendwann resigniert ins Schweigen.
Ich kenne auch Menschen, die irgendwann völlig aufgeben und still werden. Ich
schaue schon lange keine Talkshows mehr. Selten kommt es vor, dass alle sich
gegenseitig ein Feedback geben. Jeder will sein Zeug loswerden und Recht haben.
Ich möchte mich dabei durchaus selbst kritisch betrachten. Ich rede auch
oft zu lange und zu viel. Ich nutze die Gelegenheit, jemanden ins Wort zu
fallen, wenn mich die Leidenschaft oder der Widerspruch treibt. Aber es gefällt
mir auch nicht, wenn ich das so mache. Später in der Stille mit mir werde ich
dann traurig, dass ich nur von mir erzählt habe und nichts vom anderen weiß.
Das ist auf die Dauer unbefriedigend.
Seit einiger Zeit übe ich mich darin, bewusster in eine Begegnung
hineinzugehen. Dabei hilft mir die „Magie des Wimpernschlages“. Wenn mir jemand
etwas erzählt, nehme ich mir fest vor, zuzuhören und mich für einen bewussten
klaren Wimpernschlag zu entscheiden. Ich dehne es auf eine Sekunde aus und ich
verbinde es mit meinem Atem. Wenn ich für einen Moment die Augen schließe rede
ich nicht automatisch zurück. Habe nicht sofort meine eigene Geschichte auf der
Zunge.
Da entsteht ein kostbarer Moment der Stille. Ich schließe meine Augen
so, dass es kurz dunkel wird. Dass in diesem winzigen Augenblick der Dunkelheit
eine Anfangsreaktion geschieht. Möchte ich dem Erzähler zunicken oder
freundlich anschauen? Möchte ich eine Frage der Vertiefung stellen oder nur ein
wenig verweilen und das Gesagte nachwirken lassen. Wenn ich für einen verlängerten
Wimpernschlag meine Augen schließe, gibt es eine kleine Verzögerung, in der
etwas bewusst entstehen kann. Jenseits
des Automatismus, sofort etwas erwidern zu wollen. Dann sinkt das Gesprochene
in mein Herz und ich bewege es hin und her.
Die Fokussierung auf den Wimpernschlag wirkt wie ein Anker. Der
Wimpernschlag im übertragenen Sinne meint ja eigentlich die Kürze eines
Zeitraumes angesichts der Ewigkeit. Die Existenz der Menschen ist nur ein
Wimpernschlag im Gesamt der Existenz der Welt. Aber der Wimpernschlag bekommt
seine Bedeutung im Umkehrpunkt. In diesem kleinen Zwischenraum kann ich meine
Weichen stellen. Und darin liegt die Magie.
Viele unserer Prozesse laufen automatisch ab. Was ja auch Sinn macht.
Ich möchte nicht an jedem Tag so Auto fahren wie an meinem ersten. Alle
automatisierten Prozesse erleichtern mein Leben und geben mir Energie für die
übrigbleibenden Herausforderungen. Ich muss am Tag so viele neue Aufgaben
anpacken und bestehen, dass ich dafür Einiges an Energie benötige.
Es gibt aber auch Automatisierungen, die vielleicht nicht so hilfreich
sind. In der Begegnung mit Menschen laufen da oft Programme, die ich verändern
könnte. Da spricht jemand zu mir mit lauter Stimme und ich ducke mich sofort.
Da fragt jemand: „Wer war das?“ Und schon bekomme ich Schuldgefühle. Da sagt
der Marktverkäufer, dass er keinen Salat mehr hat und schon gerade ich in einen
panikartigen Zustand. Da plappere ich ein Gebet herunter und habe keine
Bewusstheit dafür, dass ich mich mit der göttlichen Quelle verbinde. Dabei
könnte ich doch die Qualität meines Lebens verbessern. Für einen Wimpernschlag
höre oder sehe ich bewusst und drücke nicht meinen Automatikknopf. Ich bleibe
für einen Moment bei mir und spüre in mich hinein. Was löst das gerade in mir
aus? Welcher Gedanke taucht auf? Wie fühlt sich das an? Was möchte ich jetzt
gerne tun? Dabei bleibe ich dabei, für den Moment nichts zu tun.
Der Wimpernschlag öffnet den Raum der Leere. Den Raum, in dem sich die
Geschichte neu schreiben lässt. Da kann schon ein Gefühl der Unsicherheit
entstehen. Ich höre jemandem zu und mache eine kleine Pause, bevor ich
reagiere.
Ich spüre vielleicht auch, dass da etwas in mir Fahrt aufnimmt und mich
antreibt. Unbedingt muss ich jetzt sofort etwas sagen. Sofort muss ich meine Geschichte
loswerden bevor ich sie vergesse oder sie nicht mehr passt. Sofort muss ich
deutlich machen, dass ich auch wichtig bin und interessante Geschichten erlebt
habe.
Während des Wimpernschlages kann ich mich fragen: Was ist das gerade in
mir, das mich da so antreibt. Das mich förmlich zwingt, sofort meine eigenen
Gedanken in den Raum werfen zu müssen. Wenn ich mich an meine Kindheit
zurückerinnere dann hatten wir als Kinder nichts zu sagen. Die Erwachsenen
haben sich unterhalten und wir waren nicht interessant. Es gab nur die
ständigen Erwachsenenfragen wie: „Wie alt bist du denn jetzt? In welche Klasse
gehst du?“ Fragen mit einer kurzen Antwort. Dann wirst du größer und denkst,
dass du auch mal dazwischen kommen möchtest. Die Zeit des langweiligen Zuhörens
beenden und auch durch das Erzählen deutlich machen, dass du der
Erwachsenenwelt angehörst.
Der Wimpernschlag hilft mir, kurz auszusteigen und bei mir zu sein und
dann wieder einzusteigen um beim anderen zu sein. Dieser kleine Moment fühlt
sich an wie eine Weichenstellung. Je nach dem, wie ich reagiere, dahin bewegt
sich mein Zug.
Wenn mir jemand etwas erzählt und ich komme sofort mit meiner
Geschichte, dann hänge ich den anderen ab, oder er wartet darauf, dass er noch
eine bessere Geschichte hat. Dann werden die nächsten Minuten zu einer
Kampfarena der interessantesten oder klügsten Beiträge. Oder ich setze eine
ganze Gruppe schachmatt, die nur noch darauf wartet, das Territorium verlassen
zu dürfen.
Ich kann aber mein Gegenüber auch anschauen und fragen, wie es ihm damit
ergangen ist und ob das Ganze immer noch wirkt. Und was an dem Erzählten ihn
besonders beeindruckt hat oder welche Fragen geblieben sind. Dann werde ich
spüren, wie der andere aufblüht und sich gemeint fühlt.
Schon während der andere spricht kannst du eine Entscheidung treffen. Du
trittst für einen Moment zurück und verzögerst deine Reaktion mit dem
Wimpernschlag. Du reagierst nicht automatisch.
Im Wimpernschlag wird dir zugleich bewusst, dass es in dir ein
steuerndes Ich gibt. Das „automatisierte“ Ich will ständig etwas. Möchte
beachtet werden. Spielt sich auf. Sucht Bestätigung. Befürchtet, nicht beachtet
zu werden. Reagiert ganz schnell in der Angst, sonst zu kurz zu kommen.
Das steuernde Ich im Hintergrund kann sich zurückhalten und Raum
schenken. Es ist nicht angewiesen auf Bestätigung. Es ruht wohlwollend in sich
und genießt es, einfach da zu sein. Manchmal werden wir angetriggert, quasi wie
angestochen. Wir geraten in einen Aufruhr, eine Art Anspannung. Wir wollen
einen Gedanken loswerden. Uns wichtig machen. Dann verschwindet das steuernde
Ich in den Hintergrund und wir werden unbewusst.
Der Wimpernschlag kann so etwas werden wie ein Signal bei der Ausfahrt
des Zuges aus dem Bahnhof. Wo möchte ich hin mit meinem Geist, mit meinen
Gefühlen und mit meinem Körper. Oder wie Viktor Frankl sagt: „Zwischen Reiz
und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer
Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Ich trete für einen Augenblick zurück und dann begebe ich mich wieder
hinein in das Geschehen. Wenn du das probierst wirst du feststellen, dass dich
das mit großer Freude erfüllen kann. Du nimmst dein Gegenüber besser wahr mit
einer höheren Wertschätzung und du nimmst dich selbst besser wahr in deinen
Bedürfnissen und Wünschen.
Bei der Erschaffung der Welt hielt Gott
nach jedem Schöpfungstag inne und besah sich sein Werk. Und siehe da, es gefiel
ihm sehr gut. Und das ist mein Wunsch für dich. Du betrachtest dich selbst und
kommst zu der gleichen Einschätzung. Du gefällst dir sehr gut!
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