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Dienstag, 18. April 2017

Wenn die Hose nicht mehr passt!




Ich habe einen Bericht gelesen über Janice Jakait, die mit einem Boot über den Atlantik gerudert ist. Sie erzählt, dass sie sich im Vorfeld ihrer Reise für jeden Tag ein Nahrungspaket zusammengestellt hatte, unter anderem auch mit Schokolade. Gegen die Eintönigkeit des Meeres viele verschiedene Sorten. Auf hoher See machte sie die überraschende Erfahrung, dass ihre Lieblingsschokoladen ihr nicht mehr schmeckten. Es „funktionierte“ nur noch Marzipan und Pfefferminz, die sonst nicht ihre Lieblingssorten waren.
Im Flieger gibt es ähnliche Erfahrungen.  Was am Boden lecker ist schmeckt in der Höhe überwürzt. Dinge, die uns über Jahre gut taten können wir auf einmal nicht mehr ertragen. Meistens finden wir eine gute Begründung, warum etwas nicht mehr so funktioniert wie sonst. Das Alter, die Geschmacksnerven, die Gesundheit, die sozialen Umstände... Jeder nimmt Im Alter zu und schrumpft ein wenig ein.
Das, was früher für einen langen Zeitraum stimmte und passte, verliert an Gültigkeit. Leider merken wir das nicht immer so schnell. Wir essen Dinge, die wir eigentlich nicht mehr mögen in der Hoffnung, dass die gute alte Zeit zurückkehrt. Wir tragen Hosen, die uns einengen und fahren an Urlaubsorte, wo wir uns schon lange nicht mehr erholen. Wir halten Kontakt zu Menschen, die uns nicht gut tun und leben mit den Stühlen und Tischdecken, die uns schon ewig nicht mehr gefallen. Wir kleben an dem Vergangenen und halten fest, was sich nicht wirklich halten lässt. Um es provokant zu sagen: Wir reiten tote Pferde und hoffen irgendwie, dass noch ein Rest von Leben drin ist.
Und das kostet uns Zeit und Energie. Der finnische Soziologe Risto Saarinen hat ein interessantes Modell entwickelt für die Entwicklung, den Werdegang und das Ende von Gruppen. Am Anfang gibt es eine große Vision eines einzelnen Menschen. Jesus hatte zum Beispiel die Vision vom Reich Gottes. Die Römer verschwinden, die Gerechtigkeit und Liebe in Israel sigen. Oder du selbst hattest vielleicht die Vision von einer Familie oder einer beruflichen Karriere. Wenn ein Mensch diese Vision entwickelt sucht er sich anschließend Menschen, die mit ihm diese Vision teilen. Allein lässt es sich schwer eine Familie oder eine Firma gründen. Jesus suchte sich dafür einen Freundeskreis aus. Du für deine Familiengründung einen Ehemann oder eine Ehefrau. Ein Autoerfinder würde sich  Schlosser und Ingenieure suchen. Zuerst kommt nach Saarinen also die Vision, dann eine Gemeinschaft. Als drittes Element stricken diese ein Programm, das sie umsetzen können. Jesus schrieb dafür die Bergpredigt, ein Firmengründer entwickelt einen Produktionsablauf, ein Ehepaar baut ein Haus und plant, wie groß diese Familie nun werden soll mit oder ohne Hund.
Als viertes Element kommt nach Saarinen die Administration hinzu. Je mehr die Vision Gestalt annimmt, je größer die Gruppe wird und die Programme laufen, desto wichtiger wird es, dass das Projekt auch einen festen und zuverlässigen Rahmen bekommt. Reichen die Finanzen? Hat jeder einen Platz in der Gruppe? Gibt es genügend Gewinne? Wer behält den Überblick über das ganze Unternehmen? In diesem Sinne gründete sich die Kirche mit ihrer Hierarchie und Verwaltung. Ein Ehepaar macht eine Budgetplanung für den Familienmonat und eine Firma erstellt Jahresbilanzen.
Auf dem Höhepunkt einer Gruppe gibt es eine starke Vision mit einer Gruppe, die zusammenhält. Gemeinsam entwickeln sie tolle Programme und durch eine gute Verwaltung läuft alles wie am Schnürchen. An dieser Stelle könnte das Märchen zu Ende gehen mit happy end. Und dann? Ja, dann denken alle, es würd ja gut so weiterlaufen. Warum auch nicht!
In der Regel verändert sich etwas im Laufe der Zeit. Die Vision verschwindet nach und nach. Sie wird im Laufe der Jahre kleiner. Die Familie existiert schon viele Jahre wie selbstverständlich. Aber die Anfangsliebe des Paares schleicht sich irgendwie langsam davon. Überprüfe das mal bei dir selbst. Wenn du in einer Beziehung lebst und für einen Moment zurückdenkst. Wie sah diese am Anfang aus und was ist heute draus geworden? Ich kenne manche Paare, die heute von sie sagen, sie seien eine „Eltern WG“. Was zusammenhält ist dann nicht mehr die Vision, also die Liebe, sondern gemeinsame die Gewohnheit oder die Verantwortung für die Kinder. Mangelnde Alternativen kommen noch hinzu. Bei der Kirche geht die Vision vom Reich Gottes verloren und man hangelt sich irgendwie durch das liturgische Jahr oder vom einen Papst zum nächsten. Eine Firma produziert zwar noch ihre Waren, aber die Grundidee verliert mehr und mehr an Strahlkraft. Autofirmen denken in neue und irgendwie zugleich alte Modelle, aber nicht daran, die Mobilität an sich neu zu erfinden.
Was geschieht jedoch, wenn die Vision kleiner und kleiner wird? Die Gruppe schrumpft! In Vereinen kann man es daran sehen, das die Mitgliedsbestände stagnieren oder zurückgehen. Menschen treten aus der Kirche aus. Firmen „verschlanken“ sich. In der Familie gibt es noch natürliche Gründe dadurch, dass die Kinder als Erwachsene ausziehen. Sie machen deutlich, dass Familie nur ein Projekt auf Zeit ist. Wenn die Gruppenmitglieder die Familie verlassen, ist das Projekt abgeschlossen.
In der nächsten „Sterbephase“ schrumpft auch das Programm. Ein Verein feiert nur noch runde Geburtstage und trifft sich zur Generalversammlung. Die Familie kommt nur noch an Weihnachten zusammen. In der Kirche lässt man sich immerhin noch christlich beerdigen.
Zum Schluss bleibt die Administration übrig. Eine Kirche kann gut ohne Vision, Gruppe und Programm leben solange sie Gelder verwalten kann. Bei einer Firmenpleite bleibt die Verwaltung übrig, um die Schulden oder das Restvermögen abzuwickeln. Bei einer Familie könnte es das Fotoalbum sein.
Jede Gruppe erlebt also eine Geburt mit einer Vision und den Tod mit einer aufgeblähten Verwaltung. Das ist sozusagen das Gesetz einer Gruppe. So funktioniert sie einfach. Und in diesen Etappen laufen auch unsere eigenen Prozesse und Lebensphasen ab.
Du begeisterst dich für eine Hose (Vision). Du kaufst sie und teilst deine Freude mit der Familie (Gruppe). Du ziehst sie zu Festen an (Programm) und legst sie an einem bestimmten Platz im Schrank (Administration). Du verlierst die Freude an deiner Hose nach und nach bis sie nur noch im Schrank verstaubt.
Ich finde es spannend, dass wir an so vielen Dingen kleben, die eigentlich tot sind. Wir lassen nicht los, sondern bewahren auf. Wir tun so, als hätte sich die Geschichte nicht weiterentwickelt. Wir lachen beim „dinner for one“ über Miss Sophie und ihren toten Kameraden und merken gar nicht, dass wir selbst auch mit lauter Gespenster zusammenleben. Nicht so überzogen, aber dennoch mit genügend toten Visionen.
Wäre es nicht besser, sich den Dingen zu stellen und in eine Veränderungsarbeit zu gehen? Die Hose passt nicht mehr. Ich werde sie nicht mehr anziehen. Sie kommt weg. Oder ich entscheide mich fürs Abnehmen und ziehe die Sache anschließend konsequent durch. Schluss mit dem Herumeiern. Oder wenn du keine Paprika mehr magst, dann lass sie halt weg. Es gibt genug Nahrungsmittel, mit denen du über die Runden kommst.
Regt sich bei dir der erste Protest? Hosen magst du ja einfach entsorgen. Kleiderstube oder verschenken! Aber was soll die Kirche machen, wenn nur die Verwaltung übrig ist.
Was wirst du machen, wenn du feststellst, dass deine Liebesbeziehung in einer WG gestrandet ist. Eine WG ist nicht schlecht. Alleinsein wäre schlimmer. Eine Kirche nur mit Verwaltung ist auch nicht schlecht. So haben einige doch immerhin einen festen Arbeitsplatz. Es wäre aber ein eher langweiliges Leben und es würde vorwiegend um das Aushalten gehen. Du darfst aber nicht an deine Visionen denken. An die Zeit, wo du noch schwer verliebt warst. Willst du den Geliebten über Bord werfen oder selber aussteigen? Manchmal wäre das sinnvoll.
Saarinen entwickelt eine andere Lösung. Belebe die Vision wieder neu! Oder schaffe dir neue Visionen, für die du leben möchtest. Du kannst also deinen Mann oder deine Frau anschauen und dich neu verlieben. Keine pubertierende Liebe mehr. Keine, die etwas besitzen oder einfordern will. Vielleicht eine reifere Form von Liebe. Augenblicke genießen. Dankbar sein. Zärtlichkeit teilen. Deine Phantasie ist gefragt.
Und auf spirituellem Gebiet? Jesus hatte ja eine Vision. Die bestand darin, dass wir alle zu Gott gehören und das verwirklichen dürfen. Dass wir selber göttlich sind. Dass wir den Reichtum von Liebe in uns leben und entfalten dürfen. Dass jeder Mensch auf dieser Welt total da sein darf. Fülle!
Programme und Administrationen fragen nicht nach Visionen Sie entwickeln ein Eigenleben und merken nicht, wie tot sie sind. Die Aufgabe besteht darin, diese Strukturen zu entlarven und mutig aufzubrechen. In meinem Verständnis liegt darin auch ein Teil von Ostern. Abgestorbenes erkennen und loslassen und die alten Visionen wiederzufinden oder für neue zu brennen. Das finde ich nicht leicht. Das Gewohnte ist zwar oft tot, fühlt sich aber sicherer an.  Manche Paare, die sich nur noch streiten oder anschweigen bleiben zusammen, weil sie nicht glauben, dass jeder für sich auch unabhängig existieren könnte. Wie sollten sie nach all den vielen Jahren das Leben bestehen so ganz allein?
Was wäre, wenn die Kirche die eigene Selbstauflösung beschließen würde? Denken könnte man es ja mal. Würde damit die christliche Kultur aussterben? Oder hätte sie die Chance zu einer neuen Blüte. Wer Visionen leben möchte, muss etwas wagen. Aber wir können auch unser Leben verwalten. Jeder hat es in seiner Hand.
Ich könnte manchmal mehr Mut gebrauchen, nicht mehr Stimmiges wirklich abzulegen. Manchmal schaffe ich es und spüre die Energie, die sich dadurch frei wird. Tote Pferde zu reiten ist nämlich mit der Zeit ganz schön anstrengend. Du denkst, dass das Pferd läuft, aber eigentlich schiebst du es mit deinen eigenen Kräften.
Eine österliche Perspektive wird mir auch klar. Der Tod vom Karfreitag und das Leben der Auferstehung liegen nah beieinander. Heute lebe ich und habe Möglichkeiten. Was morgen ist, weiß ich nicht. Aber heute lebe ich und kann mich heute für die Vision entscheiden. Und? Wo verwaltest du dein Leben und wo bist du mitten drin? Bist du nach dem Bewusstwerden mit allem einverstanden oder möchtest du was verschieben in die eine oder andere Richtung.
Schließe deine Augen und spüre dem nach, was deine Vision ausmacht. Welche „Bilder“ entstehen in dir? Was bereitet dir unbändige Freude? Wofür möchtest du gehen? Was willst du unbedingt noch erleben? Welches Projekt möchtest du auf jeden Fall noch anpacken? Wenn diese Bilder jetzt in dir entstehen bekommst du vielleicht einen Handlungsimpuls. Gleich öffnest du die Augen und stehst auf. Du lässt dich nicht abhalten und machst den ersten Schritt. Wenn sich diese Vision von deinem erneuerten Leben nun in dir ausbreitet und du dich entscheidest für den ersten Schritt, dann stehst du plötzlich mitten in einem Ostergarten. Da erlebst du gerade hautnah „Auferstehung!“
www.matthias-koenning.de 

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