Ich
habe einen Bericht gelesen über Janice Jakait, die mit einem Boot über den
Atlantik gerudert ist. Sie erzählt, dass sie sich im Vorfeld ihrer Reise für
jeden Tag ein Nahrungspaket zusammengestellt hatte, unter anderem auch mit
Schokolade. Gegen die Eintönigkeit des Meeres viele verschiedene Sorten. Auf
hoher See machte sie die überraschende Erfahrung, dass ihre Lieblingsschokoladen
ihr nicht mehr schmeckten. Es „funktionierte“ nur noch Marzipan und
Pfefferminz, die sonst nicht ihre Lieblingssorten waren.
Im
Flieger gibt es ähnliche Erfahrungen. Was
am Boden lecker ist schmeckt in der Höhe überwürzt. Dinge, die uns über Jahre
gut taten können wir auf einmal nicht mehr ertragen. Meistens finden wir eine
gute Begründung, warum etwas nicht mehr so funktioniert wie sonst. Das Alter,
die Geschmacksnerven, die Gesundheit, die sozialen Umstände... Jeder nimmt Im
Alter zu und schrumpft ein wenig ein.
Das,
was früher für einen langen Zeitraum stimmte und passte, verliert an
Gültigkeit. Leider merken wir das nicht immer so schnell. Wir essen Dinge, die
wir eigentlich nicht mehr mögen in der Hoffnung, dass die gute alte Zeit
zurückkehrt. Wir tragen Hosen, die uns einengen und fahren an Urlaubsorte, wo wir
uns schon lange nicht mehr erholen. Wir halten Kontakt zu Menschen, die uns
nicht gut tun und leben mit den Stühlen und Tischdecken, die uns schon ewig
nicht mehr gefallen. Wir kleben an dem Vergangenen und halten fest, was sich
nicht wirklich halten lässt. Um es provokant zu sagen: Wir reiten tote Pferde
und hoffen irgendwie, dass noch ein Rest von Leben drin ist.
Und
das kostet uns Zeit und Energie. Der finnische Soziologe Risto Saarinen hat ein
interessantes Modell entwickelt für die Entwicklung, den Werdegang und das Ende
von Gruppen. Am Anfang gibt es eine große Vision eines einzelnen Menschen.
Jesus hatte zum Beispiel die Vision vom Reich Gottes. Die Römer verschwinden,
die Gerechtigkeit und Liebe in Israel sigen. Oder du selbst hattest vielleicht
die Vision von einer Familie oder einer beruflichen Karriere. Wenn ein Mensch
diese Vision entwickelt sucht er sich anschließend Menschen, die mit ihm diese
Vision teilen. Allein lässt es sich schwer eine Familie oder eine Firma
gründen. Jesus suchte sich dafür einen Freundeskreis aus. Du für deine Familiengründung
einen Ehemann oder eine Ehefrau. Ein Autoerfinder würde sich Schlosser und Ingenieure suchen. Zuerst kommt nach
Saarinen also die Vision, dann eine Gemeinschaft. Als drittes Element stricken
diese ein Programm, das sie umsetzen können. Jesus schrieb dafür die
Bergpredigt, ein Firmengründer entwickelt einen Produktionsablauf, ein Ehepaar
baut ein Haus und plant, wie groß diese Familie nun werden soll mit oder ohne
Hund.
Als
viertes Element kommt nach Saarinen die Administration hinzu. Je mehr die
Vision Gestalt annimmt, je größer die Gruppe wird und die Programme laufen,
desto wichtiger wird es, dass das Projekt auch einen festen und zuverlässigen
Rahmen bekommt. Reichen die Finanzen? Hat jeder einen Platz in der Gruppe? Gibt
es genügend Gewinne? Wer behält den Überblick über das ganze Unternehmen? In
diesem Sinne gründete sich die Kirche mit ihrer Hierarchie und Verwaltung. Ein
Ehepaar macht eine Budgetplanung für den Familienmonat und eine Firma erstellt Jahresbilanzen.
Auf
dem Höhepunkt einer Gruppe gibt es eine starke Vision mit einer Gruppe, die
zusammenhält. Gemeinsam entwickeln sie tolle Programme und durch eine gute
Verwaltung läuft alles wie am Schnürchen. An dieser Stelle könnte das Märchen
zu Ende gehen mit happy end. Und dann? Ja, dann denken alle, es würd ja gut so
weiterlaufen. Warum auch nicht!
In
der Regel verändert sich etwas im Laufe der Zeit. Die Vision verschwindet nach
und nach. Sie wird im Laufe der Jahre kleiner. Die Familie existiert schon
viele Jahre wie selbstverständlich. Aber die Anfangsliebe des Paares schleicht
sich irgendwie langsam davon. Überprüfe das mal bei dir selbst. Wenn du in
einer Beziehung lebst und für einen Moment zurückdenkst. Wie sah diese am
Anfang aus und was ist heute draus geworden? Ich kenne manche Paare, die heute
von sie sagen, sie seien eine „Eltern WG“. Was zusammenhält ist dann nicht mehr
die Vision, also die Liebe, sondern gemeinsame die Gewohnheit oder die
Verantwortung für die Kinder. Mangelnde Alternativen kommen noch hinzu. Bei der
Kirche geht die Vision vom Reich Gottes verloren und man hangelt sich irgendwie
durch das liturgische Jahr oder vom einen Papst zum nächsten. Eine Firma
produziert zwar noch ihre Waren, aber die Grundidee verliert mehr und mehr an
Strahlkraft. Autofirmen denken in neue und irgendwie zugleich alte Modelle,
aber nicht daran, die Mobilität an sich neu zu erfinden.
Was
geschieht jedoch, wenn die Vision kleiner und kleiner wird? Die Gruppe
schrumpft! In Vereinen kann man es daran sehen, das die Mitgliedsbestände stagnieren
oder zurückgehen. Menschen treten aus der Kirche aus. Firmen „verschlanken“ sich.
In der Familie gibt es noch natürliche Gründe dadurch, dass die Kinder als
Erwachsene ausziehen. Sie machen deutlich, dass Familie nur ein Projekt auf
Zeit ist. Wenn die Gruppenmitglieder die Familie verlassen, ist das Projekt abgeschlossen.
In
der nächsten „Sterbephase“ schrumpft auch das Programm. Ein Verein feiert nur
noch runde Geburtstage und trifft sich zur Generalversammlung. Die Familie
kommt nur noch an Weihnachten zusammen. In der Kirche lässt man sich immerhin
noch christlich beerdigen.
Zum
Schluss bleibt die Administration übrig. Eine Kirche kann gut ohne Vision,
Gruppe und Programm leben solange sie Gelder verwalten kann. Bei einer
Firmenpleite bleibt die Verwaltung übrig, um die Schulden oder das Restvermögen
abzuwickeln. Bei einer Familie könnte es das Fotoalbum sein.
Jede
Gruppe erlebt also eine Geburt mit einer Vision und den Tod mit einer
aufgeblähten Verwaltung. Das ist sozusagen das Gesetz einer Gruppe. So
funktioniert sie einfach. Und in diesen Etappen laufen auch unsere eigenen
Prozesse und Lebensphasen ab.
Du
begeisterst dich für eine Hose (Vision). Du kaufst sie und teilst deine Freude
mit der Familie (Gruppe). Du ziehst sie zu Festen an (Programm) und legst sie
an einem bestimmten Platz im Schrank (Administration). Du verlierst die Freude
an deiner Hose nach und nach bis sie nur noch im Schrank verstaubt.
Ich
finde es spannend, dass wir an so vielen Dingen kleben, die eigentlich tot
sind. Wir lassen nicht los, sondern bewahren auf. Wir tun so, als hätte sich
die Geschichte nicht weiterentwickelt. Wir lachen beim „dinner for one“ über
Miss Sophie und ihren toten Kameraden und merken gar nicht, dass wir selbst auch
mit lauter Gespenster zusammenleben. Nicht so überzogen, aber dennoch mit
genügend toten Visionen.
Wäre
es nicht besser, sich den Dingen zu stellen und in eine Veränderungsarbeit zu
gehen? Die Hose passt nicht mehr. Ich werde sie nicht mehr anziehen. Sie kommt
weg. Oder ich entscheide mich fürs Abnehmen und ziehe die Sache anschließend
konsequent durch. Schluss mit dem Herumeiern. Oder wenn du keine Paprika mehr
magst, dann lass sie halt weg. Es gibt genug Nahrungsmittel, mit denen du über die
Runden kommst.
Regt
sich bei dir der erste Protest? Hosen magst du ja einfach entsorgen.
Kleiderstube oder verschenken! Aber was soll die Kirche machen, wenn nur die Verwaltung
übrig ist.
Was
wirst du machen, wenn du feststellst, dass deine Liebesbeziehung in einer WG gestrandet
ist. Eine WG ist nicht schlecht. Alleinsein wäre schlimmer. Eine Kirche nur mit
Verwaltung ist auch nicht schlecht. So haben einige doch immerhin einen festen
Arbeitsplatz. Es wäre aber ein eher langweiliges Leben und es würde vorwiegend
um das Aushalten gehen. Du darfst aber nicht an deine Visionen denken. An die
Zeit, wo du noch schwer verliebt warst. Willst du den Geliebten über Bord
werfen oder selber aussteigen? Manchmal wäre das sinnvoll.
Saarinen
entwickelt eine andere Lösung. Belebe die Vision wieder neu! Oder schaffe dir
neue Visionen, für die du leben möchtest. Du kannst also deinen Mann oder deine
Frau anschauen und dich neu verlieben. Keine pubertierende Liebe mehr. Keine,
die etwas besitzen oder einfordern will. Vielleicht eine reifere Form von
Liebe. Augenblicke genießen. Dankbar sein. Zärtlichkeit teilen. Deine Phantasie
ist gefragt.
Und
auf spirituellem Gebiet? Jesus hatte ja eine Vision. Die bestand darin, dass
wir alle zu Gott gehören und das verwirklichen dürfen. Dass wir selber göttlich
sind. Dass wir den Reichtum von Liebe in uns leben und entfalten dürfen. Dass
jeder Mensch auf dieser Welt total da sein darf. Fülle!
Programme
und Administrationen fragen nicht nach Visionen Sie entwickeln ein Eigenleben
und merken nicht, wie tot sie sind. Die Aufgabe besteht darin, diese Strukturen
zu entlarven und mutig aufzubrechen. In meinem Verständnis liegt darin auch ein
Teil von Ostern. Abgestorbenes erkennen und loslassen und die alten Visionen
wiederzufinden oder für neue zu brennen. Das finde ich nicht leicht. Das Gewohnte
ist zwar oft tot, fühlt sich aber sicherer an. Manche Paare, die sich nur noch streiten oder
anschweigen bleiben zusammen, weil sie nicht glauben, dass jeder für sich auch
unabhängig existieren könnte. Wie sollten sie nach all den vielen Jahren das
Leben bestehen so ganz allein?
Was
wäre, wenn die Kirche die eigene Selbstauflösung beschließen würde? Denken
könnte man es ja mal. Würde damit die christliche Kultur aussterben? Oder hätte
sie die Chance zu einer neuen Blüte. Wer Visionen leben möchte, muss etwas
wagen. Aber wir können auch unser Leben verwalten. Jeder hat es in seiner Hand.
Ich
könnte manchmal mehr Mut gebrauchen, nicht mehr Stimmiges wirklich abzulegen.
Manchmal schaffe ich es und spüre die Energie, die sich dadurch frei wird. Tote
Pferde zu reiten ist nämlich mit der Zeit ganz schön anstrengend. Du denkst,
dass das Pferd läuft, aber eigentlich schiebst du es mit deinen eigenen Kräften.
Eine
österliche Perspektive wird mir auch klar. Der Tod vom Karfreitag und das Leben
der Auferstehung liegen nah beieinander. Heute lebe ich und habe Möglichkeiten.
Was morgen ist, weiß ich nicht. Aber heute lebe ich und kann mich heute für die
Vision entscheiden. Und? Wo verwaltest du dein Leben und wo bist du mitten
drin? Bist du nach dem Bewusstwerden mit allem einverstanden oder möchtest du
was verschieben in die eine oder andere Richtung.
Schließe deine
Augen und spüre dem nach, was deine Vision ausmacht. Welche „Bilder“ entstehen
in dir? Was bereitet dir unbändige Freude? Wofür möchtest du gehen? Was willst
du unbedingt noch erleben? Welches Projekt möchtest du auf jeden Fall noch anpacken?
Wenn diese Bilder jetzt in dir entstehen bekommst du vielleicht einen Handlungsimpuls.
Gleich öffnest du die Augen und stehst auf. Du lässt dich nicht abhalten und
machst den ersten Schritt. Wenn sich diese Vision von deinem erneuerten Leben
nun in dir ausbreitet und du dich entscheidest für den ersten Schritt, dann
stehst du plötzlich mitten in einem Ostergarten. Da erlebst du gerade hautnah
„Auferstehung!“
www.matthias-koenning.de
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