Auf den ersten Blick hat die Zeit des
Fastens so einen strengen und ernsthaften Charakter. Du kommst gerade von den
noch nicht erfüllten Vorsätzen zu Beginn des neuen Jahres hin zu den neuen
Vorsätzen der Fastenzeit. Du beginnst mit einer gewissenhaften Plänen von
gewisser Schwere das neue Jahr, machst eine kleine karnevalistische Pause und
gehst dann zielstrebig, planvoll, angestrengt, strukturiert, moralisch
hochwertig, sinnerneuernd und spirituell vertiefend in eine vierzigtägige Buß-
und Fastenzeit. Verlockend finde ich das nicht gerade.
Ich las vor kurzem einen inspirierenden
Satz von dem Schriftsteller Franz Hessel: „Hierzulande muss man müssen, sonst
darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für
unsereinen.“
Der Titel des dazugehörigen Buches
lautet in epischer Breite: „Spazieren in Berlin: Ein Lehrbuch der Kunst in
Berlin spazieren zu gehen ganz nah dem Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum
weiß.“
Die Idee des Flanierens hat Hessel dabei
aus seinen Pariser Jahren (1906-1914)
mitgebracht. Flanieren bedeutet: Entspannt zu bummeln. Müßig umher-, oder auf-
und ab zu schlendern ohne Ziel!
„Man muss müssen wenn man nicht dürfen
darf“, hieß die Variation im Radio. Bei diesem Satz blieb ich einfach gedanklich
stehen. Mir ist das „Dürfen“ nicht so vertraut. Das „Müssen“ kenne ich sehr
gut, auch wenn ich es eigentlich nicht will. Mein Leben fühlt sich so
zielgerichtet an. Ich habe meinen Tag gut strukturiert. Ich gehe regelmäßig zur
Arbeit und komme selten zu spät. Wenn ich zu spät komme bleibe ich zum
Ausgleich auch länger. Ich habe Einkauf, Müllentsorgung und sonstigen Haushalt
treu und zuverlässig im Blick. Die Staubecken vielleicht nicht, dafür aber die
Bügelwäsche. Ich schreibe regelmäßig meinen Newsletter und bediene treu meine
anerzogenen Anteile von Zuverlässigkeit und christlicher Tugend.
Da kommt mir auf einmal so ein
ketzerischer Gedanke: „Brauche ich eigentlich noch die Fastenzeit? Noch bewusster
ernähren? Noch liebevoller sein? Noch nicht genug? Noch mehr müssen?“ Immer
scheint es nicht genug zu sein! Ich höre von der Idee, dass die Fastenzeit eine
Zeit ist, in der du bewusst mit dir umgehst. Außerhalb nicht? Wenn du das ganze
Jahr hindurch achtsam und liebevoll mit dir und mit den anderen umgehst, wann
machst du mal eine Pause davon? Wann ruhst du dich aus?
„Man muss müssen wenn man nicht dürfen
darf.“ Ich stelle mir vor, dass ich heiter und beschwingt durch die Fastenzeit
flaniere. Ich spüre auf einmal eine Art Leichtigkeit und Entlastung im Körper,
im Geist und in der Seele! Ich schaue mal hier und mal da hin. Ich verweile und
gehe dann weiter. Ich nehme wahr, wie ich laufe. Dass ich laufe. Mal bedächtig
und dann vielleicht noch bedächtiger. Aber vor allem ohne Müssen. Ich setze
mich hin und beobachte das Treiben um mich herum. Ich sehe all die Menschen mit
einem „Wohin“ in ihrer Zielgerichtetheit und bleibe beim „Wo“. Wo bin ich jetzt
gerade?
Wer bin ich, wenn ich nichts tue? Wenn
ich ganz aus der Anstrengung herausgehe. Wenn ich nur darf und überhaupt nicht
mehr muss. Ich lasse es vollkommen zu, dass ich für einen Moment nur sterben
muss, aber sonst nichts. Ich muss mich nicht um meine Familie kümmern, nicht um
meine Arbeit, nicht um meine religiösen Ansprüche, nicht um Gebote oder
Verbote. Ich kümmere mich nicht um die Glaubenssätze aus meiner Kindheit die da
lauten: „Du kannst nichts richtig machen.“ – „Mit dir stimmt was nicht.“ – „Du
bist nicht wichtig.“ – „Du bist schuldig.“ – „Du bist falsch.“ Ich kümmere mich
auch nicht um Sätze wie: „Wenn du das nicht machst dann...“ – „Wenn ich nur
nicht so einsam wäre...“ Ich lasse auch Verzweiflung, Isolation, Scham,
Ohnmacht, Zurückweisung, Selbstverachtung gar nicht an mich herankommen. Wenn
ich dieses Geschäft „ernsthaft“ betreibe komme ich mir gleich fremd vor. Die
„Müssenkleider“ passen mir so gut und sind mir so vertraut. Sie sitzen
schlecht, passen nicht und sehen auch nicht gut aus. Aber sie sind vertraut!
Für einen Moment lasse ich das Andere
zu. Ich bin ein Flaneur des Lebens! Ich mäandere hin und her und schaffe mir
einen virtuellen Spazierstock an mit silbernem Knauf. Ich lasse mich durch die inneren Straßen meines
Lebens treiben und verweile mal hier und verweile mal da. Ich vermeide jeden
Hauch von Anstrengung und mache um jedes „Müssen“ einen großen Bogen. Um Jedes!
Um jedes Müssen doch wohl nicht, dann die Vermeidung von Müssen könnte ja auch
wieder ein „Muss“ werden. Also kein: „Ich muss das Müssen unbedingt verhindern.“
Da lese ich im Matthäusevangelium: „Wenn
ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler. Sie geben sich ein
trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, das sage
ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber salbe dein Haar, wenn
du fastest, und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du
fastest, sondern nur dein Vater, der auch das Verborgene sieht; und dein Vater,
der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“ (Mt 6,6-18)
In mir taucht der Verdacht auf, dass
Jesus auch ein Flaneur war. „Wasch dein Gesicht und salbe dein Haar!“ Mach dich
also schön! Entspanne dich! Befreie dich vom Trübsinn.
Da hat er mich doch kalt erwischt. Zwar
bin ich nicht trübsinnig aber manchmal nah dran. Wenn ich zu viel mache. Wenn
ich zu sehr in die Anstrengung gehe. Wenn ich alles richtig machen will. Wenn
ich immer ernst und gedankentief sein möchte. Ich gestehe da meine Armut ein,
dass ich nicht wirklich flanieren kann. Also – durch die Fastenzeit zu
flanieren ist für mich eine große Herausforderung.
Dabei werde ich nach diesem Leben in der
Ewigkeit vermutlich nur noch flanieren. Ich werde heiter und beschwingt bummeln
von Seele zu Seele und hier und da verweilen wo es mir gefällt.
Der Gedanke von Franz Wessel ist hundert
Jahre alt und aktueller denn je. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man
nicht.“ „Hierzulande“ heißt bundesweit! Meine Nachbarn, meine Familie, die
Politiker, die Händler und alle anderen auch. Es gibt keine „Müssensfreie
Räume!“
Mir kommt da eine Idee, eine mögliche
Fastenidee! Nimm doch mal ein Blatt Papier und einen Stift. Dann unterteilst du
das Blatt in zwei Spalten. In die linke Spalte schreibst du: „Das muss ich
machen...“ In die linke Spalte schreibst du: „Das darf ich sein.“ Dann
schreibst du auf, was dir dazu einfällt. Dabei beobachte dich aber zugleich,
welche Gefühle während des Schreibens entstehen. Welche Spalte geht dir
leichter von der Hand? Welche verborgenen Instanzen stecken hinter dem
„Müssen?“ Welche Autoritäten aus Kinderzeiten sprechen da zu dir? Wie hast du
dich weiter entwickelt? Magst du dir neue Erlaubnisse erteilen jenseits deiner
Erziehung? Kannst du durch die Fastenzeit flanieren ohne dass da eine innere
Stimme sich meldet, die da sagt: „Das geht aber nicht! Wenigstens ein kleines
Ziel solltest du dir vornehmen!“
Flanieren durch die Fastenzeit würde für
mich heißen: Ich gehe in die große Erlaubnis, einfach da zu sein. Und die
erteile ich mir selbst. Ich beobachte mein geschäftiges Tun von außen und
lächle mir wohlwollend zu. Ich halte einfach inne und bin zweckfrei da. Ich
schaue aus dem Fenster und lehne mich zurück. Dabei halte ich mich an das, was
Jesus im Evangelium sagt. Das alles mache ich völlig im Verborgenen! Ich
spreche mit niemandem darüber. Das wird sich alles in meinem Herzen abspielen.
In meinem Herzen werde ich verborgen durch die Fastenzeit flanieren und mich
wie ein Engel fühlen. Engel können fliegen weil sie das Leben leicht nehmen.
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