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Sonntag, 19. Juli 2015

Die Kunst, Lakritzschnecken zu vermehren



Du sitzt im Eiscafé und bestellst dir ein Eis. Allein die Vorstellung erfüllt dein Herz und deine Seele. Du freust dich und das Wasser läuft dir im Munde zusammen. Du siehst das Bild auf der Eiskarte und weißt, gleich ist es so weit. Die nette Kellnerin bringt dir dein Eis in einem tollen Becher, wunderbar dekoriert mit einer Waffel, köstlicher Sauce und einem langen Löffel.
Dann steht das Eis vor dir und du nimmst den Löffel in die Hand. Du entscheidest dich für eine ganz bestimmte Stelle deines Bechers. Du nimmst so viel, wie du nehmen möchtest und führst den Löffel zum Mund. Du weißt, was geschieht, sobald deine Zunge in Kontakt kommt mit diesem ersten Löffel Eis. Dein ganzer Körper reagiert. Er explodiert förmlich! Du schüttelst dich vor Freude. Köstlich! Einfach köstlich! Du wanderst schlemmend durch deinen Becher und entdeckst die verschiedenen Nuancen und Kompositionen von Geschmäckern. Köstlich! Immer wieder!
Du arbeitest dich zum Boden des Bechers durch und dir geht ein Gedanke durch den Kopf. Gleich ist es vorbei. Gleich ist der Becher leer. Schade! Aber jetzt darf ich noch genießen! Noch sind ein paar Löffel Eis vorhanden. Dann kommt der Zeitpunkt des letzten Löffels und du musst dich verabschieden. Aus und vorbei! Vielleicht freust du dich auf das nächste Eis. Leider musst du ein Eis zügig essen, sonst ist es kein Eis mehr. Eis essen folgt einem eigenen Gesetz.
Warum erzähle ich dir diese Geschichte und mache deinen Mund wässrig? Ich komme jetzt zum nächsten Schritt. Stell dir vor, du könntest das Eisessen irgendwie ausdehnen, verlängern. Die Augenblicke des Genießens strecken! Aber dein Eis sagt dir deutlich. Diese Menge ist da. Mehr nicht und dann aus und vorbei.
Lässt sich Vergnügen dehnen oder vermehren. Steckt in uns allen ein kleiner Brotvermehrer wie bei jesus in der Wüste? Klar! Auf jeden Fall! Vor ein paar Tagen hörte ich ein Interview im Radio. Da ging es bei einer Kindersendung darum, welche Süßigkeiten sie mögen und welche nicht. Wie kann man als Kind lernen, dass Paprika toll ist? Welche Strategien entwickeln Kinder sich bestimmten Nahrungsmitteln zu nähern. War interessant.
Ich wurde hellhörig, als ein Mädchen erzählte, wie es mit Lakritzschnecken umging. Das katapultierte mich sofort zurück in meine Kindheit. Es ging dem Mädchen darum, möglichst viel von diesem Genuss zu haben. Wie sprengt man die Grenzen, wie dehnt man das Vergnügen aus? Wie erreicht man sozusagen eine wunderbare Lakritzschneckenvermehrung?
Das Mädchen erzählte, dass es die Schnecke erst einmal abrolle. Dann würde die Schnecke der Länge nach geteilt und so ergäben sich automatisch schon mal zwei. Eine Schnecke misst der Länge nach ca. 60 cm. Eine zweigeteilte Schnecke bringt es dann auf 1,20 Meter.
Im ersten Schritt verdoppelst durch die Schnecke durch Teilen. Dann dehnst du langsam den Lakritz auf 2,40 Meter. Anschließend beißt du ab und kaust so lange auf diesem Stück, bis du allen Geschmack ausgepresst hast. Der Rest der Schnecke kommt zurück in die Tüte. Du wartest ein paar Minuten und achtest auf dein Verlangen. Du hast Vergnügen an diesem Verlangen und erst dann, wenn du es nicht mehr aushältst, beißt du wieder ein Stück Schnecke ab. So machst du aus einem eigentlich kurzen Vergnügen ein Spiel der Fülle.
Die Schnecke selbst gibt ja schon das Thema vor. Du folgst ihrem Gesetz. Du verlangsamst. Du dehnst aus! Du vermehrst natürlich nicht das Gewicht einer Lakritzschnecke, aber du machst dennoch mehr daraus.
Das Mädchen erinnerte mich an Salmiakpastillen. Als Kinder haben wir sie zusammengefügt zu einem Stern und auf die Hand geklebt. Sah toll aus! Dann konnten wir daran schlecken und behielten den Geschmack im Mund und hatten etwas davon für  eine lange Zeit.
Und das ist aus diesen Gedanken abgeleitet mein Wunsch für die Urlaubszeit. Das Tempo herausnehmen! Dehnen und genießen! Die Bilder im amerikanischen Spielfilm laufen mir zu schnell. Manche Familien streiten sich in einem Tempo, dass ich nicht folgen kann. Wer hat da gerade was gesagt? Wer macht was wann dann? In der Beratung hänge ich noch ganz zuhörend bei dem traurigen Sohn, da springen die Eltern schon zum nächsten Thema. Halt Stopp, ich komme nicht mehr mit!
Das Internet wird schneller. Ich kann überall und zu jeder Zeit surfen, chatten, telefonieren, simsen und mailen. Zeitgleich arbeite ich einen Vortrag aus. Und am Ende weiß ich nicht mehr wo ich bin und vor allem wer ich bin. Wer ist diese Person, die da gerade sitzt und im ICE Tempo durch das Leben rast?
Dann halte ich diese Schnecke in der Hand und rieche Lakritz. Ich löse vorsichtig ein Ende und rolle langsam ab. Ich passe auf, den Doppelfaden dabei nicht zu zerstören. Die Schnecke löst sich auf und verwandelt sich in eine lange Kordel. Ich erinnere mich an Charly Chaplin, der in einem Spielfilm als armer Held ein Schuhband aß. Ich habe mal gelesen, dass dieser Schnürsenkel aus Lakritz bestand.
Im Abwickeln der Schnecke sehe ich meinen eigenen Lebensfaden. Das, was sich da so zusammenstaucht, bekommt auf einmal Raum und weitet sich aus. Ich sehe Abschnitt für Abschnitt. Da gibt es die Abrisse im Leben. Das, was nicht so glatt war. Ich rolle weiter und komme zum Zentrum und ... es löst sich auf. Ja, alles im Leben löst sich auf. Die Blume in der Vase wird irgendwann zu Humus. Aus meinem Eis bekomme ich Energie für die nächsten Augenblicke.
Jetzt beginne ich zu teilen. Wie schön, Zeit zu haben und sich mitzuteilen. Dass es zwei Hälften gibt! Eine für mich und eine für dich! Es reicht für mich und es reicht für viele. Ich kann eine wunderbare Schneckenvermehrung initiieren. Für wie viele Menschen würde eine Schnecke reichen? Ich tippe mal auf 200!
Ich werde immer langsamer und überlege, welchen Menschen ich ein Stück Schnecke schenken könnte. Es fallen mir viele ein und ich muss mein Stück Lakritz dehnen. Ich mache es langsam, im Tempo der Schnecke.
Zugleich stelle ich fest: Das bin ja gar nicht ich! Ich bin keine Schnecke! Ich bin schnell! Ich bin superschnell! Ich bin ein Wusel! Ich lebe auf der Überholspur. Entschleunigen bedeutet für mich harte Arbeit. Das mit dem Lakritz dehnen ist wohl eher was für Kinder.
Und dennoch! Ich komme immer wieder zurück zur Schnecke. Ich meditiere. Ich sitze auf meinem Stuhl in der Sonne und mache...nichts. Ich schaue den Vögeln zu und wenn keine da sind den Bäumen. Und wenn keine Bäume da sind nehme ich wahr, wie ich einfach ein Sehender und Hörender bin und  beobachte mich, ob ich da bin. 
Wenn ich mit dem Leben rausche dann bleibt dafür keine Zeit. da besteht eine große Gefahr. Ich verliere mich! Ich bleibe auf der Strecke bei dem Vielen, was da ist. An Eindrücken, Bildern, Gesprächen, Aufgaben, Menschen, Dingen, Terminen...
Ich lese im Markusevangelium (6,31): Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus. Wahrscheinlich kannte Jesus das Geheimnis der Lakritzschnecke. Einen Schritt zurücktreten, eine Außenposition einnehmen, das Tempo verlangsamen, etwas scheinbar völlig Unproduktives und Sinnloses tun. Pause vom Heilen, Wunder wirken und predigen.
Lakritzschnecken im übertragenen Sinne zu dehnen ist eine wirkliche Kunst. Die Urlaubszeit lädt dich ein, dich in dieser Kunst zu üben. Mach es mit Freude und mit Neugier. Wie geduldig und behutsam kannst du die Schnecke ausdehnen? Wie lange kannst du dich mit ihr beschäftigen ohne dass etwas Neues kommen muss? Im Vorgang des Dehnens könnte etwas in deinem Inneren geschehen. Virtuell schenke ich dir eine Lakritzschnecke oder fünf Salmiakpastillen und wünsche dir, dass Körper, Geist und Seele sich erholen. Wenn du dir weggelaufen bist, dann gib dir Zeit, dass du dich wieder einholen kannst damit es zum „Erholen“ kommt! Eine freundliche Zeit mit dir!

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