Vor einiger Zeit sprang
mein Auto nicht an und ich musste mit dem Zug zur Arbeit nach Münster fahren.
Mit dem Auto wären es nur 45 Minuten gewesen. Mit Fahrrad, Bahn und Bus
benötige ich 1,5 Stunden. Ich stehe am Bahnsteig. Der Zug verspätet sich. Ich
warte zehn Minuten. In Hamm koppeln sich zwei Züge aneinander und ich sitze
dort und warte wieder zehn Minuten. In Münster stehe ich am Busbahnhof und
warte noch einmal zehn Minuten. So kommen dreißig Minuten Wartezeit zusammen.
Lauter tote Zeiten!
Ich warte vor
meiner Kaffeekanne bis das Wasser kocht. Manchmal kann ich etwas parallel in
der Küche machen. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und rechne die toten
Minuten des Tages zusammen. Minuten, wo ich warte. Minuten, wo nichts passiert.
Sinnentleerte Minuten. Minuten, die sich unheimlich dehnen. Ich höre einer
Predigt zu, die nur zehn Minuten dauert, sich aber wie eine Stunde anfühlt. Ich
stehe beim Bäcker oder an der Kasse im Supermarkt und ich sehe die kostbaren
Minuten meines Tages dahinfließen.
Ich lese ein paar
Artikel aus dem Bereich von Zeitmanagement und erfahre, dass ich tote Zeiten
auch nutzen kann. Emails schreiben an der Supermarktkasse. Im Zug meditieren.
Statt in Stunden denken, lieber den Tag in Viertelstunden aufteilen. Also tote
Zeiten vermeiden oder irgendwie sinnvoll nutzen mit kleinen Dingen.
Und dann kommen
dennoch die toten Zeiten. Ich sitze im Wartezimmer beim Arzt und mag weder
lesen noch meditieren. Gespräche führen mit den anderen Patienten finde ich
auch nicht so spannend. Ich schlage buchstäblich die Zeit tot. Ich sitze mit
meiner „Zeitklatsche“ da und schlage Minute um Minute tot. Ich komme einfach
nicht dran. Immerhin kann ich die Zeit totschlagen.
Tote Zeiten? Ich
sitze da und lese für meine Tätigkeit ein Buch oder einen Aufsatz. Der Text
langweilt mich. „Es langweilt mich zu Tode“, sagen wir ja manchmal. Bei einer
Fernsehsendung, einem Kinofilm oder einer Konferenz. Dann sitzen wir da und
machen etwas, aber es fühlt sich sinnlos an. Wenn eine Tagung wirklich einen ganzen
Tag dauert halte ich am Abend Rückschau und denke: „Das hätte ich mir schenken
können.“ Tote Zeit! Oder du liest jetzt meinen Text und denkst: „Frustrierend!
Kenne ich schon! Nicht besonders interessant!“ Du ärgerst dich, dass du die
Zeit verplempert hast.
Toten Zeiten! Wir
gehen in den Supermarkt und das Sonderangebot ist schon ausverkauft. Umsonst
gelaufen. Du holst den Kuchen aus dem Backofen, der dir so viel Zeit gekostet
hat und er ist verbrannt. Stundenlang stehst du am Herd für dein wunderbares Rezept
und die Familie mault.
Noch mehr tote
Zeiten? Du könntest ja mal Bilanz ziehen im Rückblick auf dein gesamtes Leben.
Sprachen, die du gelernt hast und nicht anwendest. Kurse, die du besucht hast
und wovon du nichts umsetzt. Freundschaften, die du pflegst, obwohl sie schon
lange „tot“ sind. Auf wie viele tote Jahre kommst du?
Woher kommt
eigentlich unsere Vorstellung, dass wir unsere Zeit sinnvoll nutzen sollten.
Jede Minute an jedem Tag in jedem Jahr und ein ganzes Leben lang! Carpe diem!
Da stimmt doch was nicht! An meinem Denken und an meiner Einstellung.
Ich sehe überall
Uhren und Kalender. Ich trage dort meine Arbeitszeiten ein. Meinen Urlaub und
meine Begegnungen. Im Smartphone, im PC und auf dem Papier.
Ich werde geboren
an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Jahr und nehme ab dann teil am
Erdenleben. Es kommt die Minute und der Tag, an dem ich diese Erde wieder
verlasse. Die Zeit begleitet mich nicht nur, sondern sie gibt den Takt vor.
Nicht bewusst in den ersten Jahren meines Lebens. Als Baby habe ich völlig
unabhängig vom Wochentag geschrien. Da kannte ich die Zeit noch nicht. Aber
irgendwann brachten meine Eltern mir bei, wie ich eine Uhr lesen muss und dass
es wichtig ist, pünktlich zu sein und sich die Zeit gut einzuteilen. Denn die Zeit
ist Geld und die Zeit ist begrenzt.
Als kleines Kind
hatte ich noch gedacht, dass ich einfach frei bin. Ich spielte, ich aß, ich
schlief. Ich war Teil einer Familie. Bedürfnisse wurden erfüllt oder auch
nicht. Dasein in der totalen Gegenwart.
Doch jetzt bin
ich ein Wesen, dass einem Kalender und einer Uhr folgt. Die Uhr und der
Kalender weisen mich hin auf tote Zeiten. „Mach mehr aus deinem Leben! Hol
raus, was du rausholen kannst. Du weißt nicht, ob du morgen noch eine
Möglichkeit hast!“
Ich sitze jetzt
vor meiner Uhr und schaue sie an. Da laufen Sekunden-, Minuten-, und der
Stundenzeiger und versetzen mich in einen Trancezustand. Und jetzt erzähle ich
dir, was die Uhr zu mir gesprochen hat. Und wenn du dein Leben so ahnungslos
wie bislang weiterführen möchtest dann liest du ab jetzt auf keinen Fall mehr
weiter. Es wäre nicht gut für dich! Wenn du weiterliest, gehst du ein Risiko
ein. Also überleg es dir gut! Folgendes hat die Uhr mir zugeflüstert:
„Du erlebst tote Zeiten? Gut, dass du sie erlebst. Spürst
du den Druck? Du solltest ein sinnvolles Leben führen? Die Zeit ausnutzen?
Etwas aus dir machen? Wenn du diesen Druck spürst dann habe ich erreicht, was
ich wollte. Ich sage es dir kurz und knapp.
Ich bin die Herrin und du mein Sklave. Es ist doch
so, dass du mir gehorchst, nicht wahr? Du stellst mich am Abend ein, damit ich
dich am Morgen wecke. Und brav stehst du auf. Du kochst dir den Kaffee und
frühstückst mit dem Blick auf mich. Ich stehe an deinem Bett, hänge an deiner
Wohnzimmerwand, habe einen Platz an deinem Arm und auf deinem Smartphone.
Frühstücke nur, aber behalte mich im Blick. Oder auch nicht. Du kannst mir
sowieso nicht ausweichen. Ich klebe wie ein Parasit in deinen Zellen. Du wirst
mich nicht los!
Ich arbeite übrigens für deinen Arbeitgeber. Der
möchte möglichst viel von dir haben und dass du dich genau an die Zeiten
hältst. Ich habe mit ihm einen Vertrag geschlossen, dass du mindestens 140 000
Stunden zur Verfügung stehst. Nicht heute, aber insgesamt. Ich bin ständig
präsent und achte darauf, dass du deinen Vertrag einhältst. Ich bin immer mit
im Spiel. Es geht nie ohne mich! Selbst im Urlaub bin ich präsent und zeige dir
ab dem ersten Tag, dass dein Urlaub bald schon vorbei ist. Ich sehe dir in die
Augen und merke, wie du leidest. Du bedauerst, dass du nur zwei Wochen Urlaub
hast. Du hättest gerne mehr davon. Ich verlängere um zwei Tage und sehe die
Erleichterung in deinem Gesicht. Ich genieße meine Macht und deine
Abhängigkeit. Wie du aufatmest bei zwei mickrigen Tagen! Ich bleibe Sieger. Du
gehörst mir. Mir, der Zeit. Ich bin der Besitzer und du bist mein Eigentum. Ich
lasse es dich nicht spüren. Du sollst mir ja freiwillig gehorchen. Das macht es
mir leichter. Ich will dich ja nicht zu den Terminen prügeln. Am Ende stirbst
du noch vor der Zeit, die dir biologisch vergönnt ist. Ich lese deine eigene
Todesanzeige und dort wird ein Datum stehen. Von dann bis dann hast du mir
gehört. Ich bestimme also auch noch das Erscheinungsbild auf deiner Todesanzeige.
Oder hast du schon mal eine Anzeige gesehen wo stand: „Das war Matthias! Du warst
ein netter Kerl. Wir werden uns gerne an dich erinnern. Mach es gut!“ Nein,
dort steht von wann bis wann! Je kürzer die Zeit, desto größer der Schrecken
beim Leser. Dann reibe ich mir die Hände. Du wirst dein Tempo erhöhen!
Wenn du im Stau stehst, dann mache ich dir Druck! Ich
kann zwar nichts machen und muss es aushalten. Aber ich kann dafür sorgen, dass
du dir Sorgen machst. Dass du ein schlechtes Gewissen bekommst. Jeder Stau
hilft mir dabei, dass du gehorsamer wirst. Stell dir doch einmal vor, dass es
auf der ganzen Welt keine Uhr gäbe! Du würdest im Stau stehen und wärest völlig
gelassen. Du müsstest ja nirgendwo pünktlich ankommen. Du würdest vielleicht
nur zwei Stunden arbeiten anstatt sieben oder acht. Daran hat dein Arbeitgeber
kein Interesse. Er möchte, dass der Betrieb so präzise abläuft wie ich, die
Uhr.
Ich weiß, dass es eigentlich unmenschlich ist.
Menschlicher wäre es, wenn du mit der Sonne aufwachst und dich dem Rhythmus des
Lichtes und des Herzens überlassen würdest. Aber dann würde ich meine
Bestimmung verlieren. Ich lebe davon, dass du mir gehorchst.
In den vielen Jahren meiner Existenz habe ich
gelernt, ganz dezent im Hintergrund zu arbeiten. Du kannst mein Wirken
vergleich mit der Geschichte vom Frosch im heißen Wasser. Wenn ein Frosch ins
heiße Wasser fällt dann springt er vor Schreck sofort wieder heraus. Wenn er
aber im kalten Wasser ist und ich langsam und stetig die Temperatur erhöhe wird
er nicht springen. Inzwischen könnt ihr Menschen nicht einmal mehr ohne mich
leben. Ihr verplant euer Leben und ich gebe den Takt vor.
Und dann sind da die geheimnisvollen toten Zeiten.
Die sind gefährlich für mich. Wenn du nichts zu tun hast dann wirst du
innerlich unruhig. Es kommt dir seltsam vor. Du möchtest etwas Sinnvolles tun.
Ich laufe ja immer weiter und habe dich gut konditioniert. Du bist mein
pawlowscher Hund. Nur, wenn die toten Zeiten kommen, dann könnte etwas
geschehen, wovor ich Angst habe. Ich flüstere es dir jetzt ins Ohr. Komme näher.
Wenn du in einer toten Zeit in dich hineinspürst,
dann könntest du bemerken, dass ich dich beherrsche. Du könntest aufwachen und
dir sagen: „Genug!“ „Nicht mehr mit mir!“ Du könntest alle Uhren und Zeiten aus
deinem Leben verbannen. Du würdest einfach tun was du wolltest. Dir wäre es
egal, ob du noch zwei oder zwanzig Jahre Zeit zum Leben hättest. Du würdest angstfrei
und gewissenlos werden und nach deinen inneren Impulsen leben. Du würdest nicht
mehr berechenbare 40 Stunden für so und soviel Euro arbeiten sondern irgendwie
und einfach so. Dein Arbeitgeber wüsste nicht mehr, was er dir bezahlen sollte.
Du würdest ihm sagen, dass du gut gearbeitet hast und dir wünschst, dass er
dich jetzt gut bezahlt. Alles würde mehr nach einem Gefühl oder zeitlosem
Rhythmus laufen.
Ich würde meine Macht und Vorrangstellung verlieren.
Und daran habe ich kein Interesse. Es läuft doch prima so, wie es läuft. Nicht
wahr? Es läuft und läuft und läuft. Ein kleiner Burnout gefällig? An die
Verhinderung muss ich wohl noch arbeiten.
Was wäre das Gegenteil oder der Gegenpol von Zeit?
Hast du einmal darüber nachgedacht? Wenn du diesen Pol entdeckst, dann bin ich
dich los. Daran habe ich kein Interesse. Und jetzt wach auf und arbeite
weiter!“
Ich wache auf und
stelle die Uhr beiseite. Ich tauche tief in meine toten Zeiten ein. Wie wäre
es, wenn ich nicht die toten Zeiten betrachte mit einem Gefühl des Versagens,
sondern die Zeit an und für sich ausschalte oder töte. Es gibt Augenblicke, wo
die Zeit gar keine Rolle spielt. Ich denke an das, was ich liebe. Ich fühle es
und plötzlich existiert die Zeit nicht mehr. Sie ist gar nicht mehr da. Die
Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlieren ihre Bedeutung.
Zeit zeigt sich nur als Teil meiner menschlich begrenzten Denkweise. In diesem
Zustand gibt es kein Gegenteil von Zeit. Auch keinen Gegenpol. Keine grenzenlos
ausgedehnte Zeit.
Wenn ich in einer
„toten Zeit“ in mein Inneres eintauche werde ich mir meiner selbst bewusst. Ein
wort- und gedankenloser Zustand. Worte und Gedanken bin ich los. Stille?
Frieden? Verbunden sein? Ein Schweigen!
Vielleicht finde
ich in den toten Zeiten das Gegenteil vom Tod. Lebendigkeit. Den Atem, der
kommt und geht. Den Puls und den Herzschlag. Das alles kann ich wahrnehmen in
toten Zeiten.
In den toten
Zeiten komme ich zurück zu meinem natürlichen Zustand. Ich werde mir bewusst,
dass es eigentlich keinen Zwang gibt. Das pure Leben an sich ist völlig
zwanglos. Löwen teilen auch nicht ein nach Frühstück und Mittagessen. Die Uhr
suggeriert mir nur, dass ich mich nach ihr richten muss. Beherrsche ich die Uhr
oder beherrscht sie mich. Das Motto für jede Fastenzeit und auch für eine
österliche Erfahrung. Beherrsche ich den Alkohol oder beherrscht er mich.
Beherrschen mich die Gefühle oder beherrsche ich sie?
Zugleich wird mir
bewusst, dass auch das „Herrschen“ und das „Beherrschen“ zu einem Zwang werden
kann, der mich unfrei macht. Wie wäre es, mit der Zeit zu spielen? Mit dem
Alkohol zu spielen? Mit allen „Herrschaften“ zu spielen! Vielleicht ist es ja möglich,
in all den vielen „Herrschaftsräumen“ sich „Freiheitsräume“ zu ermöglichen. Und
wenn die Zeit sich als Herrschaftsraum zeigt, dann könnte ich mich ab und zu
mal einfach verweigern. In „tote Zeiten“ abtauchen! Mich darin innerlich
lebendig fühlen und ein wenig ausdehnen. Jemanden an der Kasse vorlassen. Im
Wartezimmer beim Arzt sich fühlen wie in der Sauna. Am Bahnsteig einfach nur
herumstehen dürfen. Es gibt nichts zu tun!
Ich mag den Begriff der "geschenkten Zeit". Dann habe ich die Freiheit, sie so für mich zu verwenden, wie es gerade für mich passt: Mal einfach sein und verweilen, schauen, träumen und die Welt passieren lassen, mal aber auch sie nutzen - bei mir meistens mit Lesen.
AntwortenLöschen"Carpe diem" verstehe ich als "Pflücke den Tag!", aber nicht unbedingt im Sinn von zielgerichtetem Nutzen, sondern eher wie Fallobst, das mir in die Hände oder vor die Füße fällt.
An manchen Arbeitstagen erlebe ich die Zeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Warten an Haltestellen als die schönsten des Tages: Mal genieße ich sie zum Schauen und Wundern, mal zum Abtauchen beim Lesen.