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Mittwoch, 28. Mai 2014

Weite deinen Raum

Beim Spaziergang am Sonntag sah ich zwei türkische Frauen mit langem Kleid und Kopftuch auf einer geraden und langgezogenen Landstraße. Sie brachten sich gegenseitig das Radfahren bei. Eine Frau saß auf dem Rad, die andere hielt und sorgte für Stabilität. Um zu dieser Straße zu kommen mussten sie dahin laufen und das Fahrrad schieben. Schon bald werden sie nicht mehr schieben, sondern gemeinsam fahren und ihren Lebensraum ausweiten.
Ich stelle mir vor, dass die beiden Frauen in der Regel zu Fuß unterwegs sind. Wie weit kann man am Tag laufen, wie groß mag der Radius um das eigene Haus sein? Auf einmal gibt es die Möglichkeit, mit dem Rad einkaufen zu fahren. Neue Geschäfte in anderen Stadtteilen, einen anderen Friseur ausprobieren, die Welt erforschen, den Raum weiten.
Wir fangen als Baby in unserer Wiege an und entdecken die Rapppeln, das Kuscheltier und die Schmusedecken. Wir fangen an zu krabbeln und entdecken die Gegenstände im Umkreis des Fußbodens. Wir fangen an zu laufen und erobern das Haus und die Nachbarschaft. Vom Spüren der Haut als die erste körperliche Grenze erweitern wir ständig unseren Raum und machen neue Erfahrungen. Das ist doch ein wunderbares Geschenk. Schon der Psalmbeter erfuhr dieses Phänomen mit den Worten: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum." (Ps 31,9)
Ich lernte Radfahren mit drei Jahren. Die zwei türkischen Frauen vielleicht mit über vierzig. Sie zeigen mir, dass es nie zu spät ist, mit etwas Neuem zu beginnen. Den weiten Raum zu erkunden und zu erleben ist einfach zu verlockend. Da warten Wunder und Welten auf dich. Die Erlebnisse erweitern dein Bewusstsein und lassen dich immer wieder staunen. Und Staunen ist der Anfang von Religion. Die Weite des Raumes weitet auch dein Herz. Ich wünsche dir Neugier und den Mut der beiden türkischen Frauen, immer wieder neue Wagnisse einzugehen.

www.matthias-koenning.de


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