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Montag, 24. Juli 2023

Nur ein wenig


 

Wenn es doch nur ein bisschen mehr regnen würde. Es ist einfach zu trocken. Schon wieder müssen wir regelmäßig gießen, damit unser Gemüse nicht vertrocknet. Ich erwarte nicht, dass der Regen jeden zweiten Tag kommt. Nur ein wenig mehr – das würde schon helfen.

Ich erwarte gar nicht, dass die Bahn pünktlich ist. Die Zeiten haben sich geändert. Pünktlich war einmal. Aber könnte sie nicht doch ein wenig pünktlicher sein? Nicht ganz so oft ausfallen wegen Stellwerkfehler, Oberleitungsschaden, Personalmangel, Tiere auf den Gleisen, Baustellen, Platzmangel im Bahnhof, Streik… All das ist in Ordnung, vielleicht nur ein bisschen weniger. Warum? Dann ist es erträglicher, aushaltbarer. Ich hätte sofort mehr Verständnis. Ich wäre nicht so verärgert und mein Bahnleben würde entspannter verlaufen.

Nur ein wenig – für manche Situationen hört sich das fast an wie ein Wunder. Der erste Schritt aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Wenn es einen ersten Schritt gibt, dann vielleicht auch ein zweiter kleiner Schritt.

In meinen Beratungen tauchen häufig solche aussichtslosen Situationen auf. Am Arbeitsplatz verstehe sich jemand mit seinen Kollegen überhaupt nicht mehr. Rückenschmerzen wollen nie wieder verschwinden. Eine Kundin fühlt sich in der Arbeit so überlastet, dass der Urlaub nicht mehr reicht, herunterzukommen. Wenn die Preise weiterhin so steigen, wird ein Kunde nie mit seiner Rente auskommen. Der soziale Abstieg und die Armut sind vorprogrammiert. Viele Menschen haben viele Gründe, sich beim Leben oder bei Gott zu beschweren. Es ist nicht in Ordnung. Es ist zu viel. Total ungerecht und vor allem aussichtslos.

 

Magst du noch weiterlesen? Oder denkst du jetzt, dass ich herumjammere und zu den Klagenden gehöre. Spüre ich jetzt deinen Widerstand und die Worte in deinem Inneren: „Du übertreibst! So schlimm ist es doch gar nicht! Noch bist du nicht tot und deine Kunden auch nicht.“ Wenn du das jetzt gerade denkst, bin ich nicht weit von dir entfernt. Ich sehe immer das Licht in der Dunkelheit. Ich schaue gerne nach dem, was noch geht, wenn nichts mehr geht. Ich liebe die Herausforderung, das Positive im Negativen zu sehen. Ich reise gerne in das Land der Möglichkeiten, das sich immer wieder öffnet.

Wenn du das auch so wahrnimmst, bist du wie ich gesegnet. Dann gehörst du zu den Optimisten und zu denen, die sich das Leben nicht vermiesen lassen wollen. Genieße mit mir das Geschenk. Neben dir gibt es aber auch die Pessimisten, die ständig klagen und auf der dunklen Seite des Lebens stehen im Betrachten des halb leeren Glases. Herzlich willkommen! Sie sorgen dafür, dass wir als Menschen nicht stehen bleiben und uns weiterentwickeln. Ohne die Jammerer gäbe es keine Innovationen und Verbesserungen an den Haushaltsgeräten, Autos, Häusern und Beziehungen. Pessimisten sind im Grunde des Herzens großartige Weltverbesserer. Hilfreich, wenn sie es schaffen, aus dem Klagen ins Handeln zu kommen.

In meinem Newsletter denke ich mit dir aber an eine andere Gruppe von Menschen. Diejenigen, die eigentlich ein zufriedenes und ausgeglichenes Leben führen. Menschen, die sich den Wohlstand durch harte Arbeit verdient haben. Menschen, die sich für eine gute Beziehung anstrengen. Eltern, die ihre Kinder lieben, gut versorgen und dann bekommen sie das Leben als Erwachsene nicht hin. Rutschen ab in Drogen, Beziehungsdramen oder psychische Erkrankungen.

Manchmal kommen Menschen zu mir in die Beratung mit dem ersten Satz: „Ich hätte nie gedacht, dass ich hier mal lande. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen und jetzt hocke ich hier und weiß nicht weiter. Das ist nicht gerecht.“ Dann höre ich, wie sie ihr Leben wirklich gut meistern. Was sie alles geleistet haben. Wie sie stolz auf sich sein dürfen. Und wie sehr sie eine Belohnung verdient hätten für Fleiß, Aufrichtigkeit und Anstrengung. Diese Menschen jammern nicht schnell. Wenn sie jammern, dann ganz am Ende, wenn nichts mehr geht. Wenn die Möglichkeiten sich erschöpft haben.

Die Vorstellung davon, dass nichts mehr geht, führt in die Resignation, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Wenn sich dieser Zustand für uns einstellt, wird es sehr unangenehm, auch gefährlich. Denn wir könnten die Vorstellung bekommen, dass das Leben sich nicht mehr lohnt. Wofür das Ganze noch!

Das erlebe ich dann auch in meinen Beratungen, dass Menschen am Ende des Erzählens zu diesem Schluss kommen, dass sich das alles nicht mehr lohnt. Wenn die Sinnfrage auftaucht. Menschen geraten in der Regel nicht in die Krise bei Kleinigkeiten. Dann sind wir bei Problemen, wo es doch irgendwann eine Lösung gibt.

Es gibt Situationen, wo die Schwere spürbar wird. Die Belastung und die Ohnmacht, die sich nicht wegschieben lässt und das wir aushalten müssen. Wo wir keine Wahl haben. Da wird die Angst spürbar vor einem starken Verlust. Das unerträgliche Erleben einer Trennung. Die unversöhnliche Kränkung einer Verletzung durch einen geliebten Menschen.

Ich möchte es gerne wertschätzen und anerkennen, dass das Aushalten und Ertragen eine hohe Leistung ist. Das Geschehene ist sehr ungerecht und nicht in Ordnung. Das so etwas niemand verdient hat. Und dass es gut wäre, die Uhr zurückdrehen zu können.

Was könnte neben dem unausweichlichen Aushalten einer schwierigen Situation und dem solidarischen Mittragen noch hilfreich sein? Was mir hilft und was ich dir anbieten möchte, ist der Gedanke: „ein wenig!“

Ein wenig Erleichterung, dass die Last nicht mehr ganz so schwer ist. Ein wenig Zuwendung, dass da auch Trost hinkommen kann. Ein wenig, damit es einen kleinen Unterschied gibt. Keine große Hoffnung, aber ein wenig. Keine große Lösung, aber ein wenig Wunsch danach. Ein kleines „Vielleicht“!

Das „ein Wenig“ ist der Versuch, den Weg in die immer größere Aussichtslosigkeit abzubremsen, zu verlangsamen und kurz zu unterbrechen. Ein kleines Stopp. Das „ein Wenig“ darf nicht zu groß sein. Dann würde ich die Schwere weg reden und nicht ernst nehmen. Das „ein Wenig“ kann schnell ein „zu viel“ werden. Ich vermute, dass Diplomaten die Fähigkeit haben, in ganz kleinen Schritten zu denken und dabei sehr geduldig zu sein.

Wo neigst du dazu, die Dinge zu verabsolutieren. Deine „Immer“ und „Nie“. Deine Diskriminierungen und Vorurteile. Deine übersteigerten Erwartungen an das Glück. Wo bist du manchmal halsstarrig oder zwanghaft? In welche Felder deines Lebens würde das „ein Wenig“ eine kleine Entlastung bringen. Ein leichtes Durchatmen und ein Seufzen, dass etwas wieder in Bewegung kommt.

Ja genau, das wäre für mich eine gute Übung. Seufze mal wieder. „Ach ja, ist wirklich schwer, aber ich schaffe das schon. Zumindest jetzt für einen kleinen Augenblick könnte ich es spüren.“

Ich mag es, wenn ich bei einer Hochzeit am Buffett bedient werde: „Was hätten Sie gerne?“ Dann sage ich: „Ein wenig von Allem.“ Oder „Ein wenig von dem und ein wenig von dem.“ Es ist so viel da, dass die Sammlung von dem vielen Wenigen auf einmal einen großartigen bunten Teller ergibt. Das Wenige ist keine Belastung. Ich muss mich da nicht durchessen. Das „Wenige“ an sich fühlt sich leicht an. Und vielleicht ist es genau das, was hilft, wenn alles schwer wird. Die Unpünktlichkeit der Bahn, der Krieg, die Krise, die drohende Verarmung, das gesamte Paket… Wenn überall ein „wenig Leichtes“ hinfließen darf, verändert sich das ganze Paket. Auch wenig leichter ist schon leichter.

Wovon darf es also bei dir ein wenig mehr sein oder etwas weniger? Wo darfst du dir das Leben etwas erleichtern? Ich könnte ein wenig gelassener werden beim Bahnfahren. Nur ein wenig würde mir schon helfen. Jetzt sitze ich gerade mal wieder in der Bahn. Sie hat zwanzig Minuten Verspätung. Dabei darf ich dir schreiben und merke nicht, wie der Zug bummelt. Und außerdem könnte ich ein wenig mehr Freude spüren darüber, wie viel Glück im Leben ich hatte. Wie sehr ich gesegnet bin. Das mag ich auch dir sagen: Wie sehr du gesegnet bist!

www.matthias-koenning.de 

 


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