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Dienstag, 2. November 2021

Innerhalb und/oder außerhalb des Rahmens!

 


Bei einer Wanderung am Rhein oberhalb von Boppard stehe ich vor einem leeren Rahmen aus großen Holbalken. Eine Installation eines Naturschutzverbands. Ich sehe von dort aus durch den Rahmen auf den Rhein unter mir und die Berghänge links und rechts davon. Der Rahmen zeigt mir einen Ausschnitt der Landschaft, die vor mir liegt. Links und rechts vom Rahmen setzt sich die Landschaft fort. Aber der Rahmen gibt vor, wohin mein Blick fallen soll. Auf das Rheintal.

Ich stehe vor diesem Rahmen und werde mit zwei Wirklichkeiten konfrontiert. Der Welt im Rahmen und der Welt außerhalb davon. Das Ergebnis meines Nachdenkens möchte ich in diesem Brief gerne mit dir teilen.

Unser eigenes Leben bewegt sich oft wie in einem Rahmen. Therapeuten nennen es gerne „Toleranzfenster“ der Sicherheit. Diese Fenster sind je nach Persönlichkeit und Vorerfahrungen mal größer oder auch kleiner. Eine Mutter mit einem kleinen Toleranzfenster kann sich ständig Sorgen um ihre Kinder machen und möchte in jedem Moment wissen, wo sie sich befinden. Eine andere Mutter mit großem Rahmen schenkt ihren Kindern einen maximalen Raum an Freiheit und verzichtet auf die Kontrolle.

Wie nimmst du dein eigenes Toleranzfenster wahr? Bist du schnell ängstlich und besorgt oder eher vertrauensvoll und raumgebend? Vielleicht kennst du die Situation, wenn du deine Ferienwohnung nach dem Urlaub verlässt. Du packst routiniert deine Sachen und fährst ohne weitere Gedanken los. Oder du durchsuchst mehrfach alle Schubladen und Räume, dass du ja nichts vergisst und fährst trotzdem mit einem mulmigen Gefühl.

Viele werden schon früh dahingehend erzogen, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Beruflich und von deinen Fähigkeiten aus gesehen bewegst du dich im Rahmen deiner Möglichkeiten. Meine Grundschullehrerein legte zum Beispiel damals fest, dass das Gymnasium außerhalb meiner Fähigkeiten liegt und die Realschule das Richtige für mich sei. Nicht superschlau, aber auch nicht ohne Talente. Mein Selbstbild von mir fühlt sich darum oft wie Durchschnitt an. Ein Supervisor kommentierte einmal unsere beruflichen Fähigkeiten so: „So gut, wie die Kunden sagen, dass du bist, bist du nicht. Aber so schlecht, wie die Kunden sagen, dass du bist, bist du auch nicht.“  Auch er dachte in eine Art von Rahmen.

Wir leben in einem zeitlich begrenzten Rahmen von Geburt bis zum Tod. Wir bewegen uns in einem gesundheitlichen Rahmen von fragil bis robust und hoffentlich immer im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten.

Der Rahmen gibt den Raum an, in dem wir uns bewegen dürfen und der uns ein Mindestmaß an Sicherheit verspricht. Keinesfalls darf etwas den Rahmen sprengen. Eine betriebliche Weihnachtsfeier sollte besser in einer lokalen Gaststätte stattfinden und bestimmt nicht auf Mallorca.

Ich stehe vor dem großen Holzrahmen am Wanderweg oberhalb von Boppard und betrachte den Ausschnitt mit dem Rhein. Ich könnte doch zufrieden sein mit dem, was ich sehe. Auch zufrieden mit meinem persönlichen Rahmen. Er ist nicht zu klein und auch nicht zu groß. Ganz passend. Ich kann mich noch gut bewegen. Wenn da nicht…

Ja, wenn da nicht der Blick jenseits des Rahmens wäre. Ich sehe ja, dass das Leben auch jenseits des Rahmens stattfindet. Alles innerhalb des Rahmens ist mir sehr vertraut. Ich sehe mich allerdings irgendwann satt und möchte frische Anregungen. Mehr Veränderungen und Weiterentwicklung. Der Rahmen suggeriert aber eine Grenze. Eine Grenze, die sich nicht so leicht überschreiten lässt. Ich kann den Rahmen zersägen oder sprengen. Dann verliere ich aber meinen Halt und die Sicherheit. Zugleich gibt es die Verlockungen außerhalb meines Toleranzfensters und die Hürden und Hindernisse, die mir Angst machen. Schön wäre es ja, aber das liegt jenseits meiner Möglichkeiten. Da könnte ich nur mit großer Anstrengung und Kraftaufwand hin.

Mein Blick bewegt sich trotzdem jenseits des Rahmens. Ich sehe, dass die Welt nicht aufhört und mich verlockt. Da wartet etwas Unbekanntes auf mich und möchte entdeckt werden. Ich möchte mich nicht beschränken auf die vorgegebenen Möglichkeiten. Auch wenn meine Durchschnittsnote in der Schule befriedigend war, so gab es immer wieder ein Gut oder sogar ein Sehr gut!  Im Leistungskurs Deutsch bekamen wir unsere Aufsätze zurück und der Lehrer las mehrere davon vor. Unter anderem auch meinen. In den ersten Minuten habe ich mich selbst nicht erkannt. Erst als er meinen Namen nannte. Ich habe diesen Aufsatz geschrieben? Nicht möglich! Außerhalb des Rahmens meiner Möglichkeiten.

Ich möchte dich einladen zu einer kleinen Reise außerhalb deines Rahmens. Du darfst gerne in deinem Rahmen bleiben. Dafür habe ich großes Verständnis. Vielleicht magst du aber mit mir reisen und kehrst eigenverantwortlich zurück, wenn es dir unheimlich wird.

Was war zuerst? Der Rahmen oder die Wirklichkeit außerhalb davon? Was hat darum mehr Bedeutung und ein größeres Gewicht? Die Theologie lehrt uns, dass Gott die Welt erschaffen hat. Aus dem Ewigen schuf er das Begrenzte. Er setzte also den begrenzten Rahmen in dem endlosen Raum. Er schuf Raum und Zeit und die Materialität. Die Welt ohne Rahmen existierte von Ewigkeit her und das Begrenzte ist nachgeordnet. Gott machte damit ein schöpferisches Experiment. Dazu gehörte auch, dass er den Menschen erschuf aus seiner eigenen Grenzenlosigkeit heraus. Weil der Mensch sein Ebenbild ist, kommt der Mensch aus der Ewigkeit, aus der Dimension jenseits von Raum und Zeit. Unser eigener Ursprung ist also eigentlich rahmenlos. Erst mit dem Eintritt in diese Welt und in unsere menschliche Zeit wurde der Rahmen gesetzt. Nach diesem Leben wird also auch der Rahmen wieder verschwinden.

Wenn ich in diese Welt hineingeboren werde, füllt dieser Rahmen mich vollkommen aus. Ich verliere den Zugang zu der Vorstellung, dass meine Wurzeln rahmenlos sind. Ich kann mich darauf festlegen, dass der Rahmen meine ausschließliche Wirklichkeit ist und dass nichts jenseits davon existiert. Das ist grundsätzlich möglich und sehr verständlich. Der Rahmen kann so mächtig werden, dass er alles jenseits davon ausschließt. Du kennst bestimmt Menschen, die so denken und ticken. Sie finden in der Regel ein spirituelles Leben abwegig.

Vielleicht gehörst du aber zu den Menschen wie ich, die sich verlocken und einladen lassen für den Bereich jenseits des Rahmens. Im Grenzbereich von innerhalb und außerhalb wird das Leben erst spannend. Dort zeigt sich der Raum der Weiterentwicklung. Worin liegt die Qualität dieses Grenzbereiches? Was können wir dort erfahren?

Der erste Aspekt heißt: Ausnahmen erleben! In der Regel bewegen sich meine Fähigkeiten in einem mehr oder weniger festgelegten Rahmen. In der Regel! Aber es gibt Ausnahmen. In der Schule hatte ich manchmal Werte außerhalb meiner Möglichkeiten. Mal ein Ausreichend und mal ein Sehr gut. Immer wieder erlebe ich glückliche Momente in einem vielleicht tristen Alltag. In der Langeweile des beruflichen Lebens gibt es immer wieder Momente des Glückes und der Erfüllung. Die Ausnahmen machen den Unterschied zum „Normalen“. Die Ausnahmen, die es immer wieder gibt, sprengen leise mein Rahmendenken. Ich könnte also bei einer Ansammlung von vielen Ausnahmeerfahrungen mir vorstellen, dass der Rahmen nur ein gedachter Rahmen ist. Ein Rahmen meiner Vorstellungen. Jede Ausnahme bestätigt, dass etwas in mir darüber hinausgehen kann.

Der zweite Aspekt heißt: Wunder erfahren! Stärker noch als Ausnahmen können Wunder wirken. Dabei geht es um den Moment der Überraschung. Etwas jenseits der Regel und somit außerhalb des Rahmens. Da verliebt sich jemand in mich und findet mich ganz wunderbar. Das kann ich nicht planen oder berechnen. Es fliegt mir zu wie ein Geschenk. Oder ich wache am Morgen auf und fühle mich ohne Grund glücklich. Oder ich bin ein wenig einsam und bekomme Besuch. Immer wieder ereignen sich außerhalb meines gesetzten Rahmens kleine und große Überraschungen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf die kleinen und großen Wunder richte, könnte ich bemerken, dass Wunder öfter vorkommen als ich dachte.

Der dritte Aspekt heißt: Krisen bewältigen. Es kann geschehen, dass das Leben dafür sorgt, dass der Rahmen nicht mehr passt. Ich kann arbeitslos, krank oder arm werden. Ich kann durch den Tod einen Menschen verlieren. Das ganze Leben kann wie ein Kartenhaus zusammenbrechen und der Rahmen löst sich auf. In solchen Momenten wird deutlich, wie fragil der scheinbar stabile Rahmen eigentlich ist. Das, was ich als fest und beständig erlebe, zeigt sich in der Krise als brüchig und störanfällig. Ich könnte mir vorstellen, dass sich dann mein Leben auflöst und ein paar Tage später stelle ich fest, dass ich noch nicht gestorben bin, sondern beginne, mit den Veränderungen anfangshaft klarzukommen. Eine Krise gibt mir die Möglichkeit, den manchmal starren Rahmen zu erweitern.

Der vierte Aspekt heißt: Schöpferische Kreativität. Ich habe ein Problem und denke über die Lösungen nach. Oft geht das gut, weil ich im Laufe des Lebens Erfahrungen gesammelt habe. Mein Denken bewegt sich allerdings immer im Bereich des Bekannten. Mein Verstand gleicht einer Bibliothek. Alles Wissen ist dort abgespeichert. Manchmal brauche ich für eine Lösung allerdings etwas außerhalb meiner Bibliothek. Durch angestrengtes Nachdenken komme ich keinen Schritt weiter. Wenn ich mich aber entspanne und zurücklehne und ganz aus der Anstrengung herausgehe, kommt da plötzlich eine Idee auf. Es fühlt sich so an, als käme etwas außerhalb meines Rahmens auf mich zu. Die schöpferische Kreativität zeigt sich also darin, mit der Welt außerhalb meines Rahmens kommunizieren zu können. Im eigenen Rahmen zeigt sich oft keine Lösung, aber außerhalb ist es möglicherweise nicht einmal ein Problem.

Wo fühlst du dich eher beheimatet? Was entspricht deiner Persönlichkeit? Stell dir ein Pendel vor. Der eine Pol heißt „leben im Rahmen“, der andere Pol heißt „grenzenloses und ewiges Sein“. Wo in diesem Pendel würdest du dich einordnen? 

Mit welchen Menschen tust du dich leicht, und wann spürst du eher Widerstände.

Menschen im Rahmen haben es mit Hürden und Hindernissen. Sie denken in Regeln und Ordnungen. Sie tragen bei Lösungen gerne ein „aber“ im Gepäck. Sie besitzen einen guten Sinn für die realistischen Möglichkeiten. Sie haben im Blick, dass das menschliche Leben begrenzt ist. Unangenehm, aber unausweichlich.

Menschen mit dem grenzenlosen und ewigen Sein finden in jeder unmöglichen Situation noch einen Ausweg. Sie mögen das Wort „und“ im Unterschied zu „aber“, weil es Räume öffnet. Sie lieben das kreative Phantasieren und lassen sich nicht gerne festlegen. Für sie muss jetzt in diesem Leben nichts sein, es gibt ja noch die Fülle nach dem Tod.

Wenn ich mich im Pendel irgendwo zu sortieren kann, kann ich besser einschätzen, was mir fehlt und wohin ich mich weiterentwickeln möchte.

In der Geschichte gab es immer wieder Menschen, die den Rahmen sprengten und dadurch neue Räume öffneten. Jesus erweiterte ein starres Gottesbild, Gandhi entdeckte die Kraft des gewaltlosen Widerstandes und Paul Watzlawick die Grundsätze des Konstruktivismus. Mich fasziniert die Vorstellung, dass wir alle im Laufe der Evolution den begrenzten Rahmen immer weiter aufspannen, bis er nicht mehr spürbar und sichtbar wird. Dann würden wir den Himmel auf Erden haben und das Tor zur Ewigkeit weit öffnen.

 

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