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Dienstag, 24. Oktober 2023

Deine Wunderkammer!


 

Vor einiger Zeit stieß ich auf das Wort Wunderkammer und las, dass es sich dabei um eine Art Vorläufer von Kunstmuseen handelt. Reiche Adelige sammelten Objekte, Raritäten, Mineralien und stellten sie in einem geschlossenen Raum aus. Zur Forschung und auch zur Repräsentation. Menschen, die es sich leisten konnten, versammelten auf engem Raum die Welt im Kleinen. Dieses Phänomen begann im 16. Jahrhundert und endete im Verlauf des 19. Jahrhunderts.

Ich fand die Idee faszinierend, die ganze wundervolle und komplexe Welt in einem Zimmer zu versammeln. Die Welt draußen wurde geschrumpft auf ein Kleinformat in den eigenen Räumlichkeiten. So wird die Welt begreifbar und lässt sich untersuchen.

Das Wort „Wunderkammer“ hat in mir eine Reaktion ausgelöst. In den früheren Jahrhunderten wurde die Welt im Außen entdeckt. Darüber haben wir vergessen, dass es auch die Welt im Innen gibt. Die Innenwelt unserer Fantasien, Gedanken und Gefühle. Das körperliche Wunder, das in uns stattfindet und uns ermöglicht, lebendig zu sein. Wie unglaublich ist die Vorstellung, dass jeder Mensch eine eigene Welt darstellt mit Bakterien, Viren, Pilzen, Hormonen und faszinierenden aufeinander abgestimmten Prozessen von Atmung, Versorgen mit Sauerstoff, Aufnahme- und Abgabewegen.

Ich stelle mir vor, dass in dieser meiner menschlichen Körper-Geist-Seele-Welt so etwas existiert wie die Wunderkammer eines alten Schlosses. Meine innere Wunderkammer!

Hältst du den Gedanken für eine sommerliche Spinnerei? Typisch Matthias? Was soll das denn in Realität sein, diese innere Wunderkammer? Sie ist körperlich nicht nachweisbar.

Ich lade dich ein zu einer Spurensuche. In der systemischen Therapie gibt es die sogenannte Wunderfrage. Die funktioniert folgendermaßen. Stell dir vor, dass du ein Problem hast. In der Nacht bekommst du Besuch von einer guten Fee, die für dich ein Wunder wirkt. So wachst du am Morgen auf und dein Problem ist verschwunden. Das Wunder selbst hast du nicht bewusst erlebt, aber die Auswirkungen kannst du spüren. Es fühlt sich in dir verändert an und die Menschen um dich herum können etwas wahrnehmen. Vielleicht so etwas wie: Du siehst fröhlicher aus. Du wirkst gelassener. Du lachst und sprichst mehr. Du bewegst dich so leicht und wirkst etwas ausgelassen.

Übertragen wir das auf die Vorstellung der inneren Wunderkammer. Sie selbst kannst du nicht sehen, aber die Auswirkungen kannst du spüren und wahrnehmen. Wer wärest du als Mensch ohne deine innere Wunderkammer?

Der Einfachheit halber mache ich eine kleine Definition: Ohne Wunderkammer wärest du Alpha und mit Wunderkammer Beta.  Wie würdest du dich als Alpha bewegen? Welche Geschichte würdest du von dir erzählen und wie nähmen dich deine Freunde wahr? Wie verhältst du dich ihnen gegenüber und welche Eigenschaften würden dich ausmachen.

Wer wärest du als Beta im Unterschied zu Alpha. Was würden deine Freunde mir erzählen von dir, wenn ich sie fragen würde?

Vielleicht hältst du mich spätestens jetzt für einen Spinner und legst diesen Brief beiseite. Und zugegeben, ist es bei mir nur eine Gedankenkonstruktion. Vielleicht aber eine hilfreiche und ich lade dich ein zum nächsten Schritt. Und dazu erzähle ich dir eine Geschichte.

Dein Leben, so wie es die Biologen erzählen, begann mit der Verbindung von Samen und Eizelle. Daraus hast du dich entwickelt und dein Eintritt in Zeit und Raum begann damit. Zunächst viele Monate unbewusst und dann mit zunehmender Wahrnehmung und immer mehr Bewusstsein. Da existierte nicht nur ein Körper, der sich biologisch weiterentwickelte. Du hast viel erlebt. Jedes Ereignis hat sich in deinem Körper eingespeichert. In den Zellen, im Gehirn, in der Haut, im Herzen, im Bauch. Als unbeschriebenes Blatt mit einer ungefüllten Kammer haben sich im Laufe deiner Raum-Zeit Erfahrungen angesammelt. Dein Körper bildet so etwas wie diese Kammer, worin du deine Ereignisse abgelegt hast. Ein wildes Durcheinander von bewusst und unbewusst. Von verarbeitet und unverarbeitet. Von angenehm und unangenehm. Von traumatisch und erlöst. Von mangelig bis erfüllt. So, wie das Sammelsurium einer Wunderkammer in einem alten Schloss.

Nur liegen diese Dinge nicht einfach herum. Sie wirken auf dich ein. Sie stoßen dich an, bewegen dich, machen dich ratlos und erfüllen dich. Sie sind äußerst lebendig und aktiv und beeinflussen deinen Alltag von früh bis spät.

Deine innere Wunderkammer bewirkt, dass du tatsächlich eine Geschichte hast. Dass du damit auch ein Gesicht und einen Körper hast, der diese Geschichte widerspiegelt und ausdrückt. Du bist kein programmierter Roboter, der immer gleich denkt und sich in berechenbaren Schritten bewegt.

Der Roboter wäre Alpha und du mit deiner Lebensgeschichte wärest Beta. Weil du ein Mensch bist, bist du automatisch Beta. Du hast diese Lebensgeschichte und im Laufe der Jahre deine Wunderkammer gefüllt. Vielleicht hast du keine Bewusstheit davon, weil du diese Kammer nie besuchst, aber sie wirkt auf dich ein.

Warum denke ich mit dir darüber nach, welchen Sinn das Ganze macht. Du ahnst es schon? Es macht einen Unterschied, unbewusst und ohne Kenntnisse von diesem Geheimnis durchs Leben zu laufen, oder diesen Raum zu nutzen. Ihn zu besuchen, Wege hineinzufinden, Heilsames wirken zu lassen und Traumatisches zu heilen. Ein bewusster Teil von dir könnte sich dafür entscheiden, zum Architekten deiner Wunderkammer zu werden. Wenn ich mir die real existierenden Wunderkammern der Schlösser anschaue, dann wird dort nicht einfach abgestellt. Es wird arrangiert in Vitrinen und Kästen mit Schubladen und sortierten Flächen. Es gibt Wege und es existiert ein Plan. Die gesammelten Dinge werden nach bestimmten Kriterien und Vorstellungen im Gesamtkonzept eingefügt und erhalten ihren Platz. An der Gestaltung der Wunderkammer lässt sich der Architekt ablesen.

Im Laufe unserer Kindheit haben wir auch viele Erlebnisse angesammelt. Wir waren jedoch so sehr mit dem Überleben und Anpassen beschäftigt, dass uns dafür nicht die Zeit blieb. Es war viel zu viel und ging viel zu schnell. Wir waren einfach überfordert. Viele Menschen sind als Erwachsene aus dieser Überforderung nie herausgekommen. Ihre innere Wunderkammer ist völlig chaotisch und ungestaltet. Es geht immer noch ums pure Überleben.

Vereinfacht kann ich dich und mich fragen: Sind wir Kuratoren oder Messies? Ein Kurator im Museum trägt die Verantwortung für den Umgang mit den Objekten. Darin steckt das Wort „curare – Sorgen tragen“. Das Wort „Messie“ kommt aus dem Englischen und meint „mess – Chaos, Durcheinander“.  

Bist du schon zum Kurator deines Lebens geworden? Kennst du deine innere Landschaft? Kannst du Traumata benennen und damit umgehen? Fühlst du dich wohl mit dem, was du in dir wahrnehmen kannst? Bist du vielleicht sogar stolz auf dich? Du könntest es mit voller Berechtigung sein, denn deine Kammer ist unvergleichlich, einmalig und unverwechselbar. Was könntest du mir von deiner inneren Wunderkammer erzählen, wenn ich dich fragen würde? Was von dir würdest du mir voller Freude zeigen, was würdest du lieber verbergen und was würdest du sogar vor dir selbst verstecken?

Oder erlebst du dich eher wie einen Messie. Ständig holen dich Ereignisse aus der Kindheit ein. Du wirst überschwemmt von alten Gefühlen. Du hast viele Erlebnisse nie verarbeitet und das Zeug vergiftet dich von innen her. Du klebst an bestimmten Themen und kannst sie einfach nicht loslassen. Du gehst dir selbst und allen anderen auf die Nerven mit deinen unerlösten Geschichten und Traumata.

Ich erlebe es so, dass die meisten Menschen wie in einem Gemischtwarengeschäft leben. Von allem etwas. Erlöste und unerlöste Anteile. Ordnung und Chaos. Versöhntes und Traumatisches. Wenn du ein reiner Kurator wärest, würde ich dich als erleuchtet bezeichnen oder zweiten Jesus. Dabei sind die Messie-Anteile in uns der Werkstoff, den wir formen und gestalten dürfen. Wir wünschen es uns manchmal weg und würden uns über die Fee freuen, die das Wunder bewirken könnte.

Viele Menschen haben auch einfach zu viel erlebt. Zu viel zum Verarbeiten. Zu viel, um wieder gesund werden zu können. Zu viele Wunden und zu viele traumatische Erlebnisse. Da ist das Überleben allein so etwas wie ein Wunder. Ich habe einen großen Respekt und eine große Achtung vor solchen Menschen, die es schaffen, mit und trotz aller Widrigkeiten zu überleben.

Für viele Menschen und vielleicht auch für dich gibt es die Chance, aus dem Chaos und den schrecklichen Erlebnissen etwas Heilsames zu wirken. In jedem Menschen gibt es diesen Kurator, der die Fähigkeit zum Gestalten besitzt. Ohne deine Erlebnisse hättest du kein Material zur Gestaltung deiner inneren Wunderkammer. Du kannst aus allem etwas machen. Nichts davon ist völlig unbrauchbar und nur negativ. Alles darf seinen Platz bekommen, seine Wertschätzung und Würdigung.

Spürst du einen Widerstand? Ein Aber? Einen Teil, der nicht einverstanden ist? „Ich wüsste nicht, wofür das gut sein soll, dass meine Eltern mich geschlagen haben.“ „Ich wüsste nicht, warum das gut sein soll, dass ich in der Schule gemobbt wurde.“ Ich kann das verstehen und ich kenne auch in mir solche Anteile, für die ich wenig, bis kein Verständnis habe. Anteile, die ich nicht in meine Wunderkammer integrieren möchte. Leider kann ich sie nicht rauswerfen. Sie gehören zu mir, ob ich will oder nicht. Ich kann sie annehmen, verändern, verkleiden, betrauern oder wegsperren. Aber nicht entfernen. Ich kann daran arbeiten, dass es sich immer weniger schlimm anfühlt. Ich kann andere bitten, einen Teil für einen Moment mitzutragen. Und ich kann genauer hinschauen und spüren und dann erzählen mir diese traumatischen Anteile doch eine Geschichte, der ich Zustimmung und Anerkennung geben kann.

Wenn du eine real existierende Wunderkammer besuchst, wirst du nicht nur angenehme und wunderschöne Dinge sehen. Bei manchen Dingen wirst du den Kopf schütteln, dich ärgern oder sogar Ekel empfinden. Manches wird dir rätselhaft erscheinen und manches gehört zu einer Welt, die heute nicht mehr existiert. Du wirst konfrontiert mit Vorstellungen, die sich längst überlebt haben. Mit deiner inneren Wunderkammer ist es nicht viel anders. Wir tragen den heimlichen Wunsch in uns, dass alles immer angenehm sein soll, sinnvoll, positiv und erfüllend. Wenn du dich von diesem Glaubenssatz befreien könntest. Wenn es möglich wäre, dass in dir auch das existieren darf, was sich nicht angenehm anfühlt, was dich schmerzt, abstößt oder ekelig anfühlt. Wenn es möglich wäre, dass dein innerer Bewerter schweigt und sich zurückhält mit seinen Urteilen von richtig und falsch, von angenehm und unangenehm.

Dann würdest du vielleicht wie ein Kind völlig unvoreingenommen zum Staunenden werden über die Vielfalt deines Innenlebens. Du würdest den Reichtum entdecken und keinen Gedanken daran verschwenden, ob etwas da sein darf oder nicht. Alles ist interessant genug, deine Neugier zu wecken und mit allem kannst du etwas anfangen. Dir wäre die Vorstellung fremd, du seist ein Opfer widriger Umstände. Du würdest völlig eintauchen in das Bewusstsein, Schöpferin und Schöpfer zu sein.

So, wie wir die Vorstellung haben können, dass das ganze Universum inklusive deiner Person ein göttlicher Schöpfungsakt aus Liebe ist, bist du mit dir selbst und deinem Inneren ebenfalls ein schöpferisch kreatives Wesen. Ich wünsche dir den liebenden Blick und die Fähigkeit deiner inneren Wunderkammer immer mehr Gestalt zu geben.

 

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