„Eigentlich müsste ich heute noch in den Garten. Die neuen Pflanzen brauchen unbedingt Wasser, sonst gehen sie nicht an.“ „Eigentlich müsste ich in der Küche noch den Kühlschrank sauber machen. Die Flecken kann ich nicht mehr übersehen.“ „Und eigentlich geht es mir gut. Darüber bin ich sehr froh.“
Hörst du etwas, das ich nicht gesagt, aber mitgedacht habe? Ich meine das Wort „aber“. So machen viele Menschen das gerne im Alltag. Sie fangen mit „eigentlich“ an und dann kommt das Wort „aber“. Durch das Wort „aber“ im zweiten Teil des Satzes nehme ich die Klarheit aus dem ersten Teil. Aus einer Art „Ja“ wird eine Art „Nein“. Ich würde lieber „Nein“ sagen, das klingt „aber“ nicht gut. So kann ich unpräzise und unklar bleiben. Ich klebe im Zwischenraum. Gehe ich in den Garten oder nicht? Mache ich den Kühlschrank sauber oder nicht?
In einem Beratungsgespräch kommt es oft zu dem Punkt, wo mein Gegenüber eingesteht: „Eigentlich haben Sie recht. Ich sollte das wirklich einmal probieren.“ Dann folgt: „Aber das ist nicht so leicht, weil…“ Aus der guten Idee weicht die Energie ab und das „Aber“ führt zu Resignation und Enttäuschung. Es breitet sich nach und nach ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit aus. Oft steht so ein „Eigentlich-Satz“ nicht allein da, sondern produziert viele Schwestern und Brüder mit viel „aber“ Potential.
In welchen Situationen verwendest du selbst gerne diese Kombination von „Eigentlich“ und „aber“? Bist du dir dann dessen bewusst? Steuerst du dagegen? Magst du dich selber nicht leiden, wenn du so sprichst?
Jetzt könntest du sagen: „Da hast du mich bei etwas erwischt, was ich kenne. Ab jetzt mache ich alles anders und entscheide mich klar und präzise.“ Bevor du auf deine „Aber-Geister“ verzichtest möchte ich dich jedoch einladen, meinen nächsten Gedanken zu folgen. Ich entscheide mich lieber für ein noch genaueres Hinsehen und für mehr Verständnis.
Wenn ich in meinen Beratungen auf das „Aber“ hinweise und dass das dann eigentlich ein „Nein“ bedeutet, fühlen sich die Kunden wie auf frischer Tat ertappt und wollen es schnell abstellen.
Für mich hat dieses Denken und Sprechen durchaus eine Qualität und hat damit zu tun, dass sich unser Leben ständig in Ambivalenzen und Widersprüchen befindet.
Mein Tag hat genau 24 Stunden und nicht mehr. Er ist zu kurz für alle Pläne, Wünsche, Aufgaben und Herausforderungen. Außerdem bin ich so widersprüchlich in mir selbst. Ich müsste eigentlich, aber ich bin gerade müde oder lustlos oder habe sonst einen Widerstand. Ich fühle mich überfordert oder höre Ansprüche, die meinen Widerstand herausfordern. Meine innere Seelenlandschaft gleicht einem undurchdringlichen Dickicht, in dem klare Entscheidungen ohne Wenn und Aber nur schwer möglich sind. Wenn dein Denken im Alltag eher einfach gestrickt und weniger komplex ist, werden dich meine Gedanken nicht sehr interessieren. Du gehörst zu den wundervollen Menschen, die ihr Ding einfach machen und eine Kiste voller guter Ratschläge haben für alle Familienmitglieder in Not. „Eigentlich – Gedanken“ sind dir sehr fremd.
Ich möchte dich trotzdem zu einem Ausflug in den „Eigentlich-Bereich“ einladen. „Eigentlich geht es mir gut, aber…“ heißt dann ansatzweise und vereinfacht mit anderen Worten übersetzt: Es gibt Anteile in mir, mit denen ich sehr einverstanden bin. Ich habe Kraft und Energie für meine Aufgaben heute. Ich habe gerade gegessen und bin satt. Ich freue mich über das wunderbare Wetter und genieße die Freiräume, die ich spüre. In diese Empfindungen und Gedanken könnte ich mich satt reinsetzen, wenn da nicht auch das andere wäre. Ich bin mit Teilen meines Lebens einverstanden, aber nicht mit dem Ganzen. Ich habe jetzt in diesem Moment Kraft und Energie, weiß aber nicht, für wie lange es reicht. Ich genieße das wunderbare Wetter. Ich weiß aber, dass sich für heute noch ein Regen angekündigt hat. Auf die Frage: „Wie geht es dir?“ kann ich nicht so einfach und schnell eine Antwort finden. Ich finde wohl so etwas wie ein Grundgefühl. Angenehm oder unangenehm. Dann, wenn ich vereinfache, was „eigentlich“ nicht legitim ist. Wenn ich aber in die Komplexität meines Lebens und meiner Sorgengedanken eintauche, geht das einfache Gefühl von angenehm und unangenehm verloren.
Menschen, die so auf dieser Welt sind, führen ein oft anstrengendes Leben und können sich selbst manchmal nur schwer auszuhalten. „Eigentlich müsste ich in den Garten gehen, aber…“ Es geht einfach nicht, weil da so viele Gedanken kommen. Was spricht dafür und was dagegen? Wo gibt es die unbedingte Notwendigkeit und wie viel Spielraum könnte ich mir geben? Die Pflanzen vertrocknen sicher nicht in der nächsten halben Stunde. Aber vielleicht nehmen sie doch Schaden, wenn es länger als eine halbe Stunde dauert. Was wird die Familie dazu sagen. Zu meiner Verantwortungslosigkeit und Faulheit? Wenn sie es sagen, sollte es mir eigentlich egal sein, ist es aber leider nicht…
Menschen, die häufig ein „Eigentlich – aber“ in ihrem Leben mit sich herumschleppen erlebe ich als sehr gewissenhaft und verantwortungsvoll. Sie wollen alles richtig und perfekt machen und suchen die Beste aller Möglichkeiten. Sie können sehr komplex denken und wissen, wie viel von einer einzigen Entscheidung abhängt. Sie können Folgen voraussehen und berechnen. Sie spüren die Tragik des Lebens und leiden unter möglichen negativen Konsequenzen. In einer meiner Beratungen hat mir ein Kunde einmal so eine quälende Gedankenkette von „eigentlich“ und „aber“ aufgezeigt. Ich müsse mich aber auf wenigstens eine halbe Stunde einrichten. Sein Thema hieß: „Eigentlich müsste ich Rasenkantensteine setzen…“ Nach ein paar Minuten musste ich aufgeben und aussteigen, weil ich die Zusammenhänge nicht mehr verstand. Ich hätte mich fast angeboten, diesen Job zu machen, auch wenn ich keine Ahnung davon habe. Ich vermute, dass Schachspieler ähnlich gestrickt sind. Auch sie brauchen die Fähigkeit für komplexes Denken.
Bis zu einem gewissen Grad sind die „Eigentlich-Gedanken“ zum Treffen von Entscheidungen sehr hilfreich. Nicht kurzfristig und blauäugig etwas machen, was man später bereut. Bei den Meister*innen des „Eigentlich – aber“ stelle ich jedoch fest, dass sie irgendwann nicht mehr ins Handeln kommen. Sie blockieren sich am Ende und es fehlt die Energie für die Umsetzung. Auf dem Grabstein könnte dann so etwas stehen wie: „Eigentlich hätte er viel erreichen können, wenn er nicht im Aber stecken geblieben wäre.“
Ich lade dich ein, mit mir einen Schritt weiterzugehen, ausgehend von der Wortbedeutung. Das Adjektiv „eigen“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen und dazu gab es im Ursprung ein Verb, das verloren gegangen ist mit der Bedeutung von „haben“ und „besitzen“. Es steckt noch im Wort „aneignen“. Wenn du die Worte „eigenständig“, „eigenmächtig“ und „eigennützig“ hörst, dann klingt das durchaus kraftvoll und energisch. Da verbirgt sich kein „aber“. Ich mache mir etwas zu eigen. Da gehört etwas substantiell zu mir und zu meiner Persönlichkeit. Ich mache etwas wirklich „eigentlich“. Es könnte hilfreich sein, dem Wort „eigentlich“ wieder etwas von dieser Bedeutung zurückzugeben.
Wie klingt es für dich, wenn du den „Eigentlich – aber“ Satz veränderst, so dass das „Eigentlich“ wieder seine Kraft bekommt? Mein Vorschlag: „Eigentlich muss ich in den Garten, und…“ Das „Aber“ verwandelt den Wunsch und die Absicht in Negativität. Das „Und“ führt in die Öffnung und in den Möglichkeitsraum. „Eigentlich muss ich in den Garten, und wenn ich mich jetzt aufraffe, werde ich erfolgreich sein.“ „Eigentlich geht es mir gut, und wenn ich noch einmal darüber nachdenke, kann ich genau benennen, was diese guten Teile ausmachen.“
Die tiefere Dimension von eigentlich wird noch spürbarer, wenn wir es Substantivieren und zum „Eigentlichen“ kommen. Dir ist bestimmt der Satz aus dem Kleinen Prinzen vertraut, wo es heißt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Eugen Drewermann übersetzt an dieser Stelle: „Das Eigentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Es gibt etwas, das dich als Menschen ausmacht. Etwas, was vom Ursprung und Uranfang an zu dir gehört. Etwas, das schnell in Vergessenheit gerät oder aus deinem Bewusstsein verschwindet. Deine Einmaligkeit!
In Besprechungen schleichen wir manchmal um die Themen herum bis jemand sagt: „Lass uns doch mal zum Wesentlichen kommen. Was ist der Kern der Sache.“
Vielleicht liegt darin überhaupt die Lust unseres Lebens, das uns Eigene zu finden und auszudrücken. Als wir noch Kinder waren schauten wir auf unsere Eltern und diese brachten uns das bei, was ihnen selber wichtig war. Wir dachten dann, dass das unbedingt und lebenslänglich wichtig ist, für uns als Kinder und im erwachsenen Leben. So macht man das. Unsere Eltern gaben uns ein Bündel von Werten und Vorstellungen mit auf dem Weg in der Hoffnung, dass wir damit gut durchs Leben kommen.
Als Erwachsener halte ich manchmal inne, wenn da so eine Stimme kommt, die mir sagt: „Mach das jetzt mal ordentlich. Was werden die Leute sonst denken!“ „Stell dich nicht so an, das ist doch gar nicht schlimm.“ „Wenn du das angefangen hast, musst du es auch durchhalten. Schließlich haben wir viel Geld dafür bezahlt.“ Beim Innehalten höre ich die Stimme meiner Mutter oder meines Vaters. Aber ist das meine Stimme? Möchte ich mir diesen Wert als Erwachsener wirklich zu eigen machen? Kann ich mich damit identifizieren?
Betrachte ich meine Persönlichkeit, so komme ich mir manchmal vor wie ein zusammengesetztes Mosaik aus vielen bunten Steinen. Ich denke in einer bestimmten Art und Weise. Ich verhalte mich anderen Menschen gegenüber, so wie ich es gelernt habe. Ich gebe nicht einfach so Geld aus, sondern kaufe mit dem erhofften Segen meiner Eltern. Doch was von all dem ist wirklich meines, mein „Eigentliches“? Wofür lohnt sich der Einsatz, in sein Eigentliches zu kommen?
Je mehr du zu deinem Eigentlichen kommst, desto stimmiger wirst du dich fühlen. Deine Eltern haben dich oft ermahnt als du noch ein Kind warst. Die mahnenden Sätze waren so mächtig, dass sie auch funktionierten, wenn deine Eltern gar nicht in der Nähe waren. Ihre Stimmen klangen im inneren Ohr. Das sogenannte „schlechte Gewissen“ besteht letztlich darin, dass sie die Stimmen unserer Autoritätspersonen konserviert haben. Auch als Erwachsener hörst du ständig diese verborgenen Stimmen, die dafür sorgen, dass du dich schlecht fühlst, wenn du das Wertesystem deiner Eltern nicht befolgst.
Wenn du anfängst, dein Eigenes zu machen, dann melden sich die alten Stimmen aus deiner Kindheit besonders stark und sagen dir: „Sei wie deine Eltern. Sei deine Eltern! Mach bitte nicht deins. Das ist nicht gut für dich!“
Aber das Eigentliche, das dir Eigene lässt dich nicht los. Es ruft dich und fordert dich heraus. „Werde wesentlich! Entwickle dich in das dir Eigene hinein.“ Das kann sich zunächst nackt und ungewohnt anfühlen, weil die Erlaubnis fehlt. Doch um in das Eigentliche zu kommen bedarf es der Erlaubnis, die du dir nur selber geben kannst. Der Ruf deiner inneren Stimme, die dir sagt: „Das gehört zu dir!“ Der Weg dahin führt wie durch einen dunklen Tunnel und diesen Weg muss jeder Mensch selber gehen. Am Ende des Tunnels vollendet sich die Verwandlung und du triffst lauter Menschen, die in ihr Eigenes gegangen sind. Der Ausdruck kann sehr unterschiedlich sein, sehr individuell. Doch das ist nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist lediglich die Erfahrung, die du selber ausdrückst: „Ich bin in meinem Wesen angekommen. In mein Eigentliches!“ Genau das wünsche ich dir. Und auf keinen Fall weniger als das.
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