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Dienstag, 27. April 2021

Gärt es noch oder kompostierst du schon!


 

In der Mitte unseres Hochbeetes im Garten befindet sich unser Komposthaufen. Die Idee dabei ist die, dass die Nährstoffe so direkt ins Beet geleitet werden. Eine Art Kreislaufsystem. Im letzten Jahr führte es dazu, dass die Schnecken den Platz sehr mochten und den Wechsel zwischen Beet und Kompost. Ich weiß nicht, ob es da drin nur gärt oder ob der Bioabfall sich tatsächlich ordentlich umwandelt. Das Prinzip habe ich noch nicht ganz verstanden und bräuchte eigentlich Nachhilfeunterricht. So ein Komposthaufen kann vor sich hin trocknen, schimmeln, gären oder sich fruchtbar verwandeln. Ein wunderbares Bild und Modell für unser Leben. Und darüber möchte ich heute mit dir nachdenken.

Bei meiner letzten Supervision gab es eine interessante Idee, wie wir mit negativen Erlebnissen gesünder und angemessener umgehen können. Wir können das, was geschieht so verarbeiten, dass wir es abschließen und für die Zukunft fruchtbar machen. Ereignisse können aber auch unverarbeitet und unverdaut in uns weitergären, herumfaulen und uns schleichend vergiften, weil wir es einfach nicht loswerden.

Welche Ereignisse meine ich? Zuerst fallen mir natürlich die Kränkungen ein. Als ich noch Pfarrer war und der Bischof mich gegen meinen Willen versetzen wollte hat mich das sehr gekränkt. Nicht die Versetzung an sich. Das gehört zum Pfarrersein dazu. Man bleibt eine bestimmte Anzahl von Jahren und wechselt auch mal wieder. Gekränkt hat mich der Weg dahin und die Art und Weise. Es gab keine guten Gespräche und Dialoge. Mir fehlten die Fürsorge und die Bereitschaft, meine Anliegen wirklich zu hören. Ich fühlte mich übergangen und nicht gesehen. Die ersten Monate, nachdem ich die Gemeinde verlassen hatte, befand ich mich in einer tiefen Depression und Kränkung. Ich konnte nicht glauben, dass die Kirchenleitung so mit Menschen umgehen kann.

Nach ein paar Monaten wurde mein innerer Zustand nicht wirklich besser. Ich hatte das Gefühl, dass die Kränkung nicht weichen wollte. Insgeheim hoffte ich auf einen Brief des Bischofs mit der Bitte um Entschuldigung. Der kam natürlich nicht. Es kam nichts außer der Aufforderung, wieder in den Dienst zurückzukehren. Das hat meine Kränkung noch verstärkt und ich bin endgültig gegangen. Das war zwar eine Lösung, mit meinem Ärger umzugehen, was aber blieb war die Kränkung und das Gefühl der Ungerechtigkeit und Enttäuschung. Im Bild des Bioabfalls: Der Prozess des Gärens hörte nicht auf.

Was passierte bei meinem eigenen Gärprozess? Ich kehrte in Gedanken immer wieder zurück zu den damaligen Ereignissen und war frustriert, ärgerlich, enttäuscht. Mir kamen Freunde und Feinde in den Sinn und die Phantasiebilder, wer hätte was anders machen müssen oder sollen. Wer war schuld!  Wer hat versagt! Diese „Gärschleifen“ wurden im Laufe der Zeit weniger und auch nicht mehr so heftig, aber sie hielten sich dennoch hartnäckig über mehrere Jahre.

Ein Gärprozess bewirkt ja, dass da nicht wirklich etwas Fruchtbares passiert. Es hat so etwas Passives, Abwartendes und Ohnmächtiges. Es brodelt, ohne dass ich aktiv eingreife und vergiftet im Laufe der Zeit meinen Geist und meinen Körper.

Irgendwann las ich einem Buch den Unterschied vom Gären und vom Kompostieren und mir wurde schlagartig klar, dass ich mit dem Gären aufhören musste und wollte. Ich las nämlich von einem Psychologen in Berlin, der mit ehemaligen DDR-Bürger arbeitete, die an ihrem sozialistischen System festhalten wollten und das Verlorene sehr vermissten. Angelehnt einer posttraumatischen Belastungsstörung nannte er das Phänomen „posttraumatische Kränkungsstörung“. Damals dachte ich: „Das habe ich auch!“ Ich litt an einer posttraumatischen Kränkungsstörung. Jetzt hatte ich aber noch ein zweites Bild und einen Ansatz zur Lösung. Ich befand mich bis zu dem Zeitpunkt noch in einem Prozess der unaufhörlichen Gärung. Mir war sofort klar, dass kompostieren besser ist. Doch worin liegt der Unterschied.

Kompostieren ist in meiner Vorstellung ein aktiver Vorgang. Es findet ein Zersetzungsvorgang statt durch Bakterien und nach und nach geschieht eine Umwandlung. Ich musste also nur aktiv werden. Lösungsorientierte Gedanken entwickeln. Dankbare Gefühle bekommen. In die Handlung gehen. Zeigen, dass ich das Heft des Lebens selber in die Hand nehmen kann. Ich muss nicht auf ein Wunder warten. Ich kann für die kleinen Wunder selber sorgen.

Wie habe ich das für mich jetzt umgesetzt? Meine Gewänder, die immer noch im Schrank lagen, habe ich einem indischen Priester geschenkt. Dem Bischof habe ich geschrieben und noch einmal mit ihm gesprochen. Das Gespräch war versöhnlich und fruchtbar. Der Bischof konnte durchaus Fehler in seinem Handeln einräumen und ich habe auf eine Entschuldigung verzichtet. Es gab und gibt noch ein paar weitere kleine Schritte, aus dem wertvollen Bioabfall Kompost zu produzieren. Aber die wichtigste Erkenntnis für mich bestand darin, den Prozess selber in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Das „Was!“ ist dabei nicht entscheidend, sondern das „Das!“

Ich habe etwas ausführlicher heute von meinem Prozess erzählt, damit du ein besseres Bild davon bekommst, wie ich das mit dem Gären und Kompostieren meine. Wenn ich noch einmal Bezug nehmen darf auf die Corona Krise, so denke ich, dass wir da auch eher in einem Gärprozess uns befinden als dass wir kompostieren.

Im letzten Jahr dachte ich, dass wir im Sommer mit dem Thema durch sind. Wir reflektieren die Pandemie, betrauern die Verluste, richten uns auf die Zukunft aus und lernen für einen besseren Umgang für die nächste Krise. So hätte sich kompostieren angefühlt. Durch die ständigen Verlängerungen des Lock Down sind wir in eine Art Dauerkrise geraten. Der Prozess zermürbt. Er macht müde und es bleiben ständige Unsicherheiten. Bevor eine Nachricht verdaut ist, gibt es schon die nächste. Die Regeln von heute sind nicht die Regeln von morgen. Ständig gibt es Ungereimtheiten und unlogische Schritte. Was bewirkt dieser Gärprozess in unserem Land? Wie wirkt sich das dauerhaft auf unsere Kinder aus? Wie vor allem erlebst du das heute und in diesem Augenblick. Hast du einen Weg gefunden, damit umzugehen? Gibt es Konstanten, die trotz allem bleiben und dir Halt und Sicherheit geben? Hast du noch die Bewusstheit genügend handlungsfähig zu sein?

Es scheint ein wenig so zu sein wie bei der Geschichte mit den beiden Fröschen, die in einen Kontakt kommen mit zu heißem Wasser. Wirfst du einen Frosch ins kochend heiße Wasser springt er sofort heraus. Wenn du einen Frosch ins warme Wasser setzt und die Temperatur nach und nach erhöhst verpasst er den Zeitpunkt des Herausspringens und stirbt.

Haben wir uns so an Corona gewöhnt, dass wir unsere Handlungsspielräume nicht mehr wahrnehmen? Dass es so irgendwie von selber herumgärt und wir verlernen, ordentlich zu verdauen und zu kompostieren?

Stell dir zunächst vor, du würdest Corona gären lassen und im Anschluss stell dir vor, du würdest ab sofort kompostieren. Worin läge da der Unterschied. Was würdest du ab sofort anders machen? Was würdest du weiterhin den Behörden überlassen? Welche Regeln würdest du befolgen und wo würdest du aber auch etwas riskieren? Welche Räume könntest du dir trotz aller Einschränkungen erobern, die du bislang nicht wahrgenommen hast?  

Wir waren über Ostern auf Teneriffa. Der Urlaub war schon vor dem letzten Lock Down geplant und wir haben die Chancen einfach wahrgenommen. Die Lücke gesucht und gefunden. Wenn ich davon erzähle fragen die Menschen zuerst: „Geht denn das?“

Das scheint mir im Moment eine Hauptfrage zu sein: „Was geht denn noch?“ Und die Schlussfolgerung: „Fast nichts mehr!“ Das dürfen wir einmal prüfen.

„Geht denn das?“ Darf der Frosch aus dem Wasser springen? Musst du deine Dinge gären lassen? Darfst du etwas machen? Kannst du etwas machen?

Was du machst, ist nicht so wichtig. Es geht mehr und mehr darum, überhaupt wieder ins Handeln zu kommen. Sich Freiräume zu erobern und das Leben selber in die Hand zu nehmen. Es wird nicht sein wie vor der Krise. Da gibt es eindeutige Wegversperrungen. Es geht darum, sich vom Problemraum zu verabschieden und sich in den Lösungsraum zu begeben.

Wenn ich verreisen möchte und in die Verordnungen der Bundesregierung schaue dann steht dort als erster Satz, dass ich grundsätzlich reisen darf. Das gehört zu den bürgerlichen Freiheiten. Dann kommt eine lange Liste der Einschränkungen, so dass ich nach und nach den ersten Satz aus meinem Gedächtnis streiche. „Ach, es geht ja doch nicht!“

Ich möchte dich einladen, die Möglichkeiten wieder ins Auge zu fassen. Vielleicht findest du nicht sofort eine Lösung. Aber lass doch mal den Satz auf dich wirken: „Ich lebe in einem freien Land.“

Wenn du diesen Satz auf dich wirken lässt dann kannst du dir die Frage stellen: „Welche Freiräume kann ich für mich nutzen? Woran habe ich bislang noch gar nicht gedacht? Welche Menschen möchte ich wieder treffen und wie kann das mit diesen Bedingungen gut gelingen?“

Zugleich könntest du dir die Zeit nehmen, überhaupt einmal Bilanz zu ziehen über dein Leben. Wenn du eh schon viele stille Zeiten hast, dann fühlt sich das an wie „große Exerzitien“. Eine Sabbatzeit. Spirituelle Menschen sollten das alle paar Jahre machen. Sich eine größere Auszeit gönnen und die Weichen neu stellen. Wie würde das gehen?

Wenn du deine letzten Monate und Jahre betrachtest, könntest du eine Liste anfertigen von Kompost und Gärung? Was konntest du gut verdauen und verarbeiten und woran knabberst du bis heute? Denke an ein Ereignis, das schon lange zurückliegt. Was spürst du dann? Kommt Ärger auf oder Traurigkeit? Wie stark empfindest du das Gefühl? Liegt noch Ladung und Energie drauf? Fängt der Gärungsprozess gleich wieder an? Oder kannst du neutral bleiben. Vielleicht sogar dankbar? Dann ist es Kompost. Überall jedoch, wo du eine starke Emotion bekommst legt sich der Verdacht nahe, dass da immer noch was gärt.

Schau dir zuerst die Kompostliste an. Da hat ein Ereignis dich weiter gebracht in deiner Entwicklung. Da hast du etwas wunderbar bewältigt. Du hast es für dich fruchtbar gemacht. Fühle tiefe Dankbarkeit in dir. Klopf dir auf die Schulter und sei stolz.

Mit dieser Energie nimmst du die Gärungsliste. Lass nicht zu, dass du sofort ohnmächtig wirst oder anfängst zu grollen. Ignoriere dein Kränkungsgefühl und frage dich nach dem ersten kleinen, aber wichtigen Schritt. Welchen kleinen Schritt kannst du jetzt machen. Könntest du diesem Menschen einen Brief schreiben? Wäre es möglich, die positiven Seiten zu sehen von dem, was du bislang nur negativ wahrnehmen konntest? Gibt es etwas zu Vergeben und zu Verzeihen? Kannst du in diesen Prozess Liebe hineinschicken nach so vielen Jahren? Magst du die eigenen Anteile neu in den Blick nehmen und bewerten? Was ist dein eigener Anteil am Zustand der Gärung?

Wenn ich an den Frühling denke geht es darum, den Garten zu bestellen. Kompost ist dabei sehr förderlich. Ich kann für mein Leben in den Blick nehmen, was wachsen will. Es ist immer noch möglich, etwas zu säen und am Ende zu ernten. Vielleicht muss ich die Anbaumethoden anpassen, aber das kann ich ja mal beschließen und probieren. Ich wünsche dir ein erfolgreiches und fröhliches Kompostieren deiner inneren Bioabfälle.

 

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