Wenn der Herbst kommt, werden die Fruchtfliegen hoffentlich verschwinden bis zum nächsten Jahr. Seit ein paar Tagen scheinen sie sich zu vermehren und bevölkern die Küche. Sie sitzen im Schrank bei der Schokolade oder auf dem Rand der Rotweinflasche. Vor allem mögen sie unseren biologischen Abfall. Ich mag sie nicht und darum wird es Zeit, sie einmal zu würdigen. Nicht die Fruchtfliegen an und für sich. Ich möchte das beleuchten, wofür sie stehen und was sie mir über das Leben sagen können.
Erste Erkenntnis: Fruchtfliegen halten sich dort auf wo es gärt.
Wenn Obst reift
fängt es irgendwann an zu gären. Da ist dann ordentlich was los im Obst. Bakterien
verrichten ihre Arbeit. Dabei wird Energie freigesetzt! Da laufen starke
Veränderungsprozesse. Es fängt an zu riechen und der Geruch wird immer stärker.
Das Obst befindet sich sozusagen in einer existentiellen Krise und geht über in
einen Sterbeprozess.
Wir Menschen
machen um Veränderungen und Krisen oft einen weiten Bogen. Wir haben es gerne
beständig. Mit Wachs behandeltes Obst vermittelt die Illusion ewiger Jugend.
Alles soll bleiben wie es ist. Wenn Veränderungen, dann bitte sanft und ohne
Krise. Und vor allem ohne Gestank. Leider sind menschliche Veränderungen oft
mit Konflikten verbunden. Unsere Konflikte gleichen den Gärprozessen im Obst.
Die Fruchtfliege haut da nicht ab sondern fliegt mitten hinein. Sie liebt
diesen Veränderungsprozess, weil sie ihre Eier ablegen kann. Dort gibt es
Nahrung und Energie. Sie weiß, dass dort etwas zu holen ist. Sie macht ihre
Geschäfte mit dem, was andere nicht mehr wollen.
Davon könnte ich
doch lernen! Dort, wo es gärt im Leben, finde ich zugleich Energie. Auch wenn
Konflikte nicht so gut aushaltbar sind, bergen sie doch spannendes Material. Wo
sich etwas verändert geschieht Leben. Da ist was los! Sterben kann ich auch
noch morgen. Wir suchen ja manchmal unsere Quellen in der Ruhe und in der Erholung.
Im Abschalten und im Urlaub. Und – wenn es dort tot ist? Wenn sich dort nichts
findet? Die Fruchtfliege nutzt die Gärungsprozesse für ihre eigenen
Angelegenheiten. Ein sehr geschickter Umgang mit Veränderungen und Krisen.
Zweite Erkenntnis: Fruchtfliegen kommen hartnäckig wieder.
Die Fruchtfliege
lässt sich nicht abschrecken. Wenn ich sie mit der Hand verscheuche dreht sie
ein oder zwei Runden und kommt wieder. Nur wenn ich sie töte, gibt sie auf.
Zwangsweise! Sie steht einfach auf gärendes Obst. Um ihr Ziel zu erreichen
riskiert sie ihr Leben.
Mir fehlt
manchmal diese Hartnäckigkeit. Ich lese eine Gebrauchsanweisung und wenn ich
sie nicht verstehe dann kann ein Gerät schon mal ein paar Wochen liegen
bleiben. Ich bitte einen Freund um Unterstützung und wenn dieser ablehnt, dann
gebe ich auf. Aber einmal habe ich mich auf die gleiche Stelle zwei Mal
beworben. Auf die Stelle, wo ich jetzt arbeite. Beim ersten Mal erhielt ich einen
ablehnenden Brief. „Vielen Dank, aber wir haben uns schon entschieden.“ Ein
paar Wochen später stand die gleiche Anzeige wieder in der Zeitung. Ich bewarb
mich noch einmal. Mit dem gleichen Text. Nach dem Prinzip der Fruchtfliege! Ich
wollte da hin. Dann musste ich eben noch einmal fliegen. Es gab zu mir jedoch
eine Alternative. Ich blieb hartnäckig und so wurde ich genommen.
Weißt du, wie oft
du im Leben einfach nur zu früh aufgegeben hast? Du hättest nur noch einmal nachfragen
müssen? Wie viele Chancen hast du dir dadurch vergeben? Es gibt ja diese
lästigen Werbeanrufer von Energieunternehmen oder Weinhändlern. Die machen es
wie die Fruchtfliegen. Sie bleiben einfach dran. Wenn es nicht ab und zu
erfolgreich wäre würden sie es doch nicht machen, oder? Fruchtfliegen denken
nicht nach. Sie machen einfach. Immer dem Geruch nach und ab auf die
Nahrungsmittel. Ich glaube, dass wir manchmal zu viel nachdenken. Ich könnte ja
mal überlegen, auf welchem Feld des Lebens sich mehr Hartnäckigkeit positiv auswirken
würde. Ein paar Monate lang habe ich zum Beispiel in jeder Bäckerei nachgefragt,
ob sie auch Kuchen mit Dinkelmehl hätten. Lange Zeit tat sich nichts. Inzwischen
jedoch finde ich das Gewünschte bei dem einen oder anderen Bäcker. Ich sollte
diese Hartnäckigkeit wieder aufnehmen.
Im
Lukasevangelium wird von einer benachteiligten Witwe erzählt. Sie versucht, bei
einem gewissenlosen Richter ihr Recht durchzusetzen. Der gibt irgendwann nach, nur
weil er seine Ruhe haben will.
Hartnäckigkeit
setzt voraus, dass ich mit Ablehnungen und Zurückweisungen umgehen kann. Ich
kenne solche Menschen, die das wunderbar können. Da bleibt mir manchmal der
Mund offen stehen. Sie bleiben unbeeindruckt einfach dran. Wenn ich abgelehnt
werde mit einem Anliegen dann gehe ich erst mal in heftige Gefühle von Ärger
oder Trauer. Das wiederum macht mich unfähig, wieder nachzufragen.
Vielleicht können
andere das besser als ich, weil sie sich nicht so ärgern oder weil sie
Zurückweisungen besser verkraften können. Aber ich könnte mich doch wie die
Fruchtfliegen einfach weiterentwickeln. Ich muss ja nicht bis zum Ende meines
Lebens angsterfüllt bleiben. Das Leben ist doch sowieso ein Abenteuer, nicht
wahr? Wenn ich nichts wage kann ich mich auch gleich in einen Sarg legen. Oder
ich richte mich nur ins Überleben ein. Die Fruchtfliege sagt mir: „Überleben
ist überflüssig wie Fußpilz. Sterben muss ich sowieso. Aber jetzt will ich ran
an die Töpfe!“
Dritte Erkenntnis: Fruchtfliegen machen eine ordentliche Metamorphose vor ihrem ersten Flug.
Die Larve ernährt
sich vom gärenden Obst und danach verpuppt sie sich. Während dieser Zeit nimmt
sie keine Nahrung mehr zu sich und wartet ab. Sie wartet ab, bis sich der
Körper umgebaut hat zur Fliege.
Ich lebe oft ein
anderes Prinzip. Hier noch was tun und da noch was tun. Ist es jetzt gut? Nein,
noch nicht ganz! Ich könnte da noch mal anrufen und da noch mal nachschauen.
Und wenn alles getan ist, bin ich in Gedanken immer noch damit beschäftigt. War
es richtig so? Nicht doch besser anders? Erst, wenn das Ereignis herum ist
tritt Stille ein. Die Fruchtfliege „gönnt“ sich eine Zeit der völligen Stille.
Sie macht nichts und wartet einfach ab. Was geschehen muss, geschieht von
selbst.
Zum Wachsen und
Werden gehören solche Phasen unbedingt dazu. Phasen, in denen die Dinge wie von
selber geschehen. Ich habe den Eindruck, dass wir uns solche Zeiten immer
weniger gönnen. Alles muss kontrolliert werden. Prozesse werden perfektioniert
und genormt. Zeitabläufe sollen verkürzt werden. Aber Wachstum folgt in einer
bestimmten Phase den eigenen Gesetzen. Wenn ich mich schlafen lege lasse ja
auch los. Ich höre auf, noch etwas zu regeln. Die Welt läuft eine ganze Nacht weiter
ohne mich und ich steige währenddessen aus.
Aber wenn ich
wach bin, dann muss ich wieder mitmischen im Weltgeschäft. Ich kann ja Einfluss
nehmen. Aber die Fruchtfliege lässt für eine wichtige Phase ihres Lebens einfach
los. Metamorphose. Umwandlung von A nach B. Vorher fressen und hinterher fliegen.
Alles zu seiner Zeit. Hefeteig muss auch gehen. Kann ich loslassen? Lange genug
loslassen? Zum richtigen Zeitpunkt? Wenn ich loslasse werde ich zum Beobachter
meiner selbst. Diese Position kann ich empfehlen. Manchmal zum Beobachter
seiner eigenen Prozesse zu werden. Irgendwann ist es so weit und die
Metamorphose ist abgeschlossen.
Auch in Zukunft
werde ich alles dafür tun, die Fruchtfliegen loszuwerden. Es bleiben aber ein
paar Erkenntnisse: Ich darf da sein, wo das Leben heftig tobt. Ich bleibe hartnäckiger
bei den Wünschen und Bedürfnissen. Und ich nehme mir die Zeiten, die es braucht
damit wachsen kann was wachsen will.
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