Wie schnell kann es geschehen, dass ich mich getrennt fühle. Dazu reicht schon ein kleiner Anlass mit großen Auswirkungen. Ich stehe zum Beispiel am Morgen auf und möchte mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren. Mein Hinterrad ist platt und ich kann nicht fahren. Und schon gibt es „trennende“ Gedankenketten. Ich mag mein Fahrrad eh nicht mehr, weil es alt ist und schwerfällig läuft. Ich verliere Zeit und muss nun ganz schnell laufen wenn ich den Zug noch bekommen möchte. Ich fühle mich unwohl in meiner Kleidung, weil ich verschwitzt im Zug sitzen werde. Ich bedaure mich jetzt schon am frühen Morgen, weil ich am Ende ja auch wieder zurücklaufen muss. Dann stellt sich mehr und mehr ein Gefühl von Trennung ein.
Ich fühle mich getrennt von meinem Fahrrad, getrennt von meinem
Körper, getrennt von der Tagesenergie und getrennt von einem Wohlgefühl. Zum
Glück erlebe ich solche Zustände nicht jeden Tag. Aber sie passieren immer
wieder und kommen in der Regel ganz plötzlich. Da gibt es ein Ereignis, ein
Gefühl oder einen Gedanken und schon befinde ich mich in einem abgetrennten
Zustand.
In welchen Situationen erlebst du ähnliches? Du fühlst dich wohl und
dann geschieht etwas, das dich aus deiner Mitte bringt. Ein bestimmter Tonfall
deines Partners. Ein Vorwurf. Ein Missgeschick. Die Erinnerung an eine
Kränkung. Du kommst mehr und mehr in ein isolierendes Gefühl. Da drüben ist die
Welt und hier bin ich. Dazwischen ist ein Abgrund und eine Brücke kann ich
nicht wahrnehmen.
Zugleich ist das aber auch ein Teil unserer ganz normalen
Wirklichkeit. Wir sind nun einmal kein Einheitsbrei. Eine große menschliche
Masse von einem einzigen Körper. Wir sind nicht die Erde, aber ein Teil davon.
Sobald das Bewusstsein meiner selbst in mir da ist, bemerke ich den Unterschied.
Da gibt es das Gegenüber mehr oder weniger entfernt und das unterscheidet sich
von mir.
Diese Feststellung hat noch keine Bewertung. Da bin zunächst einmal
ich und dort gegenüber bist du. Wir sind zwei verschiedene Menschen, die
unterschiedlich denken und fühlen. Du könntest auch nicht in mich
hineinkriechen und fühlen wie sich meine Gefühle anfühlen. Ich kann das auch
nicht bei dir. Ich kann mir vorstellen wie es sich anfühlt, wenn du dich
freust. Weil ich ähnliche Gefühle kenne und vergleichen kann. Aber wie tief
deine Freude ist wüsste ich nicht.
Ein Chinese könnte mir etwas von China erzählen und ich bekomme Bilder
im Kopf von Häusern, Bergen und Bäumen. Meine Bilder werden aber nur ähnlich
sein wie die Bilder meines chinesischen Freundes. Und meine Bilder werden sich
eher fremd anfühlen und die inneren Bilder des Chinesen wie Heimat.
Sich von den Menschen und Dingen getrennt zu wissen ist also zunächst
einmal natürlich. Die Welt besteht aus Milliarden von einzelnen Wesen. Ich bin
nicht mein Fahrrad, wenn ich morgens losfahren möchte. Ich bin ich und ich
besteige mein Fahrrad, das von mir ganz verschieden ist. Das Fahrrad lebt in
der Fahrradwelt und ich in der Menschenwelt. Und zwischen uns gibt es einen
Schnittpunkt wenn wir Zeit miteinander verbringen.
Aber was geschieht, wenn ich am Morgen vor meinem platten Reifen
stehe? Dann löst das in mir ein Gefühl und einen Gedanken aus. Ich fühle mich
unwohl. Ich spüre etwas, das sich wie Ärger anfühlt. Ich bedenke die
Konsequenzen und den Zeitverlust und die Arbeit und die Kosten, die auf mich
zukommen. Zwischen meinem Fahrrad und mir entwickelt sich ein Konglomerat von
Fragen, Befürchtungen und Ärger. Es entsteht mehr und mehr ein Raum der
Trennung. Das Fahrrad entfernt sich zwar nicht räumlich von mir, aber
gedanklich und gefühlt.
Je weiter sich das Fahrrad entfernt, desto entfremdender können auch
meine Impulse werden. Was habe ich falsch gemacht? Habe ich nicht aufgepasst?
Bin ich über eine Glasscherbe gefahren? Habe ich mein Fahrrad nicht genug gepflegt?
Bin ich vom Pech verfolgt? Womit habe ich das verdient!
Durch solche oder ähnliche Gedanken vergrößere ich die Entfernung zum
Fahrrad immer mehr. Der Kreis der Entfremdung wird noch größer, wenn ich das
platte Fahrrad als Symbol für mein ganzes Leben sehe.
Was habe ich in den letzten Wochen alles platt gemacht? Bin ich vom
Wesen her unaufmerksam oder zerstörerisch? Wo verfolgt mich das Pech denn noch?
Warum muss ich immer über Glasscherben fahren? Das wird ein teures Jahr! Die
anderen Menschen haben viel mehr Glück und sind bevorzugt. Womit habe ich das
verdient!
Auf einmal bin ich voller Fragen, die in die tiefere Trennung führen
und die Antworten, die ich erhalte, lassen mich wiederum tiefer sinken in die
Traurigkeit. Das nennt man dann wohl Depression.
Vielleicht denkst du, dass das mit dem Fahrrad übertrieben ist. Du
machst dir da keine Gedanken oder Gefühle zu. Du reparierst einfach und dann
ist alles wieder gut. So mache ich das auch - normalerweise. Aber nicht
unbedingt am frühen Morgen, wenn ich losfahren möchte.
Das Fahrrad ist auch nur ein Beispiel. Schlimmer wird es ja dann, wenn
es um konkrete Menschen geht, die ich mag. Du sitzt am Sonntag mit deiner
Familie am Frühstückstisch und alle wollen einen Ausflug machen. Du aber nicht.
Du hast eigentlich etwas vor, worauf du dich die ganze Woche schon gefreut
hast. Deine Familie strahlt dich an und möchte mit dir den Ausflug machen. Was
machst du? Spürst du den Stich in deinem Herzen? Oder kannst du deine Pläne
sofort über den Haufen werfen und dich mitfreuen? Oder kommen dir
Trennungsgedanken wie: „Schon wieder werde ich nicht gesehen mit meinen
Bedürfnissen. Eigentlich möchte ich heute lieber etwas für mich machen. Ich
verderbe sowieso allen die Laune wenn ich so missmutig mitfahre.“
Wenn du ehrlich bist wirst du feststellen, dass ein Tag nie so genau
verläuft wie du es dir ausgedacht hast. Es kommt immer etwas dazwischen. Selten
läuft es völlig reibungslos und nur zu deiner Zufriedenheit ab. Ständig ist
deine Fähigkeit gefragt, spontan umzudenken. Vielleicht gehörst du zu den
Menschen, die das sogar mögen und für die das kein Problem ist.
Leider bewerten wir oft die Ereignisse und machen uns das Leben
dadurch schwerer als wir müssten. Außerdem befinden wir uns in einer Welt, die
Trennung über alles liebt. Beim Fußball braucht es zwei Mannschaften, die
gegeneinander kämpfen. Wenn du die Nachrichten anschaust hörst du nur von
Skandalen, Intrigen, Verlusten und Katastrophen. Du wirst förmlich überschüttet
mit Negativität. Die Welt ist korrupt und schlecht. Die Feinde lauern überall –
in Russland, Syrien und in den USA. Die eigenartigen Präsidenten bekommen mehr
Aufmerksamkeit als sie verdienen.
Was geschieht aber mit dir und deinem Geist, wenn du diese Negativität
ungefiltert zulässt? Du wirst überschüttet mit Adrenalin und Kortisol. Lauter
Hormone, die dich in einen Stresszustand versetzen. Du kommst in so eine Art
Überlebensmodus. „Wie schaffe ich es, bis morgen nicht unterzugehen!“ Du kommst
aus deiner Mitte und aus deinem Gleichgewicht. Du wirst anfällig für falsche
Heilsversprechen, für die Werbung, die dir ein besseres Leben verspricht und
für Versicherungen, die du eigentlich nicht brauchst. Du erlebst dich wie eine
ängstliche Maus in einem gefährlichen Dschungel. Morgen schon bist du tot. Dir
bleiben noch wenige Stunden.
Das Leben kann immer einmal wieder gefährlich werden. Ganz normal. Ich
kann etwas essen, das ich nicht vertrage. Ich kann einen Verkehrsunfall haben.
Ich kann arbeitslos werden oder schwer erkranken. Ich muss es mir aber nicht
ständig herbeidenken. Die Welt ist voller Möglichkeiten, trennende Gefühle und
Gedanken zu produzieren. Die Wirtschaft liebt das, weil sie damit ihr Geld
verdient. Entweder durch Verlockungen oder durch Angst.
Sind wir Menschen also hilflos und dem Schicksal ausgeliefert? Wir
befinden uns im Frieden und leben im Geiste so, als hätten wir Krieg!
Wenn wir Menschen bewusste Wesen sind, dann können wir uns
entscheiden. Wir können uns dafür entscheiden, dass wir uns lieber verbinden.
Ich kann in jeder noch so lebensfeindlichen Situation einen verbindenden
Gedanken entwickeln oder ein verbundenes Gefühl. Das ist auf jeden Fall
heilsamer für meine Seele.
Ich kann also am Morgen vor meinem platten Fahrrad stehen und mich
freuen über die vielen Fahrten mit einem heilen Reifen. Ich kann planen, wie
ich es lustvoll wieder ans Laufen bekomme. Ich kann überall hin einen liebenden
Gedanken schicken. Wenn mein Arbeitgeber mit mir unzufrieden ist kann ich ihm
dennoch einen lichtvollen Tag wünschen. Wenn ich die innere Freiheit habe!
Dazu braucht es so etwas wie eine Grundsatzentscheidung, die ich jeden
Tag erneut treffe. Egal, wie viel Trennendes ich erlebe und mir begegnet – ich
entscheide mich für die Verbindung. Ich kann mich sogar mit meinem
„Trennungsgefühl“ verbinden. Ich spüre zum Beispiel einen inneren Ärger und
habe Verständnis für mich. Es macht Sinn, ärgerlich zu sein und ich bin mit mir
ganz einverstanden.
Wenn ich mich verbinde, dann sehe ich mehr die Möglichkeiten als den
Mangel und die Einschränkungen. Wenn ich aber in meiner Kränkung bleibe, dann
bekomme ich nichts. Ich bin gekränkt und enttäuscht und habe zusätzlich jetzt
die Isolierung und Einsamkeit. Erst, wenn der andere auf mich zukommt und sein
Unrecht einsieht, komme ich heraus aus meinem Schneckenhaus. Das kann ich so
machen, aber währenddessen sitze ich dort in meiner einsamen Ecke und habe
Trennungsgefühle.
Wie kann es uns gelingen, dass die Trennungen nicht mehr so viel Macht
über uns haben? Dass wir uns nicht mehr so schnell hinreißen lassen von den
negativen Einflüssen? Wenn ich mich erinnere an meine mir innewohnenden
göttlichen Qualitäten, wächst die Bereitschaft, damit auch zu arbeiten. Das
braucht Lust, Bewusstsein, Entscheidung und Training.
Wenn ich mein Leben als ein Geschenk betrachte dann befinde ich mich
in einem Gefühl der Verbundenheit. Ich kann dieses Geschenk behüten, pflegen
und es wertschätzen. Ich kann jeden Tag etwas dafür tun, dass ich den Blick
dafür nicht verliere, sondern das „geschenkte Feld“ vergrößere.
Die schöpferische Qualität, mit der wir Menschen das machen, nennen
wir Liebe. Lieben ist also die einfachste Art und Weise, sich immer wieder zu
verbinden wenn etwas Trennendes auftaucht.
Wenn ich liebe dann spürt das mein ganzer Körper. Er wird überflutet
von Dopamin und Serotonin. Von den Hormonen also, aus denen der Glücksfaktor
zusammengesetzt ist. Der Kern der christlichen Botschaft ist nicht eine
Kirchenverfassung sondern die Frage nach dem Gelingen der Liebe. Wie sähe eine
Kirche aus, die wirklich liebt? Was wäre da anders? Wie sieht dein eigenes
Leben aus, wenn du ganz in der Liebe bist? Bist du es womöglich schon? Das wäre
fantastisch! Auf jeden Fall wünsche ich dir noch mehr davon. Mögest du in der
Liebe und im Bewusstsein der Verbundenheit reich gesegnet sein.
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