In meinem „früheren“ Leben konnte ich es mir leisten, jeden Tag einen
Mittagschlaf zu halten. Meine „Heilige Stunde“. Als Seelsorger hatte ich keinen
festen 8 Stunden Arbeitstag, sondern es verteilte sich von 08.00 Uhr bis 22.00
Uhr. Meine Idee war, wenn ich jeden Mittag eine Pause mache von einer Stunde,
kann ich den Tag gut bewältigen. Irgendwann war ich der festen Überzeugung,
dass mein Körper diese Zeit dringend braucht. Regelmäßig nach dem Mittagessen
fuhr mein System herunter und schaltete auf Standby.
Als ich meine Tätigkeit wechselte verschwanden dieser Glaubenssatz und
diese Körpererfahrung über Nacht. Der Mittagschlaf war ein Teil meiner
Identität. Das gehörte zu meinem Leben dazu. Eine Gewohnheit mit viel Macht. Mich
zog etwas in die Horizontale. Dann war es nicht mehr möglich und ehrlicherweise
auch gar nicht nötig.
Es macht Sinn, diesem Phänomen ein wenig neugierig auf die Spur zu
kommen. Nichts ist sofort eine Gewohnheit. Es gibt immer ein erstes Mal. Ich
kaufe am Samstag auf dem Markt ein. Dafür fahre ich zuerst zur Tanke und kaufe
die Tageszeitung. Dann geht es weiter zum Brotstand und zu den Eiern. Ich
schließe mit einem kleinen Blumenstrauß für 3,50 Euro. Mit dem Bauernbrot fing
alles an. Später kamen dann die Eier dazu und noch später die Tageszeitung. Ich
absolviere an jedem Samstag diese Tour fast zur gleichen Zeit und treffe auch
ganz bestimmte Menschen immer wieder. Die Frau am Käsestand greift schon zum
Gouda und der Eierhändler wartet schon auf meine leere Eierschachtel. Je länger
ich das mache, desto gewohnter wird für mich dieser Gang.
Das, was zu Beginn neu und „ungewohnt“ ist wird im Laufe der Zeit zu
einer „Gewohnheit.“ Da steckt das Wort „wohnen“ drin. Ich möchte also so leben,
dass es sich wohnlich anfühlt. Dass ich den Tag stressfrei leben kann. Dass es
sicher ist und dass ich mich darauf verlassen kann. Die Gewohnheit steigert
mein Wohlbefinden. Die Erde kreist um die Sonne und der Tag hat vierundzwanzig
Stunden und mein Schlüssel passt zu meiner Haustür.
Je mehr Gewohnheiten ich sammeln kann, desto sicherer fühle ich mich.
Alles geht seinen gewohnten Gang vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Ich
richte mir mein Leben wohnlich ein. Und? Bekommst du so wie ich in diesem Moment
eine leichte Beklemmung? Oder denkst du: Ich mach das auch so ähnlich?
Wie! Wo bleibt die Spontaneität. Das Leben! Das Abenteuer! Die neuen
Möglichkeiten! Na ja, das ist halt der Preis. Möchtest du Sicherheit oder
lieber Autonomie? Viele Gewohnheiten garantieren dir ein dauerhaft sicheres
Lebensgefühl. Wenige Gewohnheiten geben dir Platz und Zeit für viele Abenteuer.
Du könntest also in dich gehen und überprüfen, wo deine genauen Bedürfnisse
liegen. Du machst dir dann eine bunte Tüte von strukturierenden Gewohnheiten
und Freiräumen für deine Abenteuer. Der gewohnte Gang am Samstag zum Markt und
anschließend einen Ausflug.
Das würde aber voraussetzen, dass da jemand ist, der das jeweils neu
entscheidet. Es muss jemanden geben, der eine Gewohnheit ablegt oder verändert.
Es müsste dir also bewusst werden, dass du dir etwas angewöhnt hast und dass du
dir es wieder abgewöhnen kannst. Coaches und Trainer sind ja für solche
Veränderungsprozesse spezialisiert.
Wenn ich mich und meine Gewohnheiten durchdenke komme ich allerdings zu
einem erschreckenden Ergebnis. Ein Teil der Gewohnheiten hat sich selbständig
gemacht. Manche Gewohnheiten stoßen mich regelmäßig an und erinnern mich daran,
dass ich jetzt gefälligst etwas zu tun habe. Sie verlangen von mir den Gang auf
den Markt. Wenn ich eine Andeutung mache, dass ich darauf auch einmal
verzichten könnte, taucht da eine innere Stimme auf. „Willst du das wirklich?
Möchtest du den freien Samstag wirklich beginnen mit trockenem Brot und ohne
Eier und Tageszeitung! Weißt du, wie es dir gehen wird, wenn du es nicht
machst? Muss ich dich an deine schlechte Laune erinnern, die du unweigerlich
bekommen wirst? Warum willst du dir selbst den Samstag verderben? Fahr los und
dann hast du es hinter dir. Es ist doch so schön mit all diesen wunderbaren
Dingen am Frühstückstisch zu sitzen. Du kannst doch da so unglaublich entspannen!
Das fühlt sich doch so wohnlich an! Brauchen wir das nicht alle so ab und zu?“
Die Stimme hört nicht auf und ich ergebe mich.
Wenn das so ist – habe ich dann die Gewohnheit oder hat die Gewohnheit
mich! Die Antwort ist eindeutig. Und darin liegt die Macht der Gewohnheit. Sie
ködert sich bei dir ein für ein erstes Mal und verschafft dir Befriedigung.
Dann säuselt sie dir vor, dass du es immer haben kannst. Und dass es ganz
leicht ist. Und schon wird aus dem ersten ein zweites Mal und ein drittes
Mal... und dann zeigt sich die Gewohnheit in ihrer größten Ausdehnung und geht
nicht wieder weg. Die Verwandtschaft von Gewohnheit und Sucht liegen eng beieinander.
Der Unterschied zeigt sich nur noch in den gesundheitlichen Folgen. Die
Gewohnheit hat so viel Macht über uns, weil wir das Gewohnte als wohnlich
empfinden. Wir mögen Wohlbefinden und Sicherheit. Und wenn du dich auf dem Sofa
eingerichtet hast kommst du so leicht nicht wieder hoch. Das würde Energie und
Anstrengung bedeuten.
Viele Gewohnheiten pflegen wir, die uns überhaupt nicht mehr bewusst
sind. Wir machen es einfach. Wir haben die Gewohnheiten unserer Vorfahren
übernommen und machen weiter. Überprüf einmal deine Gewohnheiten und frage
dich, woher sie kommen. Wo legst du vor dem Schlafengehen deine Sachen hin? Wie
verabschiedest du dich? Wie kochst du deinen Kaffee? In welcher Reihenfolge
bereitest du dein Frühstück vor? Hast du deine Kinder getauft, weil es so
gewohnt war und auch noch in der richtigen Konfession? Beschenkst du deine
Lieblingsmenschen am Geburtstag oder wenn du katholisch bist am Namenstag? Was
von dem, was du tust ist Gewohnheit und was ist eine Herzensentscheidung.
Gewohnheiten sind völlig in Ordnung und es gibt sehr schöne und
entspannende, die ich nicht missen möchte. Es geht mir nur um die Macht, die
sie haben und die ihnen nicht zusteht. Manchmal werden Gewohnheiten auch zu
einem Zwang und fühlen sich nicht mehr wohnlich an. Manchmal ist es einfach
gut, es zu erkennen und sich davon zu verabschieden. Dann wir dir bewusst, dass
die Zeit abgelaufen ist und die Zeit wird reif für ein neues erstes Mal.
Schließ mal deine Augen und betrachte deine Lebenswaage der letzten Monate. Wie
viel Gewohnheit und wie viel erstes oder zweites Mal kannst du entdecken? Bist
du mit dem Ergebnis zufrieden? Fühlt es sich für dich gut an? Egal, wohin es
pendelt und ob es ausgeglichen ist. Du kannst das ja frei entscheiden. Du
darfst dich einrichten in dem Gewohnten oder auch das Abenteuer wagen. Du bist
ja dein Regisseur. Aber entziehe der Gewohnheit ihre Mächtigkeit und nimm dir
das Leben wieder.
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