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Mittwoch, 22. Juni 2022

Schlussstriche zieht man nicht mit dem Bleistift!

Wenn du einen Schlussstrich mit dem Bleistift ziehst, kannst du diesen immer wieder ausradieren. Er zählt also nicht. Einen vorläufigen Schlussstrich kannst du so ziehen. Zum Üben und zum Spüren, wie sich Schlussstrich anfühlt.
Aber Energie bekommt der Strich erst mit einer klaren Entschiedenheit. Punkt und Schluss. So wird es gemacht. Der Bleistift kostet mehr Energie beziehungsweise du verlierst sie. Weil du immer wieder an die Möglichkeit denken musst, auch radieren zu können.
Ich kann gut Entscheidungen treffen mit einem Stift, den man nicht ausradieren kann. Das setzt in mir Energie frei und ich mache es dann einfach. Da habe ich keine so große Baustelle mit. Aber ich kenne genug Menschen in meinem Umfeld, die Bleistifte lieben (und hassen zugleich). Die sich nie trauen, den Kugelschreiber zu nehmen. Sie könnten ja was übersehen haben. Es wird ihnen bestimmt leid tun. Da tauchen plötzlich die vielen verpassten Möglichkeiten auf. Hätte ich doch lieber... Um all diese Gefühle zu vermeiden nehmen sie lieber den Bleistift. Sie stehen hungrig vor vielen Restaurants, sitzen dann vielleicht hungrig in einem Restaurant, bestellen ein Wasser und stehen hungrig wieder auf. Oder der Hunger legt sich und es gibt den Satz "Ist ja nicht so schlimm." Der Schlussstrich mit dem Bleistift lässt dich also hungrig zurück.
Meine Baustelle liegt eher darin, so mit Kränkungen umzugehen. Nach einer Kränkung einen Schlussstrich ziehen mit dem Kugelschreiber? Die Kränkung loslassen? Das finde ich echt schwer. Da liebe ich den Bleistift! Ich tue so, also ob. Ja! Ich lasse die Kränkung ziehen. Ich unterschreibe. Und dann werde ich erneut gekränkt oder die Bilder kommen wieder hoch und sofort meldet sich die Kränkung: Ich habe ja nur mit Bleistift unterschrieben! Erst, wenn die Kränkung mit einem Kugelschreiber verabschiedet habe, verliert sie ihre Macht. Manchmal behalte ich aber lieber die Macht der Kränkung. Dann habe ich etwas in der Hand, mit dem ich erpressen kann. "Damals, weißt du noch, hast du mir so weh getan. So richtig Leid tut es dir ja bis heute nicht! Das kannst du sowieso nie wieder gut machen. Da wird immer ein Rest bleiben. Siehst du die Narbe! Wie leicht kann sie wieder aufgehen! Möchtest du das wirklich? Bestimmt nicht. Du willst doch nicht schon wieder unsere Freundschaft riskieren?" Dafür braucht es den Schlussstrich mit dem Bleistift. Ich kann radieren und dieses "wunderbare" Gefühl von Kränkung reaktivieren und die Menschen an mich binden, die mich gekränkt haben. Ich halte die Hand auf und erwarte die Wiedergutmachung.
Leider hat das ganze den Nachteil, dass ich stehenbleibe. Das Leben geht nicht weiter. Es findet keine Entwicklung statt und ich bleibe der Sklave und Abhängige irgendeiner Aktion in der Vergangenheit.
Einen Schlussstrich ziehe ich ja nicht einfach so. Ich denke nach und fasse zusammen. Ich schreibe auf, was wichtig ist und ziehe Bilanz. Den Strich ziehe ich am Schluss. Für mein Seelenheil ist es also gut und hilfreich, dann auch wirklich diesen Strich zu ziehen.
Da gibt es ja noch das, was nach dem Schlussstrich kommt. Der Neuanfang. Die neue Chance! Die neue Möglichkeit. Ich kann mich fokussieren auf diesen Teil der Wirklichkeit und dann besser das alte loslassen. Schlussstriche zieht man besser mit dem Kugelschreiber.
www.matthias-koenning.de

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