Spätestens seit
der Fahrschule weiß ich es ganz praktisch. Beim Überholen in die Spiegel
schauen und einen Blick über die linke Schulter werfen. Links von mir gibt es
einen Bereich, den ich über den Seitenspiegel nicht einsehen kann. Da gibt es
einen toten Winkel. Ein für mich unsichtbares Feld.
Ich weiß um
diesen toten Winkel beim Autofahren und kann darauf achten. Es fordert meine
sorgfältige Aufmerksamkeit und ich muss regelmäßig vor dem Überholen da hinblicken.
Diese Erfahrung
kann ich leicht auf das Leben übertragen. Auch dort gibt es „tote Winkel“.
Bereiche, die existieren, aber unsichtbar sind für meine Augen. Weil ich nicht
hinschauen mag oder dafür einfach zu blind bin. Auf diese toten Winkel möchte
ich gerne mit dir meine Aufmerksamkeit richten. So, wie es inzwischen Spiegel
gibt, die den toten Winkel erhellen gibt es vielleicht auch Haltungen und
Einstellungen, die inneren toten Winkel von der Unsichtbarkeit zu befreien.
Im Film „The
bleep“ wird erzählt, dass die Ureinwohner Amerikas die Schiffe von Christoph
Kolumbus nicht sehen konnten obwohl sie in Sichtweite des Strandes waren. So große
Schiffe aus Holz mit weißen Männern kamen in ihrer Erfahrung nicht vor und das
Bewusstsein weigerte sich, da überhaupt etwas zu sehen, was nicht sein konnte.
In manchen
Internetforen wird diese Idee angezweifelt und als Mythos abgetan. Aber ein
Vater erzählte von seinem Besuch beim Friseur mit seinen Töchtern. Seine
Töchter hätten Läuse und er müsse da was machen. Der Vater selbst konnte aber
zu hause keine Läuse entdecken. Einen Tag später ging er mit den Kindern zum
Hausarzt und die Arzthelferin entdeckte sofort die ersten Nissen. Der Vater
schaute sie sich unter dem Mikroskop an und sah ab dann die Nissen auch auf dem
Kopf der Töchter. Das war für ihn der Beweis, dass es diese
„Kolumbuserlebnisse“ auch heute noch gibt. Ich sehe nicht alles, was ich sehen
könnte. Wenn mir etwas völlig unbekannt ist kann es sich vor meinen Augen scheinbar
verbergen obwohl es offensichtlich da ist.
Vielleicht hast
du es auch schon erlebt, dass du etwas gesucht hast und es lag direkt vor
deiner Nase. So, als ob du den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen könnest. Manche
Menschen kommen zu mir mit einem Problem und wir kommen sehr schnell auf eine Lösung.
Der Ratsuchende wundert sich dann, dass er nicht von selber da drauf gekommen
ist. Eigentlich hätte er es einfach wissen können.
Ich lade dich ein
zu einer kleinen Phantasiereise: Stell dir vor, dass wir beide uns gemeinsam in
einem Raum befinden und uns umschauen. Wir hätten die gleichen Gegenstände in
diesem Raum. Würden wir das Gleiche sehen? So ungefähr schon, aber nicht jedes
Detail. Und jetzt stell dir vor, wir bekämen die einmalige Möglichkeit, für ein
paar Minuten die Augen untereinander tauschen zu können, würden aber unsere Persönlichkeit
und unsere bisherige Lebensgeschichte behalten. Ich sehe mit meiner
Persönlichkeit die Welt mit deinen Augen. Wie würdest du meine Welt wahrnehmen
und wie ich deine? Was würden dann bei dir oder mir für Gedanken auftauchen? Wie
wären die Farbeindrücke und welche Gefühle würden wir bekommen? Was würde dich
oder mich dabei überraschen?
Unser Verstand
gaukelt uns ja ein gewisses Maß an Sicherheit vor. Das, was ich sehe, sehe ich
und ich sehe es umfangreich und ganz wirklich. Ich sehe alles mit meinen Augen
und mir entgeht nichts. Ich behalte den Überblick und kann auch noch die winzigen
Details erkennen. Ich kann mich auf meine Augen verlassen. Und wenn ich eine
Brille trage erst recht. Die Brille bestätigt mich, dass sich meine Kurzsichtigkeit
korrigieren lässt. Ich sehe klar!
Aber sehe ich
alles? Ich wollte mir vor ein paar Jahren einen Teppich kaufen. Ich fand im
Geschäft einen, der mir gefiel und hatte zugleich ein nicht verstehbares ablehnendes
Gefühl. Diese Ambivalenz konnte ich nicht einordnen. Erst, als ich den
dickflorigen Teppich auseinanderbog, sah ich kleine grüne Plastikfäden, die mit
eingewoben waren. Etwas in meinem Körpersystem hat mehr wahrgenommen als die
Augen. Da gibt es Anteile in meinem Körpersystem, die mehr „sehen“ als die Augen.
Wohin wird mich mein
Gedanke führen wenn ich mir vorstelle, dass ich gar nicht alles sehe, was zu
sehen möglich wäre. Meine Augen könnten sagen: Die Straße ist gut ausgebaut.
Ich habe festen Boden unter den Füßen. Dann würde ich loslaufen und plötzlich
abstürzen. Die feste Straße war nur eine Illusion. Ich könnte auf die Idee
kommen und feststellen, dass die meisten Dinge nur eine Illusion sind und wir
reden sie uns sicher, damit wir ein besseres Gefühl haben. Ohne diese Illusionen
würden wir vor Angst vergehen.
Zu mir kam mal
ein Mann in die Beratung und erzählte mir ausführlich davon, wie gut alles
läuft. Ich wartete auf das Problem und – es kam keines. Es war alles in
Ordnung. Worin lag dann der Sinn der Beratung? Er wollte es mir erzählen und im
Erzählen erschuf er sich die Sicherheit, dass wirklich alles gut war. Auch der
Berater konnte keine Gefahr wahrnehmen. Dieser Mann brauchte mich als Berater
um zu überprüfen, ob es für ihn einen toten Winkel gab.
Ich möchte mit
dir noch einen Schritt weitergehen in der Beobachtung des toten Winkels. Ich
glaube, dass wir Menschen auch im Umgang miteinander unsere toten Winkel haben.
Wenn du dich verliebst nimmst du beim Gegenüber nicht alles wahr, was zu diesem
Menschen dazu gehört. Vielleicht schlägt deine Freundin die Hände über den Kopf
zusammen und sagt zu dir: „Wie kannst dich nur in diesen Menschen verlieben.
Weißt du denn nicht...! Siehst du denn nicht, dass ...!“
Du kannst sogar
mit einem Menschen über viele Jahre zusammenleben und siehst nur das Bild, dass
du dir von ihm gemacht hast. Du siehst deine fürsorgliche wohlwollende Ehefrau
und alle anderen in deinem Umfeld denken, wie kannst du dich nur so unterdrücken
lassen.
Bis zu einem
gewissen Alter hast du die Lust, immer wieder neues kennen zu lernen. Die Welt
ist groß und das Abenteuer wartet auf dich. Vielleicht bist du eines Tages satt
und fragst dich, was du wohl übersehen haben könntest. Noch weißt du nicht was.
Aber dir ist klar, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass es da tote Winkel
gibt.
Wie wäre es, wenn
du dich diesen toten Winkeln im Leben einmal widmen würdest? Du richtest deine
Aufmerksamkeit auf diesen Wunsch: „Ich möchte die toten Winkel in meinem Leben
sehen, wahrnehmen und kennenlernen.“ Weckt das in dir Angst oder eher Neugier?
Auf den letzten
Seiten eines Detektivromans steht der Held in der Regel von dem größten Rätsel.
Er hat alles zusammengefügt und dennoch das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen
zu haben. Dann entdeckt er das fehlende Puzzleteil und die Geschichte bekommt
plötzlich Sinn.
Wenn du die Idee
davon bekommst, dass dein Leben sich nicht so ganz richtig anfühlt, oder dass
da irgendwie etwas quer läuft, dann könntest du mal nach toten Winkeln schauen.
Legenden und Mythen erzählen davon, dass das die Lieblingsplätze von Gott sind.
Er hält sich dort total gerne auf. Weil da nicht jeder hinschaut und der Platz
nicht so arg belebt ist, kann es dort zu intimen Begegnungen kommen. Stell dir
vor, dass Gott schon immer in deiner Nähe war, nur halt im toten Winkel. Du
musst nur die Augen ein wenig verdrehen, das Herz in eine andere Richtung
wenden und schon ist der tote Winkel mit Leben erfüllt.
Genau das erzählt
eine alte Sufi Legende. Gott schuf die Erde für den Menschen, aber der Mensch
wollte lieber im Himmel bleiben. Die Engel schlugen also vor, den Himmel
abzuschließen und den Schlüssel zu verstecken. In die Tiefen des Meeres? Auf
dem höchsten Berg? Irgendwo im Weltall? Keine dieser Ideen findet bei Gott
gefallen. Dort werden die Menschen bestimmt suchen. Der Erzengel Gabriel
schlägt vor, den Schlüssel zum Himmel im Herzen der Menschen zu verstecken und
Gott gefällt diese Idee. Dort werden die Menschen bestimmt nicht suchen. In
unserem eigenen Herzen befindet sich also der tote Winkel, wo der Schlüssel zum
Himmel zu finden wäre?
Ich stelle mir vor,
wie ich ständig alles so kompliziert wahrnehme. Ich entwerfe Gedanken, wälze Pläne
und suche nach der hundertsten Lösung noch die hundert und erste. Nie bin ich
einverstanden mit dem, was ich sehe oder mir so ausdenke. Es könnte so einfach
sein, nicht wahr? Der Satz vom kleinen Prinzen bekommt vielleicht hier noch
eine kleine Färbung: „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Das Auge
sieht nicht den Raum, der sich im toten Winkel befindet. Der tote Winkel
zirkelt ja einen bestimmten Raum ab. Einen Raum, den ich mir doch einmal
anschauen könnte.
„Warst du auch
auf der Party? Ich habe dich gar nicht gesehen!“ „Was, du bist schon seit einem
Jahr so traurig? Ich habe nichts davon bemerkt!“ „Ich hätte schon vor einem
Jahr kündigen sollen, aber ich wollte nicht hinsehen und habe mir alles
irgendwie schöngeredet.“ Warum schauen wir nicht in den toten Winkel hinein? Es
könnte mir Schmerzen bereiten! Da lauert bestimmt eine fette Krise. Noch ist es
ja nicht so schlimm!
Beim Autofahren
habe ich die Chance, im toten Winkel ein herankommendes Fahrzeug zu sehen und
mögliche Gefahren zu bannen. Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich in alle
Räume schauen würde, die ich mit dem toten Winkel aus meinem Blickfeld verbanne?
Ich schaue über die linke Schulter in das verborgene Feld und verliere für
einen Moment die Kontrolle nach vorne. Damit gehe ich ein Risiko ein. Schnell
nach links blicken und dann wieder geradeaus. Aber für einen Moment verliere
ich die Kontrolle. Da könnte für den Augenblick etwas passieren. Beim Blick
nach links in das Feld des toten Winkels. So ist das im Leben auch. Wenn ich in
meine toten Winkel schaue gehe ich ein Risiko ein. Da könnte etwas passieren.
Ich könnte die Kontrolle verlieren. Das Risiko bleibt, egal, wie ich mich
entscheide. Der Raum im toten Winkel lädt mich ein, das Abenteuer zu wagen. Ich
lebe jetzt!
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