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Mittwoch, 9. März 2022

Oft nennen wir das Leben trist, doch nur wenn wir selber traurig und bitter sind. (Khalil Gibran)


Wir nennen das Leben trist, wenn wir traurig und bitter sind. Welch tiefe Wahrheit, nicht wahr? Ich stehe am Morgen auf und die Sonne lugt durch die Ritzen meiner Rolläden. Ich spüre das Licht auf der Haut und meine Gefühle werden warm und wohlig. Ich habe Lust aufzustehen und mir einen Kaffee zu kochen. Ich freue mich auf die Dusche, die mir die restliche Müdigkeit wegwäscht.

Dann stehe ich an einem anderen Morgen auf und es ist Winter. Keine Sonne, die micht begrüßt. Mein erster Gedanke geht hin zu den Aufgaben des Tages. Nicht zu denen, dir mir Lust machen sondern zu denen, vor denen es mir graust. Und schon mag ich nicht aufstehen. Ich fühle mich unverbunden und die Dusche wird zu einer Notwendigkeit, damit ich nicht allzu verschlafen aussehe. Es gibt keine Lust mehr. Es breitet sich im Inneren eine Tristess aus, eine merkwürde Nebelstimmung, die ich kaum definieren kann.

Es fühlt sich auf einmal traurig und bitter an. Dann kann ich an einem solchen Morgen aufstehen und traurig darüber sein, dass ich traurig bin. Eigentlich müsste ich doch dankbar sein! Eigentlich geht es mir doch gut! Warum kann ich es nicht empfinden? Ich schäme mich für meine Undankbarkeit und werde darüber noch trauriger. Ich fühle mich isoliert von meiner Familie, von den Freunden, vom Leben und von der Freude. Wie zurückgelassen und vergessen auf einer einsamen Insel.

Ich lese den Satz von Khalil Gibran: "Oft nennen wir das Leben trist, doch nur wenn wir selber traurig und bitter sind." Allein das Lesen löst in mir Trauer aus. Doch jetzt in diesem Augenblick stoppe ich. Da steht ein Wort, das ich überlesen habe. Wir nennen das Leben trist, "doch nur wenn". Da steht "wenn" und nicht "weil". Ich habe beim ersten Lesen "weil" gedacht. Ich nenne das Leben trist, weil ich traurig bin. Wenn ich "weil" durch "wenn" ersetze ergibt es einen anderen Sinn. Das "wenn" kann ich beeinflussen. Es ist ein zukünftiges Wort. Ich nenne das Leben nur dann trist, wenn ich ich selber traurig bin. Andere nennen das Leben nicht trist, weil sie nicht traurig sind. Ich erlebe das Leben auch nicht jeden Tag trist. Ich erlebe es wohlig, wenn die Sonne scheint. Wenn ich ein verbundenes Lebensgefühl habe. Kann ich das beeinflussen? Kann ich etwas dafür tun, dass ich mich verbunden erlebe auch wenn es gerade mal draußen trist ist. Auch wenn mal gerade die Welt nicht in Ordnung ist? Auch wenn die Beziehungen mal gerade in einer Krise sind? Auch wenn ich gerade mal erschöpft bin? Geht das? Ich werde das Leben nur dann trist nennen, wenn ich traurig bin. Ich kann für einen Moment in meiner Traurigkeit baden und dann das Bad verlassen. Ich kann die Tränen verdampfen lassen indem ich sie zulasse bis sie wie von selbst wieder sich auflösen.
Ich kann taurig sein ohne dass ich das Urteil fälle, dass das Leben an sich trist ist. Ich kann bitter sein und die Deutung dazu einfach weglassen. Das Gefühl fühlen und die Geschichte dazu weglassen. Dann kann ich den Satz noch einmal lesen von Khalil Gibran und bekomme eine neue Idee. Ich spüre die Traurigkeit und bin einverstanden. Die Vorstellung von einem tristen Leben verschwindet und der Trost breitet sich aus.
www.matthias-koenning.de

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