Wie wäre es
einmal mit „Ferien vom Ich?“ Immerhin steht die Urlaubszeit vor der Tür und die
Urlaubsziele stehen hoffentlich fest. Den Alltag hinter sich lassen. Keinen
Stress mehr! Keine Termine im Kalender! Super! Wirst du es genießen können?
Bist du frei von Sorgen und Aufgabenpaketen? Fühlst du dich frei im Herzen?
Oder wirst du deinen ganzen Gedankenmüll mit auf die Reise nehmen. Vielleicht
möchtest du ja auch verreisen in der Hoffnung, am Urlaubsort dein Zeug
loszuwerden. Der Nordseestrand sozusagen als Sammelplatz von Sorgenhaufen! ;-)
In meiner
Erinnerung tauchte vor ein paar Tagen der Gedanke auf: „Ferien vom Ich“. Bei
meiner Recherche stellte ich fest, dass so der Titel eines Buches von Paul Keller
heißt. Eine Idee daraus wurde dreimal verfilmt. Ein gesundheitlich lädierter Milliardär
steigt aus seinem reichen Leben aus und macht anonym eine Art Reha. Pause von
den lästigen Kakerlaken, die nur sein Geld wollen. Flucht vor denen, die sich
in der Sonne seines Reichtums mit bescheinen lassen möchten.
„Ferien vom Ich!“
Geht das überhaupt? Und wenn ja – wie? Und vor allem: Was hätte ich davon, wenn
ich es täte?
In dem Spielfilm
gehört ja zur Identität des Milliardärs sein Geld. Er macht also mal Ferien von
seinem Reichtum und taucht ein in die einfache bürgerliche Welt. Bis zur armen
Hütte reicht es allerdings nicht. Er bleibt „gutbürgerlich“.
Wenn ich Ferien
vom Ich machen wollte müsste ich zuerst wissen, was denn zu meinem „Ich“ so dazu
gehört? Ist das ein Ganzes? Besteht es aus Teilen? Wenn ich mit meinem Namen
gerufen werde, dann rufe ich: „Das bin ich!“ Und ich meine mich irgendwie ganz.
Ein Namensvetter könnte sich zur gleichen melden mit dem gleichen Satz. „Das
bin ich!“ Ich bin dann immer irritiert wenn ich nicht gemeint bin. Für den
Bruchteil einer Sekunde versinke ich in die Existenzlosigkeit. Ich bin für
einen Moment nicht mehr da. Ich wache auf und denke: Menschen mit meinem Namen
gibt es also viele.
Zu meinem „Ich“
gehören zugleich viele Teile. Mein Aussehen und das Bild, das ich selbst von
mir habe. Da gehören meine Familienangehörigen zu und meine Freunde. Meine
Ausbildungen und mein Beruf. Meine guten und meine schwierigen
Kindheitserlebnisse. Meine Fähigkeiten und Eigenschaften, Meine Werte und meine
Persönlichkeit. Meine Wünsche, meine Träume und meine Scham. All dieses und
noch viele Teile mehr würden ein buntes Mosaik ergeben. Ich könnte da die
Überschrift hinsetzen und sagen: „Das bin Ich!“ Auch wenn es mehrere Menschen
mit meinem Vornamen gibt unterscheide ich mich doch recht deutlich. Ich stelle
mich vor den Spiegel und erkenne mich wieder. Da sehe ich niemanden, der so
ähnlich ist wie ich. Ich sehe mich selbst.
Wenn ich mein
Lebensmosaik betrachte könnte ich auf die Idee kommen, dass das Mosaik
irgendwie willkürlich ist. Gebastelt. Könnte auch anders aussehen. Mehr davon
oder sogar weniger? Ich könnte im Urlaub mal reduzieren. Ganz schön viel, was
ich da vom „Ich“ mit herumschleppen muss. Ständig erwartet jemand etwas von
mir. Und ich möchte zugleich meinem eigenen Bild entsprechen. Es gehört ja zu
meinem Ich dazu. Ich gehe regelmäßig zur Arbeit. Ich möchte mich selber so
sehen und auch, dass die anderen mich so wahrnehmen. Ich bleibe nicht einfach
so zu Hause! Ich bin ein Freund und entscheide mich nicht, mal jeden zweiten
Tag ein Feind von meinem Freund zu sein. Die vielen Puzzleteile meines „Ich“
stärken meine Identität und geben mir Halt und Sicherheit. Sie bilden einen
Rahmen, so dass ich nicht auseinanderfalle. Wer wäre ich denn ohne all diese
Teile meines Ich-Mosaikes?
In meinen
Beratungen fällt mir auf, dass manche Menschen sich auf eine eigenartige Weise
selbst beschreiben. Sie sagen zum Beispiel nicht direkt und einfach: „Ich mag
gerne Milch.“ Oder „Ich komme oft zu spät.“ Sie sagen stattdessen: „Ich gehöre
zu den Menschen, die immer noch Milch trinken.“ Sie fühlen sich einer Art
Gruppe zugehörig. Die Gruppe der „Milchtrinker “ oder der „Zuspätkommer“. In
einer Gruppe kann man gut abtauchen oder sich verstecken. Oder durch die
„Gruppe“ fühlt sich der Mensch nicht mehr so allein und unverstanden. Zugleich
klingt es wie eine Rechtfertigung oder Aufklärung. Ich selbst höre allerdings
immer auch mit: „Ich gehöre zwar zu den Menschen, aber ich weiß nicht, ob das
wirklich so stimmt. Und ich schäme mich ein wenig dafür!“ Ich höre also eine
gewisse Unsicherheit mit. So jemand könnte ja auch mal diese Gruppe verlassen.
„Ich gehöre zu den Menschen, die Milch trinken. Aber jetzt verlasse ich die
Gruppe, weil es für mich nicht mehr so notwendig ist.“
Wenn ich mir mein
„Ich-Mosaik“ betrachte komme ich zugleich auf die Idee, dass es da Teile gibt,
die schon lange nicht mehr so richtig passen. Teile, die früher mein „Ich“
ausgemacht haben, die ich immer noch mit mir herumschleppe, obwohl ich es nicht
mehr bin. Wenn ich meine Eltern besuche, dann bin ich immer noch „Sohn“. Ich
fühle mich dann auch manchmal wie 10 oder 15 Jahre. Ich finde das nicht angemessen.
Klar bin ich immer noch Sohn für meine Eltern, aber erwachsener Sohn und nicht
kindlicher Sohn. Dieser hilflose „Ich“-Anteil ist aber immer noch lebendig und
wartet auf einen angemesseneren Platz.
In meinem
„Ichmosaik“ kommen manchmal Dinge hinzu und manchmal verschwindet auch was.
Mein „Kirchen-Ich“ hat sich im Laufe der Zeit stark reduziert. Manchmal
leuchtet er noch auf. Aber vor ein paar Jahren machte der noch einen ganz
großen Teil meines Lebens aus. Mein „Ich“ ist also gar nicht so starr
festgelegt. Ich dachte lange Zeit, dass ich alle diese Anteile brauchte. Sie
gehören zu mir dazu. Ich brauche sie. Dann stellte ich fest, dass ich weiter
existierte, auch wenn bestimmte Ich-Anteile verschwunden sind. Trotz weniger
„Kirchen-Ich“ existiere ich noch. In die freigewordene Lücke findet sich
schnell ein neuer Anteil. Mein Mosaik ist selten leer.
„Ferien vom Ich!“
Ich könnte mal anonym irgendwo Urlaub machen. Da könnte ich dann meine Geschichte
verbergen, meinen Namen, meinen Beruf und meine sozialen Verbindungen. Wer wäre
ich dann stattdessen? Was bliebe von mir noch übrig? Würde es mir damit gut
gehen? Immerhin bekomme ich ja ganz viel Zuwendung für mein „Ich-Mosaik“.
„Toll, dass du so ein schönes Haus hast!“ „Du hast ein tolles Brot gebacken.
Schmeckt fantastisch!“ Der Zuspruch und die Anerkennung stärken mein „Ich!“
Wenn ich jetzt anonym in den Urlaub fahren würde, bekäme ich möglicherweise
keine Anerkennung mehr. Mein Ich würde nach und nach verhungern. Demnach müsste
ich dich warnen, Ferien vom Ich zu machen. Das wäre ein höchst riskantes
Unternehmen. Du müsstest jemanden mitnehmen, der auf dich aufpasst!
Auf der anderen
Seite gibt es aber auch Menschen, die bewusst in die Einsamkeit, in die Wüste
gehen. Da wird das „Ich“ entlarvt. Ausgehungert! Da zählt nicht mehr, was du
kannst und wer du bist! Kannst du dir vorstellen, Ferien vom Ich zu machen? So
wie Jesus – vierzig Tag ab in die Wüste?
Ich brauche also
mein Ich. Es hält mich aufrecht, gibt mir Identität und stabilisiert mich.
Nicht umsonst ist es schwer für einen Ehepartner, wenn nach vielen Jahren die
„andere Hälfte“ geht. Wer ist die Frau ohne den Ehemann und umgekehrt? Bei der
Trauer geht es nicht nur um den Abschied, sondern auch um die Aufgabe, sich
wieder selbst zu finden. Wer bin ich ohne den anderen?
„Ferien vom Ich!“
Macht es nun Sinn? Unter bestimmten Voraussetzungen schon. Dann kann es sogar
heilsam sein. Es kann ja passieren, dass ich mich einfach zu sehr in meine
Arbeit vergraben habe nach dem Motto: „Arbeit ist alles!“ Dann kann ich mich in
den Ferien für eine Auszeit entscheiden um wieder in einen Normalmodus schalten
zu können. Oder ich hatte gedacht, dass zu meinem „Ich“ gehört, dass ich ständig
mit vielen Leuten im Kontakt sein muss. Hier ein Anruf, da ein Treffen, noch
ein Whatsapp. Ich mache Ferien von meinen Kontakten und ... stelle fest, dass
ich vielleicht ein Junkie bin. Ich bin abhängig davon, dass das Leben um mich
herum zirkuliert. Ich bin, weil die anderen sind. Ich könnte Ferien machen von
diesem Teil meines Ich. Vielleicht wird es auf einmal still. Beängstigend
still. Ich spüre die Leere. Halte das Schweigen aus. Überlebe es. Merke meine
Abhängigkeiten. Mache einen ordentlichen Entzug und nehme mir die Zeit, wieder
mich selber mehr zu spüren. Ich kann es mit mir aushalten, auch wenn nichts
läuft.
Ab und zu einmal
Teile meines Ich in die Ferien schicken. Um Platz zu schaffen für neue Impulse.
Ich erlaube mir eine Weiterentwicklung. Gebe auf, was ich nicht mehr wirklich
brauche und halte mal eine Lücke aus.
Wir müssen
ständig Teile unseres Ich aufgeben. Eines Tages verabschieden wir uns vom
Beruf, von den Kindern, von Freunden und Verwandten, von der Gesundheit, von
Gepflogenheiten, von Häusern... Was bleibt von mir, wenn alle Ich-Anteile sich
verabschieden? Breche ich zusammen? Löse ich mich auf? Gibt es etwas hinter
allen „Ich-Anteilen“, was mit mir zu tun hat? Auf einer tieferen oder höheren
Ebene? Verschwinden die Teile und es bleibt trotzdem das Ganze?
Wenn ich nach und
nach meine Ich-Anteile loslassen kann werde ich vielleicht erfahren, dass ich
mich nicht auflöse sondern auf einer tieferen Ebene mehr zu mir selbst komme.
Zu meinem Selbst. Zu meinem Ursprung und Ziel, zu dem, was jenseits meiner
Masken und der Materie liegt. Dort, wo ich „eigentlich“ bin. In meinem Eigenen.
„Ferien vom Ich?“
Eine interessante Ergänzung zu dem Satz „Ich mache Ferien!“ Wir legen ja viel
Wert auf die „Ferien“. Wo fahre ich hin? Wie lange und mit wem? Viel weniger
fragen wir: „Wer ist das Ich, das Ferien macht..“ oder „Welches Ich macht da
jetzt Ferien?“ Da gibt es ja ein „Ich“, das sich ständig überlastet und
gestresst fühlt. Dieses Ich braucht eine Pause. Aber das „Ich“ der Beziehungen
hat das vielleicht gar nicht nötig. Das braucht keine Ferien. Das „Ich“ der
Freundschaft findet Urlaub vielleicht völlig überflüssig oder sogar bedrohlich.
Früher machten die Menschen auch keine Ferien und haben nichts vermisst. Vielleicht
bekommst du jetzt eine Ahnung, warum reisen für dich unangenehm ist. Du hast es
nur nie zugegeben oder zugelassen, weil alle Welt Urlaub toll findet. Dein
„Geborgenheits-Sofa-Ich“ will nicht weg!
Für das „Ich“ der
Beziehungen kann Urlaub ganz schädlich sein. So weit weg von den Menschen, die
du liebst! Wir sollten nicht die Menschen bedauern, die nicht wegfahren. Die
pflegen ihre anderen „Ich“-Anteile, welche auch immer das sind.
Ich besaß bislang
übrigens kein „Garten–Ich“. In meiner Kindheit war das die Aufgabe meiner
Eltern. Gartenarbeiten fand ich furchtbar. Später im Leben wohnte ich immer zur
Miete ohne Garten. Jetzt entwickle ich seit ein paar Wochen ein Garten-Ich. Ich
hätte nie gedacht, dass das zu einer Facette meines Lebens gehören würde. Noch
schaue ich ein wenig irritiert dabei zu und schüttle den Kopf. Ich benutze
lauter Geräte, zu denen ich bislang kein Verhältnis hatte.
Aber besteht
nicht das Abenteuer des Lebens darin, ständig neue Ich-Anteile zu entdecken und
zu entwickeln? Das bin ich und das bin ich auch. Das eine war ich einmal und
das andere bin ich nicht mehr. Das könnte ich noch werden, muss es aber nicht.
Und alle diese Anteile vom Ich sind nur vorläufig und keines davon ist endgültig.
Und viele werden zusammengehalten von der Angst.
Die Angst, dass
ich aufhören könnte zu existieren, wenn das „Ich“ nicht mehr da ist. Und das
ist wohl die größte Herausforderung an mich.
Und? Machst du
Ferien? Möchtest du Ferien machen vom Ich? Von einem Teil davon? Oder ist
dieser Gedanke für dich abwegig und fremd? Ich wünsche dir auf jeden Fall eine
Ferienzeit, in der du gut mit dir sein kannst, mit welchen Anteilen oder
welchem Ich auch immer. Die Fußballvereine nutzen die Zeit, ihre Mannschaft neu
zu sortieren. Nach dem Sommer fängt eine neue Saison an. Wer wird dabei sein?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen