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Montag, 19. September 2016
Von alten Frauen lernen, die Zug fahren
Im Zug gibt es ja immer noch die Viererplätze, an denen man sich gegenüber setzen kann. Das erinnert mich an die geschlossenen Zugabteile für sechs Personen, von denen es immer weniger gibt.
Vor ein paar Tagen wurde ich Zeuge einer interessanten Begegnung. Ich saß so, dass ich ein solches Viererquadrat gut sehen konnte. Da saß eine Frau und ihr schräg gegenüber ein Mann. Beide um die vierzig, vermutlich wie ich auf dem Weg zur Arbeit. So wie ich sprachen sie nicht miteinander. Im Zug sprechen ja nur Menschen miteinander, die sich kennen. Ansonsten ist jeder vertieft in sein Smartphone, sein Buch oder sonst was.
Dann stieg ein alte Dame ein mit einem Einkaufswagen. Mühsam stieg sie die paar Treppenstufen herunter und blieb vor dem Quadrat stehen. Ein Rucksack blockierte einen Sitz. "Darf ich mich da hinsetzen?" Klar durfte sie. Normalerweise setzen sich dann die Fahrgäste und - schweigen. Nicht so die alte Dame. Ich war wie elektrisiert. Ich erinnerte mich an die alten Damen zu meiner Studienzeit, die mit mir im Abteil saßen. Sie fingen immer Gespräche mit mir an. Sie konnten es nicht lassen. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, meine Bücher zu lesen. Ich dachte, diese Menschen seien inzwischen ausgestorben. Sind sie aber nicht.
In wenigen Sekunden hatte die alte Dame ihre beiden Mitreisenden in ein Gespräch verwickelt. "Fahren Sie auch nach Bielefeld?" "Nein, nach Minden." "Ach, Sie arbeiten da?" "Ja." "Was denn?" "In einem Büro dort." "Mein Mann hat auch in einem Büro gearbeitet, aber in Bad Sassenberg. Kennen Sie Bad Sassenberg? Ist schön dort, nicht wahr? Da kann man auch Urlaub machen. Wo machen Sie denn Ihren Urlaub. Und wo kommen Sie her?" Sie plauderte und erzählte von sich und so ganz nehbenbei erfuhr sie alles von dem Mann und der Frau. Und ich auch! Er war Chemiker und wohnte in Dortmund, aber erst seit ein paar Monaten. Viele weiterere Details. Und unüberhörbar.
Ich mag die Anonymität im Zug. Ich bin bei mir und kann meine eigenen Dinge machen. Zugleich aber bewundere ich diese Frauen aus der alten Welt. Die besaßen noch die Kunst der gepflegten Gesprächsführung. Die konnten noch wildfremde Menschen zusammenbringen und Kommunikation machen. Ohne es je gelernt zu haben. Unterhaltsamer als jedes Fernsehprogramm und für ganz umsonst.
Wenn du jetzt diese Zeilen liest könnte ich ja mal so nebenbei fragen. Liest du meine Texte öfter mal? Was denkst du dann so? Wo liest du meine Texte und bist du verheiratet? Findest du nicht auch, dass Züge pünktlicher sind als ihr Ruf und kennst du solche älteren Damen auch? Schöne Grüße!
www.matthias-koenning.de
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