Ich mag Kastanien. Wenn sie am Boden liegen weiß ich, dass der Herbst
Einzug gehalten hat. Es kommen auch Erinnerungen hoch an meine Kindergarten und
Schulzeit, wo wir aus diesen Kastanien und Streichhölzern Tiere gebastelt
haben. Aber irgendwie ist diese Erinnerung nicht mit einer großen Emotion verbunden.
Eigentlich könnte ich darum auch nicht viel zum Thema Kastanien schreiben und
müsste hier einen Punkt machen. Bisher haben sie mich nicht wirklich angesprochen
oder meine Aufmerksamkeit erregt. Im Augenblick beschäftigen sie mich dennoch
vielleicht wegen der Zeit der Ernte.
Susanne berührt dieses Thema auf eine ganz besondere Weise und davon
möchte ich gerne aus einem bestimmten Grund erzählen. Der Anlass sind natürlich
die Kastanien, die du jetzt in der Natur finden kannst. Doch jetzt lasse ich
einmal Susanne sprechen.
„Also, wenn ich
Kastanien finden will, muss ich schon im Sommer anfangen. Wenn ich zum Beispiel
umgezogen bin, dann weiß ich zunächst nicht, wo in meiner Umgebung
Kastanienbäume stehen und ob sie frei zugänglich sind. Wenn ich im Herbst
welche finden will, dann muss ich schon im Sommer Ausschau danach halten.
Wichtig ist, dass ich sie dann auch kontinuierlich im Blick behalte. Wie weit
sind sie? Wann fallen wohl die ersten zu Boden? Schließlich gibt es oft viele
Interessenten dafür. Erzieherinnen, Kinder und andere Herbstsammler.
Da gibt es zunächst
einmal diese Vorfreude, die plötzlich auftaucht. Bald ist es so weit! Der
Zeitpunkt rückt immer näher. Die Bäume sind voll, aber noch will keine fallen. Ich
muss mich noch gedulden. Zugleich muss ich ab einem bestimmten Zeitpunkt
regelmäßig wiederkommen sonst verpasse ich den Augenblick, wo es losgeht.
Und irgendwann ist es so
weit. Ich gehe zu den Bäumen hin und blicke erwartungsvoll auf den Boden. Ich
sehe die ersten Kastanien in der stacheligen Hülle.
Mein Herz hüpft vor Freude
über diesen Augenblick. Ich habe so lange gewartet und jetzt werde ich belohnt.
Ich darf die erste Kastanie nehmen und sie auspacken. Und wenn ich Glück habe,
erwische ich eine „Zwillingskastanie.“ Ich packe sie aus und sie glänzt in der
Sonne. Ich halte dieses glänzende Etwas in meinen Händen und befühle es und streichle
es und – stecke diesen Schatz schnell in meine Tasche. Meine erste Kastanie in
diesem Jahr. Ich habe sie entdeckt! Niemand sonst! Es ist mein ganz
persönlicher Schatz!
Davon möchte ich mehr!
Das Ereignis möchte ich wiederholen. Ich sehe noch eine frische Kastanie auf
dem Rasen und noch eine. Eine um die
andere stecke ich in meine Jackentasche und fühle mich glücklich und beseelt.
Diejenigen, die schon länger
daliegen, interessieren mich nicht. Wenn sie auf die Straße fallen haben sie
oft schon eine Macke oder ihren Glanz
verloren. Mich interessieren die heilen und glänzenden – und vor allem die
eingepackten!
Es darf mir auch niemand
beim Finden helfen oder Hinweise geben. Ich möchte selbst entdecken. Ich befinde
mich in einem Finderausch. Es ist mein Finderausch und ich möchte mich dem
hingeben. Irgendwann bin ich satt und die Kastanien liegen als Herbstdeko auf
meinem Tisch. Und ich weiß, ich bin im Herbst angekommen.“
Ich stehe daneben und staune. Ich staune darüber, dass es möglich ist,
eine solche Leidenschaft zu entwickeln für das Kastaniensammeln. Ich staune
über die Details und das Ausmaß der Freude. Und es ist ein Geschenk, teilnehmen
zu dürfen.
Es gibt noch einen tieferen Sinn, warum ich dir diese Geschichte
erzähle. Ich sehe Kastanien zwar, aber ich empfinde relativ wenig dabei. Sie
sind halt da. So wie Eicheln am Boden liegen oder das Wasser im Bach fließt. Susanne
hingegen geht schon das Herz auf, allein wenn sie an das erste Sammeln denkt
oder darüber spricht. Das ist der Unterschied!
Im Herbst richtet sich die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf das, was
wir geerntet haben. Aus diesem Anlass
feiern wir Erntedank. Wir sagen Dank für die Ernte und für das, was eigentlich
nicht selbstverständlich ist. Aber das sind Sätze für den Kopf und Sätze für
die Moral nach dem Motto: „Sei dankbar!“ Was ist jedoch, wenn du diese
Dankbarkeit nicht spürst? Wenn die Dankbarkeit nicht mit einer tiefen Freude
verbunden ist. Es geht mir also nicht um den Appell: „Sei dankbar!“ Es geht mir
um die Freude, die du spüren kannst, wenn du die frischen Kastanien siehst oder
die duftenden Äpfel riechst.
Du nimmst mit allen Sinnen wahr. Du riechst die Kräuter, du siehst die
Kartoffeln, du schmeckst die Birnen, du befühlst die Nüsse. Du tauchst ein in
die Fülle von allem, was ist. Du bist ein Teil der Schöpfung!
Meine Leidenschaft dreht sich weniger um die Kastanie sondern mehr um
die Kartoffel. Kartoffeln sprechen mit mir. Sie sagen mir: „Wir wollen zu dir!“
Ich sehe eine Kartoffel an und es kommt ein klares „Ja!“ oder ein „Nein!“ Bei
Kartoffeln geht mein Herz auf. Ob gebraten oder gekocht, aus dem Ofen oder als
Bestandteil im Eintopf ist egal. Allein die Vorstellung und das Bild davon
lässt mich ein ganzes Buch darüber schreiben.
Und, wie steht es mit dir? Wenn du jetzt im Herbst das Obst und Gemüse
siehst! Wo geht dein Herz auf? Wo wird deine Leidenschaft geweckt? Wo wirst du
lebendig? Wo verlässt du den moralischen Appell an die Dankbarkeit und findest
den Weg zur puren Lebensfreude? Welche Geschichte würdest du mir erzählen mit
leuchtenden Augen?
Wenn ich diese Frage stelle kommt mir noch ein anderes Wort in den
Sinn: „Hingabe!“ Sich der Freude hingeben, sich den Kastanien hingeben, sich
einem tollen Essen hingeben, sich der Liebe hingeben. Das ist für mich ein
zutiefst spirituelles und religiöses Erlebnis. Du wendest dich mit deiner
ganzen Aufmerksamkeit und deinem Dasein etwas hin und gehst darin auf. Für
einen Augenblick wirst du zur Kartoffel oder zur Kastanie oder zu deiner
Geliebten.
Du lässt dein Sicherheitsbedürfnis los und deine Ängste. Du gehst
hinein wie in einen Prozess von Auflösung und Ganzwerdung zugleich. Wenn du
dich hingibst, dann machst du das ganz freiwillig. Ganz von dir aus und mit deinem
ganzen Wesen. Und darin kommt etwas Göttliches zum Vorschein.
Gott selbst erlebe ich als leidenschaftlich und hingebungsvoll. Vielleicht
kannst du dir vorstellen, dass es da zu einer tollen göttlichen Begegnung
kommen könnte. Du und deine „Kastanie“ oder „Kartoffel“ oder was immer du auch
liebst und für Wert erachtest, dich hinzugeben. So wünsche ich es dir, ganz in
dieser „Erntefreude“ zu sein.
www.matthias-koenning.de
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