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Mittwoch, 6. Mai 2015

Die Kunst, sich die Schuhe zu binden


Die Überschrift kommt von einem Filmtitel, wo es darum geht, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht nur das irgendwann stupide Schuhe binden lernen sollten sondern sich kreativ ausdrücken dürfen im Theater spielen.
Kannst du dich daran erinnern in welchem Alter du das Schuhe binden gelernt hast? War es für dich schwer oder leicht? Wer hat dir die Schuhe gebunden? War es dein Vater, deine Mutter, die Erzieherinnen im Kindergarten? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Aber ich habe in den Zeiten vor Klettverschluss Mütter dabei beobachtet. "Deine Schuhbänder sind auf! Du stolperst gleich! Warte!" Ich kann mich wohl noch daran erinnern, dass meine Schuhe immer stramm an meinen Füßen saßen. Meine Eltern banden kräftige Schleifen, die sich nie von selbst auflösten.
Es hatte zugleich etwas Unangenehmes. Da greift jemand in deinen Körper ein. Das liegt auf einer Linie wie Fingernägel schneiden, füttern oder Hintern abputzen. Ein fremder Mensch kann nie nachempfinden, wie es für dich angenehm ist.
Irgendwann wolltest du diese Dinge selber machen. Autonomie! Nur du weißt, was dein Körper braucht, dass es sich angenehm und richtig anfühlt. Die ersten Schleifen waren mühsam. Die Koordination der Bewegungen haben dich vielleicht überfordert. Schnell fielen sie wieder auseinander und du musstest von vorne beginnen. Wie ging das nochmal? Kannst du es mir noch einmal zeigen? Jetzt musst du es doch mal endlich begriffen haben! Du bist doch schon groß!
Irgendwann hast du es gekonnt. Du kannst bis heute Schleifen binden. Du kannst deine Schuhe schnüren! Niemand muss es für dich tun! (Es sei denn, du bist gehandicapt für eine Zeit oder auf die Dauer.)
Du findest das selbstverständlich? Wenn du jetzt in diesem Augenblick eine Schleife bindest dann wirst du feststellen, wie viele Handlungsabläufe es dazu braucht. Und wenn sie noch schön sein soll wird es zu Kunst! Was kannst du sonst noch als Erwachsener, was du als Kind nicht konntest? Was hast du im Laufe deines Lebens alles gelernt? Du bist eine Meisterin und Künstlerin im Schleifenbinden. Eine Meisterin, ein Meister im Fingernagelbehandeln, ein Profi im Hintern reinigen. Ist das nichts?
Wenn du manchmal zweifelst an deinen Fähigkeiten im Beruf und im Alltag, dann geh einmal in dich und würdige all das, was du im Laufe deines Lebens gelernt hast. Beim Schuhe binden fängst du an und wirst erstaunt sein, wohin dich deine Erkenntnisse führen.
Übrigens: Ich kann mit meinen Fingern Rhythmen trommeln. Mich auf jeder Stelle meines Rückens kratzen. Kirschen im Mund vom Kirschkern befreien und sie über hohe Sträucher ausspucken. Und sowohl mit dem linken als auch mit dem rechten Zeigefinger auf andere Menschen zeigen.
www.matthias-koenning.de
 

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