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Dienstag, 2. April 2019

Vom Verhüllen und Enthüllen



Der Angeklagte hüllte sich in Schweigen. ... und die Nacht umhüllte sie. Er schälte sich aus seiner Umhüllung. Wir enthüllen und wir hüllen uns ein – aus verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Absichten. Wann hast du das Bedürfnis, dich zu verhüllen? Und wie machst du das?
Ich komme auf dieses Thema, weil ich mich angesichts von Ostern daran erinnere, dass da am Karfreitag doch auch etwas mit dem Verhüllen des Kreuzes war, was ich als Pfarrer nie praktizierte. Seit dem 12. Und 13. Jahrhundert wird bezeugt, dass Kreuze und Bilder in der Fastenzeit verhüllt wurden. Die Gründe weiß man nicht so genau. Sollen strahlende Auferstehungsbilder im Leiden verdeck werden? Tritt der göttliche Anteil von Jesus in den Hintergrund der ohnmächtigen und sehr menschlichen Kreuzerfahrung? Geht es um eine Bußpraxis, aus Solidarität keine schönen Bilder zu betrachten?
Aus welchen Gründen auch immer: Früher wurden am fünften Fastensonntag die Kreuze verhüllt und am Karfreitag in einem liturgischen Akt enthüllt.  Ich erinnere mich noch an meine Jugend, dass der Pfarrer mühsam bei seiner Prozession das violette Tuch festhielt und erst die beiden Hände und dann die Füße von Jesus am Kreuz enthüllte. Das Leid entfaltete sich mehr und mehr vor dem gläubigen Auge. Wenn man das ganze Jahr über das Kreuz sieht, gibt es einen Gewöhnungseffekt. Das Verbergen und Enthüllen führt so zu einer wieder wach werdenden Aufmerksamkeit. 
Es gibt viele Gründe, etwas zu verhüllen. Enthüllungsjournalisten suchen nach Skandalgeschichten bei der Prominenz, die wiederum ihre Schattenseiten verbergen möchten. Hier geht um das Verbergen und Verstecken von Geheimnissen.  
Ich kann auch etwas in eine Hülle stecken um es zu schützen. Wir stecken als Menschen in einer Hülle aus Haut. Sonst würden wir auseinanderfallen. In unserem Darm wiederum befinden sich Millionen von Bakterien und unsere Darmwand ist ihre Hülle. Sie bekommen vom Leben außerhalb ihres Umfeldes nichts mit. Die Welt kommt in Form von Nahrungsbrei zu ihnen.
Manchmal hülle ich mich in Schweigen oder die Dunkelheit der Nacht umhüllt mich, so dass ich einschlafen kann. Ich schließe meine Augen und ziehe mich in meinen Innenraum zurück.
Das Verhüllen und Enthüllen findet fortwährend statt. Ich enthülle im Sprechen meine Gedanken und Gefühle oder ich verberge sie aus unterschiedlichen Gründen. Eher selten mache ich mich ganz nackt. Innerlich und äußerlich. Bei einer kompletten Enthüllung würde ich mich vielleicht sogar auflösen. Wer bin ich, wenn ich meinen Körper, meine Gefühle und meine Gedanken enthüllen und auflösen würde? Bliebe mein Bewusstsein übrig ohne den Körper? Oder wäre dann nichts mehr da? Solange ich mich verhülle habe ich ein Bewusstsein davon, dass da jemand ist, der in Verhüllung sicher existiert. Es gibt also ein Ich, welches diesen Akt vollziehen kann.  Wir brauchen vielleicht die Verhüllung, damit wir unser Ich zusammenhalten und als Einheit wahrnehmen können.
Was auf den ersten Blick banal und einfach klingt, mag in einer kleinen Vertiefung doch interessant sein. Schau einmal mit mir auf so eine Darmbakterie. Sie selbst steckt in einer Bakterienhülle und in der Gemeinschaft von vielen anderen Bakterien in der Hülle des Darmes. Der Darm wiederum steckt in der Hülle der Haut. Hülle in Hülle in Hülle ...? Die Bakterie kann aber nur die Darmhülle wahrnehmen und würde ihre Welt beschreiben als einen dunklen Ort wo immer wieder Nahrungsbrei durchläuft. Die gesamte Haut meines Körpers wiederum hätte ein Gespür dafür, dass sie in ihrem Inneren viele umhüllte Organe und Zellen und „Einwohner“ umhüllt. Ich als Träger meiner Haut habe ein Bewusstsein davon, dass meine Haut diesen Körper zusammenhält. Ich nehme mich dabei war als das Ende der Kette. Um mich herum gibt es keine Hülle.
In einer logischen Weiterführung jedoch müssten wir ja denken, dass der gesamte Körper mit Haut wiederum auch eine Hülle besitzt. Das könnten wir uns noch vorstellen als die Atmosphäre der Erde und die Erde selbst. Die Beschaffenheit dieser Hülle mag sich nicht so fest anfühlen, sondern eher durchlässig. Aber diese Hülle ermöglicht es uns, dass wir uns bewegen und atmen können. Wir haben also genau die Art von Hülle, die wir brauchen, um als Menschen existieren zu können. Keine bakterientaugliche, aber eine menschlich taugliche Hülle.
Doch so, wie die Bakterie nicht über ihren Tellerrand hinausschauen kann und die Darmwand für das Ende der ganzen Welt hält, hat unsere Wahrnehmungsfähigkeit auch eine Grenze. Ein Jenseits dieser Welt können wir mit unseren Möglichkeiten nicht wahrnehmen. So fragte ja schon Goethes Faust, was die Welt im Innersten zusammenhält. Vielleicht gibt es ja nichts jenseits der Hülle „Welt“ oder Weltenraum. Es muss ja auch mal aufhören. Die Bakterie im Darm weiß nichts vom Köper, lebt aber davon, dass da einer ist. Ich bin sozusagen der Gott meiner Darmbakterie.
Was würde sich für die Bakterie verändern wenn sie wüsste, dass sie Teil eines größeren Systems wäre. Würde sie verantwortlicher mit dem Material um sie herum umgehen? Würde sie mehr genießen? Hätte sie mehr Bewusstheit und darum auch mehr Sinn und Freiheit?
Nimm doch einmal an, dass jenseits der Hülle Welt etwas existiert, das uns beeinflusst oder unser Leben erst ermöglicht. Etwas, das dafür sorgt, dass die Gesetze des Lebens zuverlässig funktionieren. Wie würde sich mein Leben dadurch verändern, wenn ich mir dessen täglich bewusst wäre? Würde ich dann noch Plastik benutzen? Die Umwelt vergiften? Hassen? Mich entzweien? Wahrscheinlich nicht, oder?
Leider bin ich in meiner Menschlichkeit nicht in der Lage, meine letzte Hülle zu verlassen. Ich bin gebunden in meinem Körper und an mein Dasein in dieser dreidimensionalen Welt. Aber im Unterschied zur Bakterie kann ich zumindest darüber hinaus denken.
Ich möchte mal versuchen, mit dir eine weitere Hülle zu entfernen. Stell dir vor, dass jenseits der Hülle Universum die nächste Hülle „Zeit“ heißt. Eine völlig andere Art von Hülle. Sie wirkt auf dich ein und du kannst gar nicht anders, als dich als Zeitwesen zu empfinden. Du hast ein Geburtsdatum und wirst eines Tages sterben. Du bewegst dich durch die Zeit und in der Zeit und kannst sie nicht verlassen und dich auch nicht jenseits davon denken. Du bist gefangen und zugleich beschützt durch den Zeitrahmen. Der Zeitrahmen an sich hält auch die Universen zusammen und strukturiert sie. Nur wenn du ganz gegenwärtig bist, „vergisst“ du für einen Moment deine Zeitlichkeit und springst in eine zeitfreie Dimension.
Jenseits dieser Hülle des „Zeitrahmens“ existiert die Zeit nicht in der Art der irdischen Absolutheit. Von jenseits aus betrachtet wäre es möglich, dass du in dieser Welt zeitgleich in der Steinzeit, im Mittelalter und im Computerzeitalter lebst. Ohne jeden Widerspruch. Du würdest also gleichzeitig jetzt im Jahr 2019 existieren und daneben viele Tausende von parallelen Existenzen haben in der fernsten Vergangenheit und zukünftigsten Zukunft. Nur weil es dein System überfordert beschränkst du dich auf die Zeitspannte um 2019 herum. Ein anderes Erleben würde deinen körperlichen Verstand einfach überfordern und du würdest zusammenbrechen. Zwischen Steinzeit und dem Jetzt gibt es in dieser Dimension keine Verbindung.
Ich stelle mir also vor, dass es einen Matthias mit einem anderen Namen zeitgleich im Mittelalter gibt und einen anderen mit einem anderen Namen auf einem anderen Planeten in dreitausend Jahren.
Abwegig? Reine Spekulation? Unbedeutend für deine jetzige Gegenwart? Zu philosophisch und abstrakt? Wahrscheinlich! Aber wo bist du in der Nacht, wenn dein Tagesbewusstsein sich verhüllt und dein Unbewusstes sich enthüllt. Manchmal wachst du auf mit einer verwirrenden Erinnerung. So verwirrend, dass du keine Worte dafür findest. Vielleicht klebt da noch eine Spur an dir von einer anderen Zeitachse. Im Traumzustand kannst du die Welt jenseits der Zeit erreichen.
Die Bakterie ist sich ihrer selbst nicht bewusst und lebt nach ihrem eigenen Lebensgesetz. Wir Menschen haben auch unsere Grenzen in der Bewusstseinswahrnehmung. Aber wir können vielleicht eine Ahnung entwickeln von den uns fremden Dimensionen, die zugleich unser Leben im Hier und Jetzt mehr beeinflussen als wir ahnen.
Wenn du die Entfaltung und Enthüllung von etwas Großem und Ganzen bist in vielen Dimensionen von Raum und Zeit, dann kommt es auf dieses Leben nicht so an. Ja, gestalte es verantwortungsvoll und mach was draus. Aber setze es nicht absolut. Sieh es nicht an als einzige und angstvoll besetzte letzte Möglichkeit. Du hast keinen Grund, jedem Modetrend hinterherzulaufen. Du musst bei der Beschleunigung des Lebens nicht mitmachen aus Angst, etwas zu verpassen. Du befindest dich ja nur in einer kleinen Nische in einem unendlichen Raum und einer ewigen Zeit. Und du bist gleichzeitig überall und zu jeder Zeit – bekommst das aufgrund deiner Einschränkungen aber nicht mit. Das könnte dich gelassener werden lassen.
Immer noch spinnerte Gedanken? Stell dir jetzt vor, dass es dennoch durch alle Zeitdimensionen und Ewigkeitsräume hindurch eine Verbindung gäbe. Eine Art „Geheimkanal“. Du würdest diesen Geheimkanal finden und hättest den Zugang zu dir im Mittelalter, in der Steinzeit und in der Zukunft. Und zu den anderen Welten, den Engeln und Geistern und zur tiefsten göttlichen Dimension. Wenn du die Augen schließt und dich auf deinen Herzensraum konzentrierst, deine Gehirnströme langsamer werden lässt, bis du in eine leichte Trance gerätst. Wenn du dir dabei deiner selbst bewusst wirst könntest du den Eingang zu diesem Kanal finden. Dir würde sich offenbaren, dass du ein Teil der großen Ewigkeit und Unendlichkeit bist.
Jesus hat diesen Verbindungskanal Liebe genannt und von dieser göttlichen Quelle her gelebt. Der Tod konnte ihm nichts anhaben und nichts daran ändern. Die österliche Erfahrung besagt ja genau dies: Der Tod ist nicht die Grenze. Du existierst jenseits davon und darüber hinaus.
Wenn wir uns in die Liebe einhüllen, sprengt es die begrenzenden Dimensionen und Grenzen und führt uns zu dem, wer und was wir eigentlich immer schon waren und auch sind. Wir sind Gott in Menschengestalt! 

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