Der Angeklagte hüllte sich in Schweigen. ... und die Nacht umhüllte sie. Er schälte sich aus seiner Umhüllung. Wir enthüllen und wir hüllen uns ein – aus verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Absichten. Wann hast du das Bedürfnis, dich zu verhüllen? Und wie machst du das?
Ich komme auf
dieses Thema, weil ich mich angesichts von Ostern daran erinnere, dass da am
Karfreitag doch auch etwas mit dem Verhüllen des Kreuzes war, was ich als Pfarrer
nie praktizierte. Seit dem 12. Und 13. Jahrhundert wird bezeugt, dass Kreuze
und Bilder in der Fastenzeit verhüllt wurden. Die Gründe weiß man nicht so
genau. Sollen strahlende Auferstehungsbilder im Leiden verdeck werden? Tritt
der göttliche Anteil von Jesus in den Hintergrund der ohnmächtigen und sehr
menschlichen Kreuzerfahrung? Geht es um eine Bußpraxis, aus Solidarität keine
schönen Bilder zu betrachten?
Aus welchen
Gründen auch immer: Früher wurden am fünften Fastensonntag die Kreuze verhüllt
und am Karfreitag in einem liturgischen Akt enthüllt. Ich erinnere mich noch an meine Jugend, dass
der Pfarrer mühsam bei seiner Prozession das violette Tuch festhielt und erst
die beiden Hände und dann die Füße von Jesus am Kreuz enthüllte. Das Leid entfaltete
sich mehr und mehr vor dem gläubigen Auge. Wenn man das ganze Jahr über das
Kreuz sieht, gibt es einen Gewöhnungseffekt. Das Verbergen und Enthüllen führt
so zu einer wieder wach werdenden Aufmerksamkeit.
Es gibt viele
Gründe, etwas zu verhüllen. Enthüllungsjournalisten suchen nach
Skandalgeschichten bei der Prominenz, die wiederum ihre Schattenseiten verbergen
möchten. Hier geht um das Verbergen und Verstecken von Geheimnissen.
Ich kann auch
etwas in eine Hülle stecken um es zu schützen. Wir stecken als Menschen in
einer Hülle aus Haut. Sonst würden wir auseinanderfallen. In unserem Darm
wiederum befinden sich Millionen von Bakterien und unsere Darmwand ist ihre
Hülle. Sie bekommen vom Leben außerhalb ihres Umfeldes nichts mit. Die Welt
kommt in Form von Nahrungsbrei zu ihnen.
Manchmal hülle
ich mich in Schweigen oder die Dunkelheit der Nacht umhüllt mich, so dass ich
einschlafen kann. Ich schließe meine Augen und ziehe mich in meinen Innenraum
zurück.
Das Verhüllen und
Enthüllen findet fortwährend statt. Ich enthülle im Sprechen meine Gedanken und
Gefühle oder ich verberge sie aus unterschiedlichen Gründen. Eher selten mache
ich mich ganz nackt. Innerlich und äußerlich. Bei einer kompletten Enthüllung
würde ich mich vielleicht sogar auflösen. Wer bin ich, wenn ich meinen Körper,
meine Gefühle und meine Gedanken enthüllen und auflösen würde? Bliebe mein Bewusstsein
übrig ohne den Körper? Oder wäre dann nichts mehr da? Solange ich mich verhülle
habe ich ein Bewusstsein davon, dass da jemand ist, der in Verhüllung sicher
existiert. Es gibt also ein Ich, welches diesen Akt vollziehen kann. Wir brauchen vielleicht die Verhüllung, damit
wir unser Ich zusammenhalten und als Einheit wahrnehmen können.
Was auf den
ersten Blick banal und einfach klingt, mag in einer kleinen Vertiefung doch interessant
sein. Schau einmal mit mir auf so eine Darmbakterie. Sie selbst steckt in einer
Bakterienhülle und in der Gemeinschaft von vielen anderen Bakterien in der
Hülle des Darmes. Der Darm wiederum steckt in der Hülle der Haut. Hülle in
Hülle in Hülle ...? Die Bakterie kann aber nur die Darmhülle wahrnehmen und
würde ihre Welt beschreiben als einen dunklen Ort wo immer wieder Nahrungsbrei
durchläuft. Die gesamte Haut meines Körpers wiederum hätte ein Gespür dafür, dass
sie in ihrem Inneren viele umhüllte Organe und Zellen und „Einwohner“ umhüllt.
Ich als Träger meiner Haut habe ein Bewusstsein davon, dass meine Haut diesen
Körper zusammenhält. Ich nehme mich dabei war als das Ende der Kette. Um mich
herum gibt es keine Hülle.
In einer
logischen Weiterführung jedoch müssten wir ja denken, dass der gesamte Körper
mit Haut wiederum auch eine Hülle besitzt. Das könnten wir uns noch vorstellen
als die Atmosphäre der Erde und die Erde selbst. Die Beschaffenheit dieser
Hülle mag sich nicht so fest anfühlen, sondern eher durchlässig. Aber diese
Hülle ermöglicht es uns, dass wir uns bewegen und atmen können. Wir haben also
genau die Art von Hülle, die wir brauchen, um als Menschen existieren zu
können. Keine bakterientaugliche, aber eine menschlich taugliche Hülle.
Doch so, wie die
Bakterie nicht über ihren Tellerrand hinausschauen kann und die Darmwand für
das Ende der ganzen Welt hält, hat unsere Wahrnehmungsfähigkeit auch eine
Grenze. Ein Jenseits dieser Welt können wir mit unseren Möglichkeiten nicht wahrnehmen.
So fragte ja schon Goethes Faust, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Vielleicht gibt es ja nichts jenseits der Hülle „Welt“ oder Weltenraum. Es muss
ja auch mal aufhören. Die Bakterie im Darm weiß nichts vom Köper, lebt aber
davon, dass da einer ist. Ich bin sozusagen der Gott meiner Darmbakterie.
Was würde sich
für die Bakterie verändern wenn sie wüsste, dass sie Teil eines größeren
Systems wäre. Würde sie verantwortlicher mit dem Material um sie herum umgehen?
Würde sie mehr genießen? Hätte sie mehr Bewusstheit und darum auch mehr Sinn
und Freiheit?
Nimm doch einmal
an, dass jenseits der Hülle Welt etwas existiert, das uns beeinflusst oder
unser Leben erst ermöglicht. Etwas, das dafür sorgt, dass die Gesetze des Lebens
zuverlässig funktionieren. Wie würde sich mein Leben dadurch verändern, wenn
ich mir dessen täglich bewusst wäre? Würde ich dann noch Plastik benutzen? Die
Umwelt vergiften? Hassen? Mich entzweien? Wahrscheinlich nicht, oder?
Leider bin ich in
meiner Menschlichkeit nicht in der Lage, meine letzte Hülle zu verlassen. Ich
bin gebunden in meinem Körper und an mein Dasein in dieser dreidimensionalen
Welt. Aber im Unterschied zur Bakterie kann ich zumindest darüber hinaus
denken.
Ich möchte mal
versuchen, mit dir eine weitere Hülle zu entfernen. Stell dir vor, dass
jenseits der Hülle Universum die nächste Hülle „Zeit“ heißt. Eine völlig andere
Art von Hülle. Sie wirkt auf dich ein und du kannst gar nicht anders, als dich
als Zeitwesen zu empfinden. Du hast ein Geburtsdatum und wirst eines Tages
sterben. Du bewegst dich durch die Zeit und in der Zeit und kannst sie nicht
verlassen und dich auch nicht jenseits davon denken. Du bist gefangen und
zugleich beschützt durch den Zeitrahmen. Der Zeitrahmen an sich hält auch die
Universen zusammen und strukturiert sie. Nur wenn du ganz gegenwärtig bist,
„vergisst“ du für einen Moment deine Zeitlichkeit und springst in eine
zeitfreie Dimension.
Jenseits dieser
Hülle des „Zeitrahmens“ existiert die Zeit nicht in der Art der irdischen
Absolutheit. Von jenseits aus betrachtet wäre es möglich, dass du in dieser
Welt zeitgleich in der Steinzeit, im Mittelalter und im Computerzeitalter
lebst. Ohne jeden Widerspruch. Du würdest also gleichzeitig jetzt im Jahr 2019
existieren und daneben viele Tausende von parallelen Existenzen haben in der
fernsten Vergangenheit und zukünftigsten Zukunft. Nur weil es dein System überfordert
beschränkst du dich auf die Zeitspannte um 2019 herum. Ein anderes Erleben
würde deinen körperlichen Verstand einfach überfordern und du würdest
zusammenbrechen. Zwischen Steinzeit und dem Jetzt gibt es in dieser Dimension
keine Verbindung.
Ich stelle mir
also vor, dass es einen Matthias mit einem anderen Namen zeitgleich im
Mittelalter gibt und einen anderen mit einem anderen Namen auf einem anderen
Planeten in dreitausend Jahren.
Abwegig? Reine
Spekulation? Unbedeutend für deine jetzige Gegenwart? Zu philosophisch und
abstrakt? Wahrscheinlich! Aber wo bist du in der Nacht, wenn dein
Tagesbewusstsein sich verhüllt und dein Unbewusstes sich enthüllt. Manchmal
wachst du auf mit einer verwirrenden Erinnerung. So verwirrend, dass du keine
Worte dafür findest. Vielleicht klebt da noch eine Spur an dir von einer
anderen Zeitachse. Im Traumzustand kannst du die Welt jenseits der Zeit
erreichen.
Die Bakterie ist
sich ihrer selbst nicht bewusst und lebt nach ihrem eigenen Lebensgesetz. Wir
Menschen haben auch unsere Grenzen in der Bewusstseinswahrnehmung. Aber wir können
vielleicht eine Ahnung entwickeln von den uns fremden Dimensionen, die zugleich
unser Leben im Hier und Jetzt mehr beeinflussen als wir ahnen.
Wenn du die
Entfaltung und Enthüllung von etwas Großem und Ganzen bist in vielen
Dimensionen von Raum und Zeit, dann kommt es auf dieses Leben nicht so an. Ja,
gestalte es verantwortungsvoll und mach was draus. Aber setze es nicht absolut.
Sieh es nicht an als einzige und angstvoll besetzte letzte Möglichkeit. Du hast
keinen Grund, jedem Modetrend hinterherzulaufen. Du musst bei der
Beschleunigung des Lebens nicht mitmachen aus Angst, etwas zu verpassen. Du
befindest dich ja nur in einer kleinen Nische in einem unendlichen Raum und
einer ewigen Zeit. Und du bist gleichzeitig überall und zu jeder Zeit – bekommst
das aufgrund deiner Einschränkungen aber nicht mit. Das könnte dich gelassener
werden lassen.
Immer noch
spinnerte Gedanken? Stell dir jetzt vor, dass es dennoch durch alle
Zeitdimensionen und Ewigkeitsräume hindurch eine Verbindung gäbe. Eine Art
„Geheimkanal“. Du würdest diesen Geheimkanal finden und hättest den Zugang zu
dir im Mittelalter, in der Steinzeit und in der Zukunft. Und zu den anderen Welten,
den Engeln und Geistern und zur tiefsten göttlichen Dimension. Wenn du die
Augen schließt und dich auf deinen Herzensraum konzentrierst, deine Gehirnströme
langsamer werden lässt, bis du in eine leichte Trance gerätst. Wenn du dir
dabei deiner selbst bewusst wirst könntest du den Eingang zu diesem Kanal
finden. Dir würde sich offenbaren, dass du ein Teil der großen Ewigkeit und
Unendlichkeit bist.
Jesus hat diesen
Verbindungskanal Liebe genannt und von dieser göttlichen Quelle her gelebt. Der
Tod konnte ihm nichts anhaben und nichts daran ändern. Die österliche Erfahrung
besagt ja genau dies: Der Tod ist nicht die Grenze. Du existierst jenseits
davon und darüber hinaus.
Wenn wir uns in
die Liebe einhüllen, sprengt es die begrenzenden Dimensionen und Grenzen und
führt uns zu dem, wer und was wir eigentlich immer schon waren und auch sind.
Wir sind Gott in Menschengestalt!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen