Kommt dir die Überschrift eigenartig vor? Wieder ganz werden? Du würdest vielleicht sagen, dass du ein ganz und gar vollständiger Mensch bist. An dir fehlt nichts. Vielleicht doch ein Körperteil? Wenn du keinen Blinddarm mehr hast wie ich, wirst du den nicht wieder in deinem Körper einsetzen können, genauso wie eine entfernte Schilddrüse oder Zähne. Dann bist zwar körperlich nicht mehr so ganz vollständig, aber irgendwie doch. Es ist noch genug da, um gut durch das Leben zu kommen. Du würdest also doch sagen, dass du ganz und vollständig bist.
In der Bibel
spricht Gott einen merkwürdigen Satz zu Abraham. „Wandle einher vor meinem
Antlitz und sei ganz!“ (Gen 17,1) Damals war Abraham hoch betagt mit 99 Jahren.
Also kurz vor seinem hundertsten Geburtstag. Gott meinte mit dem Wort „ganz
sein“ so etwas wie „vollständig sein“ und sprach es zugleich wie einen Segen
aus. Gott schaut also auf Abraham und stellt einen Mangel fest nach 99 Jahren.
Hat Abraham Einbußen erlitten? Körperliche Gebrechen? Enttäuschungen? Haben seine
Kräfte nachgelassen?
Übertrage ich die
Vorstellung Gottes einmal auf dich und mich. „Geh deinen Weg vor Gott und sei
vollständig.“ Das würde ja bedeuten, dass ich tatsächlich unvollständig sein
könnte. Dass etwas an mir fehlen würde. Dass ich mich in einem Mangel befinde.
Und darüber möchte ich mit dir hier gerne weiter nachdenken.
Mein Vater
erzählte mir an Weihnachten von einer Begegnung, die bis heute in ihm
nachwirkte. Da hat ihm ein Freund mächtige Vorwürfe gemacht und ihn damit tief
gekränkt und erschüttert. Diese Begegnung hängt bis heute in seinen Knochen.
Wenn er davon erzählt fühlt er sich sofort kleiner, schwächer und ohnmächtig.
Eben nicht mehr aufrecht und ganz.
Wenn ich auf mein
eigenes Leben zurückblicke, dann gibt es auch ein paar Ereignisse, die eine
bleibende Auswirkung hatten. Ich meine so richtige Brüche in der
Lebensbiographie. Ein Bruch, der in mir etwas zerbrochen hat. Ich denke an
einen Freund, der mich abgelehnt und verlassen hatte. Oder an meinen Abschied von meiner Tätigkeit
in der Kirche. Oder eine vernichtende Bewertung eines Lehrers über ein Fach,
das ich nie verstehen würde.
Von den kleinen
Angriffen und Kränkungen konnte ich mich gut erholen. Wenn ich daran jetzt denke
und mich da reinfühle gibt es keinen Rest. Keine elektrische Ladung mehr drauf.
Ich bin klar mit mir, mit der Situation und mit allen Beteiligten. Ich habe
vergeben, jemand hat mir vergeben und danach fühle ich mich wieder ganz und
vollständig wie vorher.
Aber ein paar
Ereignisse haben dauerhafte Spuren hinterlassen. Narben, die schnell wieder
aufbrechen können. Wunden, die auf den ersten Blick geheilt sind, aber nicht in
der Tiefenschicht. Wenn ich daran denke kommen alte Gefühle wieder hoch. Schmerzhafte
Gefühle. In einem geflügelten Wort sagen wir ja: „Da habe ich Federn gelassen!“
Das fühlt sich immer noch nackt und ohnmächtig an. Da habe ich meine Würde und
meine Schönheit verloren. Seitdem bin ich angeschlagen. Ich kann nicht mehr so
viel aushalten. Ich bin dünnhäutiger geworden.
Was ich
menschlich tun konnte, habe ich getan. Ich kann alle Aspekte durchdenken und
mir selbst gegenüber Verständnis entwickeln. Ich kann in meiner Trauer Trost
bei Freunden suchen. Ich kann mich auf etwas Neues ausrichten und ich kann ein
Gesamtpaket schnüren, dass am Ende alles wieder „in Ordnung“ ist. Was aber wäre
mehr als „nur in Ordnung“? Was wäre so befriedet, dass es auf einer höheren
Ebene zu einem „Mehr“ an Leben führt nach dem Motto: Durch die Krise und die Wandlung
hin zu einer höheren Lebensqualität.
Gott sagt zu
Abraham: „Wandle einher vor meinem Antlitz und sei ganz.“ Einschneidende
Ereignisse, die mich zutiefst treffen, bewirken, dass ich mich nicht mehr ganz
fühle. Als ob ein Teil von mir während der Krise auf der Strecke geblieben ist.
Du merkst das manchmal an Kommentaren wie: „Seit seine Frau gestorben ist, ist
er nicht mehr so wie vorher. Das wird er bis zu seinem Tod nicht überwinden.“
„Mit ihr ist gar nichts mehr los. Alles ist weg!“
Im schamanischen
Denken spricht man davon, dass uns während unseres Lebens Seelenanteile
verloren gehen können. Ich kann zum Beispiel das Vertrauen verlieren, wenn mich
mal jemand tief enttäuscht hat. Bei einer großen Enttäuschung kann ich zugleich
die Fähigkeit verlieren, überhaupt je wieder vertrauen zu können. Und jetzt
laufe ich ohne diesen wichtigen Persönlichkeitsanteil durch das Leben, der
vertrauen kann. Mir fehlt also jetzt ein Seelenanteil.
Zugleich geht das
schamanische Denken davon aus, dass der Schamane diese verlorenen Anteile zurückholen
und in die Seele integrieren kann. Auf diese Weise geschieht nicht nur
irgendwie „Ordnung“, sondern Heilung.
Jesus versteht
seine Mission in ähnlicher Weise, wenn er davon spricht, dass er das Verlorene
sucht, das Verwundete heilt und das Darniederliegende aufrichtet. Ich kann mir
also vorstellen, dass es grundsätzlich möglich ist, wieder ganz zu werden.
Bei Abraham kommt
es ja zu einer Begegnung. Abraham begegnet Gott und Gott spricht. Der Zöllner
kommt zu Jesus und Jesus spricht. Oder jemand geht zum Schamanen und dieser
besucht die jenseitige Welt und wird zum Botschafter der Heilung. Es gibt also
eine Begegnung mit einem Gegenüber. Dieses Gegenüber ist angebunden an etwas,
das heilsam, wirksam und größer ist.
Gott muss nur
etwas aussprechen und schon wirkt es. Er fordert Abraham nicht auf, irgendetwas
zu denken oder zu arbeiten. Er sagt: „Sei ganz!“ Er wirkt durch sein Wort. Gott
erinnert Abraham daran, dass dieser aus der göttlichen Quelle kommt und von je
her „ganz“ ist. Sein Körper und seine Erlebnisse mögen darauf hinweisen, dass
Abraham sein Leben gelebt und fast verbraucht hat. Aber in seinem Bewusstsein
kann er realisieren, dass er ganz und gar aus Gott kommt und nie etwas
verlieren kann.
Ich kann also in meine
Kränkungen und Enttäuschungen gehen und mich darin eingraben und festmachen.
Ich kann mich als zusammengesetzten Scherbenhaufen betrachten, der noch so
ungefähr kann. Ich kann mich aber auch mit meinem Geist, mit meiner Seele auf
eine Ebene bewegen, auf der ich alle Kränkungen in Segen verwandeln kann. Mit
meiner körperlichen, irdischen Existenz fällt mir das schwer. Die zerbrochene
Freundschaft kann ich kitten, aber das Ereignis nie auslöschen.
Ich kann jedoch
meine Erlebnisse auswerten und auf der Seelenebene verwandeln. Wie meine ich
das? Gott spricht zu Abraham: „Wandle einher vor meinem Antlitz und sei ganz.“
Abraham möge sich vor dem Antlitz Gottes bewegen. Er geht also in den heilenden
Raum Gottes hinein. Er verlässt seinen enttäuschenden, menschlichen Lebensraum
und stellt sich hinein in den göttlichen Raum. So, als würde eine Mutter zum
weinenden Kind sagen: „Komm her zu mir. Ich tröste dich!“ Gott spricht eine
Einladung aus, dass in seiner Nähe Heilung passieren kann.
Abraham muss
nichts weiter machen, als sich quasi unter die „göttliche Dusche“ zu stellen. Da
geschieht etwas, nur weil er sich in die göttliche Nähe begibt. Fern von Gott
bleibt das Leid an ihm kleben. Er wird es nie ausradieren können. In der
göttlichen Nähe geschieht etwas Unerwartetes. Abraham muss nur näher kommen.
Wenn er Gott nahe kommt, dann kommt er auch der Erinnerung nahe, wo sein
eigener Urgrund sich befindet. Abraham kommt Gott nahe und „weiß“ innerlich:
„Ich gehöre ja zu Gott! Wie konnte ich das vergessen!“
Ich kann es also
wie Abraham machen oder wie die Menschen, die zu Jesus gegangen sind. Ich
verändere meinen Ort und bewege mich in die Nähe Gottes. Wie mache ich das? Ich
schließe die Augen und konzentriere mich auf meinen Herzensraum. Ich vergegenwärtige
mir dort, dass ich aus dem Göttlichen komme und mich darin bewege. Ich
visualisiere die Ereignisse, die für mich krisenhaft waren und bis heute
nachwirken. Ich fühle die Gefühle von Trauer, Angst und Wut. Aber ich fühle sie
im Herzensraum. Ich gedenke des Ereignisses im Herzensraum. Ich lade alle
Beteiligten meiner Konflikte dorthin ein. Der Herzensraum ist wie ein Tempel
oder wie ein Krankenzimmer oder wie der tröstende Arm meiner Mutter. Ich dehne
mich in diesen Raum hinein aus und spüre die göttliche Weite, die entsteht.
In der Bibel
spricht Gott eine Einladung aus an Abraham: „Komm mal her und probiere es aus!“
Auch, wenn wir den Eindruck haben in einer Zeit zu leben, in der Gott nicht
mehr spricht, gilt die Einladung. In deinem Herzensraum spricht Gott auch heute
noch. Er hat sich dahin zurückgezogen, weil die Intimität und Wirksamkeit höher
ist. Wenn ich dich einlade, deine Augen zu schließen und dir das einfach so
vorzustellen, dann meine ich es genau so! Es ist eine Einladung, es einfach mal
zu machen. So wird das Wort Gottes auch heute noch für dich erfahrbar: „Wandle
einher vor meinem Antlitz und sei ganz!“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen