Der
Nachtisch wurde bei uns zu Hause stets gerecht verteilt. Die große
Schüssel mit Quark kam auf den Tisch, dazu die kleinen Dessertteller.
Dann nahm Mutter einen großen Löffel und zählte ab. Fünf Löffel für
jeden. Wir fünf Kinder verfolgten mit den Augen das Schauspiel. Schafft
Mutter es, alles gerecht zu verteilen? Wir hätten die Teller auf eine
Waage stellen müssen, dann hätten wir es wirklich gewusst. So mussten
wir unseren Augen und den Fähigkeiten der Mutter vertrauen.
"Das
ist nicht gerecht!" Diesen Protestruf habe ich im Laufe meines Lebens so
häufig gehört sei es von Kindern oder Erwachsenen. Das Leben ist eine
Tummelwiese von großen und kleinen Ungerechtigkeiten. Immer wieder
fühlen Menschen sich ungerecht behandelt. Der Andere hat mehr bekommen
als ich! Der Eine lebt im materiellen Wohlstand, obwohl er es "nicht
verdient" hat und der Andere lebt in Armut, wo er doch so fleißig ist.
Die
Dessertverteilung habe ich als Kind zwar als sehr gerecht empfunden. Es
war aber auch anstrengend! Du musstest immer deine Augen aufmachen. Du
musstest messen, zählen, abwiegen und vergleichen.
Dabei gerät
völlig aus dem Bewusstsein, dass du vielleicht gar nicht so viel
möchtest oder brauchst. Aber du nimmst dir den gerechten Anteil, damit
du nicht übervorteilt wirst.
Ich glaube nicht, dass es möglich
ist, die Welt gerecht zu gestalten. Gerechtigkeit bleibt subjektiv, ist
abhängig vom jeweiligen Beobachter. Du hast Glück oder weniger Glück. Du
lebst im falschen Land auf dem falschen Kontinent. Du lebst in der
benachteiligten oder privilegierten Schicht. Am Thema Gerechtigkeit
kannst du ein ganzes Leben abarbeiten.
Jetzt stell dir einmal die
Alternative vor am Beispiel meiner Quarkschüssel. Jeder am Tisch bekommt
so viel wie er braucht. Was wird geschehen? Macht die Angst sich breit,
dass es für mich nicht genug gibt? Dass jemand vor mir den Teller sich
vollmacht ohne Rücksicht auf Verluste? Wenn mein Nachbar ein solch
großes Bedürfnis hat und so viel braucht, warum nicht? Mag er es doch
nehmen!
So einfach wird es doch nicht gehen. Es würde Sinn machen,
vorher darüber zu sprechen, was jeder braucht. Dann kann man
abschätzen, ob der Vorrat reicht. Es geht dann darum, das einzelne
Bedürfnis in den Blick zu nehmen und das Gesamtbedürfnis aller. Das muss
besprochen und verhandelt werden. Ich habe die erstaunliche
Feststellung gemacht, dass es bei solchen Experimenten immer mehr als
genug war!
Wenn am Ende dann jeder bekommt was er braucht, wird
Gerechtigkeit überflüssig. Der Wunsch nach Gerechtigkeit schaltet sich
ja erst ein, wenn das Bedürfnis des Einzelnen nicht genug berücksichtigt
wird. Ist es sinnvoll, für eine gerechte Welt zu kämpfen? Oder macht es
mehr Sinn, sich dafür einzusetzen, dass jeder das bekommt, was er zum
Leben braucht. Ich glaube nicht, dass ich die Welt gerechter machen
kann, aber ich kann meine Augen und mein Herz öffnen für die Bedürfnisse
der Menschen, mit denen ich Kontakt habe.
www.matthias-koenning.de
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