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Montag, 2. Oktober 2017

Sich hingeben - oder die Kunst, Kastanien zu sammeln



Ich mag Kastanien. Wenn sie am Boden liegen weiß ich, dass der Herbst Einzug gehalten hat. Es kommen auch Erinnerungen hoch an meine Kindergarten und Schulzeit, wo wir aus diesen Kastanien und Streichhölzern Tiere gebastelt haben. Aber irgendwie ist diese Erinnerung nicht mit einer großen Emotion verbunden. Eigentlich könnte ich darum auch nicht viel zum Thema Kastanien schreiben und müsste hier einen Punkt machen. Bisher haben sie mich nicht wirklich angesprochen oder meine Aufmerksamkeit erregt. Im Augenblick beschäftigen sie mich dennoch vielleicht wegen der Zeit der Ernte.
Susanne berührt dieses Thema auf eine ganz besondere Weise und davon möchte ich gerne aus einem bestimmten Grund erzählen. Der Anlass sind natürlich die Kastanien, die du jetzt in der Natur finden kannst. Doch jetzt lasse ich einmal Susanne sprechen.
„Also, wenn ich Kastanien finden will, muss ich schon im Sommer anfangen. Wenn ich zum Beispiel umgezogen bin, dann weiß ich zunächst nicht, wo in meiner Umgebung Kastanienbäume stehen und ob sie frei zugänglich sind. Wenn ich im Herbst welche finden will, dann muss ich schon im Sommer Ausschau danach halten. Wichtig ist, dass ich sie dann auch kontinuierlich im Blick behalte. Wie weit sind sie? Wann fallen wohl die ersten zu Boden? Schließlich gibt es oft viele Interessenten dafür. Erzieherinnen, Kinder und andere Herbstsammler.
Da gibt es zunächst einmal diese Vorfreude, die plötzlich auftaucht. Bald ist es so weit! Der Zeitpunkt rückt immer näher. Die Bäume sind voll, aber noch will keine fallen. Ich muss mich noch gedulden. Zugleich muss ich ab einem bestimmten Zeitpunkt regelmäßig wiederkommen sonst verpasse ich den Augenblick, wo es losgeht.
Und irgendwann ist es so weit. Ich gehe zu den Bäumen hin und blicke erwartungsvoll auf den Boden. Ich sehe die ersten Kastanien in der stacheligen Hülle.
Mein Herz hüpft vor Freude über diesen Augenblick. Ich habe so lange gewartet und jetzt werde ich belohnt. Ich darf die erste Kastanie nehmen und sie auspacken. Und wenn ich Glück habe, erwische ich eine „Zwillingskastanie.“ Ich packe sie aus und sie glänzt in der Sonne. Ich halte dieses glänzende Etwas in meinen Händen und befühle es und streichle es und – stecke diesen Schatz schnell in meine Tasche. Meine erste Kastanie in diesem Jahr. Ich habe sie entdeckt! Niemand sonst! Es ist mein ganz persönlicher Schatz!
Davon möchte ich mehr! Das Ereignis möchte ich wiederholen. Ich sehe noch eine frische Kastanie auf dem Rasen  und noch eine. Eine um die andere stecke ich in meine Jackentasche und fühle mich glücklich und beseelt.
Diejenigen, die schon länger daliegen, interessieren mich nicht. Wenn sie auf die Straße fallen haben sie oft  schon eine Macke oder ihren Glanz verloren. Mich interessieren die heilen und glänzenden – und vor allem die eingepackten!
Es darf mir auch niemand beim Finden helfen oder Hinweise geben. Ich möchte selbst entdecken. Ich befinde mich in einem Finderausch. Es ist mein Finderausch und ich möchte mich dem hingeben. Irgendwann bin ich satt und die Kastanien liegen als Herbstdeko auf meinem Tisch. Und ich weiß, ich bin im Herbst angekommen.“
Ich stehe daneben und staune. Ich staune darüber, dass es möglich ist, eine solche Leidenschaft zu entwickeln für das Kastaniensammeln. Ich staune über die Details und das Ausmaß der Freude. Und es ist ein Geschenk, teilnehmen zu dürfen.
Es gibt noch einen tieferen Sinn, warum ich dir diese Geschichte erzähle. Ich sehe Kastanien zwar, aber ich empfinde relativ wenig dabei. Sie sind halt da. So wie Eicheln am Boden liegen oder das Wasser im Bach fließt. Susanne hingegen geht schon das Herz auf, allein wenn sie an das erste Sammeln denkt oder darüber spricht. Das ist der Unterschied!
Im Herbst richtet sich die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf das, was wir geerntet haben.  Aus diesem Anlass feiern wir Erntedank. Wir sagen Dank für die Ernte und für das, was eigentlich nicht selbstverständlich ist. Aber das sind Sätze für den Kopf und Sätze für die Moral nach dem Motto: „Sei dankbar!“ Was ist jedoch, wenn du diese Dankbarkeit nicht spürst? Wenn die Dankbarkeit nicht mit einer tiefen Freude verbunden ist. Es geht mir also nicht um den Appell: „Sei dankbar!“ Es geht mir um die Freude, die du spüren kannst, wenn du die frischen Kastanien siehst oder die duftenden Äpfel riechst.
Du nimmst mit allen Sinnen wahr. Du riechst die Kräuter, du siehst die Kartoffeln, du schmeckst die Birnen, du befühlst die Nüsse. Du tauchst ein in die Fülle von allem, was ist. Du bist ein Teil der Schöpfung!
Meine Leidenschaft dreht sich weniger um die Kastanie sondern mehr um die Kartoffel. Kartoffeln sprechen mit mir. Sie sagen mir: „Wir wollen zu dir!“ Ich sehe eine Kartoffel an und es kommt ein klares „Ja!“ oder ein „Nein!“ Bei Kartoffeln geht mein Herz auf. Ob gebraten oder gekocht, aus dem Ofen oder als Bestandteil im Eintopf ist egal. Allein die Vorstellung und das Bild davon lässt mich ein ganzes Buch darüber schreiben.
Und, wie steht es mit dir? Wenn du jetzt im Herbst das Obst und Gemüse siehst! Wo geht dein Herz auf? Wo wird deine Leidenschaft geweckt? Wo wirst du lebendig? Wo verlässt du den moralischen Appell an die Dankbarkeit und findest den Weg zur puren Lebensfreude? Welche Geschichte würdest du mir erzählen mit leuchtenden Augen?
Wenn ich diese Frage stelle kommt mir noch ein anderes Wort in den Sinn: „Hingabe!“ Sich der Freude hingeben, sich den Kastanien hingeben, sich einem tollen Essen hingeben, sich der Liebe hingeben. Das ist für mich ein zutiefst spirituelles und religiöses Erlebnis. Du wendest dich mit deiner ganzen Aufmerksamkeit und deinem Dasein etwas hin und gehst darin auf. Für einen Augenblick wirst du zur Kartoffel oder zur Kastanie oder zu deiner Geliebten.
Du lässt dein Sicherheitsbedürfnis los und deine Ängste. Du gehst hinein wie in einen Prozess von Auflösung und Ganzwerdung zugleich. Wenn du dich hingibst, dann machst du das ganz freiwillig. Ganz von dir aus und mit deinem ganzen Wesen. Und darin kommt etwas Göttliches zum Vorschein.
Gott selbst erlebe ich als leidenschaftlich und hingebungsvoll. Vielleicht kannst du dir vorstellen, dass es da zu einer tollen göttlichen Begegnung kommen könnte. Du und deine „Kastanie“ oder „Kartoffel“ oder was immer du auch liebst und für Wert erachtest, dich hinzugeben. So wünsche ich es dir, ganz in dieser „Erntefreude“ zu sein. 
www.matthias-koenning.de 

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