Die Zeit rast dahin. Sie reicht nie aus für all die Projekte, die ich vorhabe. Die Tage sind zu kurz. Die Wochen sind erfüllt. Ich könnte noch effektiver werden. Ich könnte mich noch mehr konzentrieren. Die Abläufe besser planen. Aber wenn ich eine Aufgabe erledigt habe ruft die nächste mir zu, dass sie auch noch dran ist. Innerlich gibt es seit einigen Jahren einen völlig entspannten Teil von mir, dem klar ist: „Es gibt nichts zu tun!“ Angesichts der Ewigkeit sind meine Lebensaufgaben doch eher bescheiden und überschaubar.
Ein anderer eher
praktisch orientierter Teil von mir sieht aber den ungepflegten Garten, die
Bügelwäsche, die Kunden und die hohen eigenen Ansprüche. Der Terminkalender
erzählt mir, dass ich in der nächsten Woche einen Vortrag halten muss, in zwei
Wochen ein Seminar, viele Beratungen und, und, und.
Ich möchte das
Leben gerne entschleunigen. Langsamer werden. Auf dem Markt finde ich dazu
viele Bücher, die mich unterstützen wollen. Aber irgendwie habe ich den
Eindruck, dass diese Bücher mir nicht helfen. Sie versetzen mich in eine noch
größere Unruhe. Ich werde mir meiner Unfähigkeit bewusst, wirklich langsamer zu
werden. Die Ratgeberliteratur bringt meinen Verstand durcheinander. „Das müsste
ich auch noch bedenken?“ - „So könnte ich es noch besser machen?“ – „Eigentlich
müsste ich meine ganze Persönlichkeit umkrempeln!“
Wie gehe ich aber
damit um, wenn ich in meinem Leben dahineile? Ich erinnere mich an einen Meditationskurs,
wo die Kursleiterin uns einen meditativen Tanz beigebracht hat. „Wir gehen im
Pilgerschritt.“ Mit langsamer Musik drei Schritte vor und einen Schritt zurück.
Wer langsam läuft kommt auch ans Ziel. Mir gefällt diese Form der
Entschleunigung. Ich laufe in der Regel schnell. Sehr schnell! Ich rase durchs
Leben. Wenn ich jetzt drei Schritte vorlaufe befinde ich mich im gängigen
Arbeitsmodus. Wenn ich dann den Schritt rückwärts setze unterbreche ich und mache
einen Stopp. Jetzt sehe ich für einen Moment noch einmal den „Filmausschnitt“,
wo ich beim zweiten Schritt war.
Dieser eine
Schritt zurück macht einen Unterschied. Ich unterbreche die Abläufe. Überprüfe
noch einmal, ob sich alles so richtig anfühlt. Ich kann die Richtung korrigieren.
Ich werde zwar langsamer, aber ich komme trotzdem ans Ziel.
Das sage ich
meinem Kopf! Wenn da nur nicht dieser Turbo im Inneren wäre. Klar komme ich
auch ans Ziel wenn ich langsamer bin. Aber ich möchte gerne schnell ankommen. Der
Antreiber! „Mach voran! Fürs Ausruhen wirst du nicht bezahlt!“ Ich erinnere
mich an meine Kindheit. Mein Vater hat als Schuhmacher in einer Fabrik
gearbeitet. Schuhe produzieren im Akkord. Dieser Rhythmus übertrug sich auch
auf unser Familienleben. Irgendwie kann ich diesen Rhythmus nicht wirklich abstellen.
Er ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Automatisiert.
Wenn Menschen bei
der Arbeit trödeln fange ich an, mit den Fingern auf Tische zu trommeln. Wenn
bei einer Konferenz der Moderator durch die Tagesordnungspunkte schleicht,
steigert sich bei mir der Stresspegel von Minute zu Minute. Der Pilgerschritt
mit drei nach vorne und eins zurück bedeutet für mich eine echte Herausforderung.
In eine meiner
Beratungen habe ich eine Frau begleitet während ihrer Trennungsphase vom Ehemann.
Es hat lange gedauert, bis sie sich wirklich trennen konnte. Ich an ihrer
Stelle hätte den Schritt schon viel früher gemacht. Es war alles klar. Die
Beziehung war nicht mehr zu retten. Ich musste all meine Geduld aufbringen,
mich ihrem Tempo anzupassen. Dann schaffte sie endlich die Trennung und zog in
ihre neue Wohnung ein. Ein paar Wochen später erzählte sie mir, dass sie immer
noch die Wäsche ihres Mannes waschen würde. Und kochen würde sie auch noch für
ihn. Und sie litt, dass das mit der Trennung wohl nie völlig klappen würde.
Für einen
Augenblick dachte ich: „Es ist alles zwecklos. Die trennt sich nie!“ Im
nächsten Augenblick jedoch wurde ich völlig heiter und gelassen. Jetzt hatte
ich verstanden. Diese Frau lebt im Rhythmus des Pilgerschrittes. Und das
erzählte ich ihr. „Ja, Sie machen das wie beim Pilgerschritt. Drei vor und eins
zurück.“ Als ich ihr den Ablauf erklärte brach sie in ein Gelächter aus. „Davon
habe ich ja noch nie was gehört.“
Der Pilgerschritt
wurde für diese Frau zu einer Erlaubnis. Die Erlaubnis, sich so zu trennen, wie
es ihrem Tempo entsprach. Zugleich fand ich darin einen Hinweis für mich
selbst. Es ist auch in Ordnung durchs Leben zu eilen. Ich darf mir dazu die
Erlaubnis geben.
Irgendwann kam
mir die Erinnerung, dass es da auch noch die Echternacher Springprozession gibt.
Mir erzählte mal ein Pfarrer, dass man bei dieser Wallfahrt auch ein paar
Schritte vor und dann wieder zurückging. Ich konnte mir nie vorstellen, wie eine
große Schar praktisch gemeinsam springen könnte. Ich stellte mir so etwas wie
den Pilgerschritt vor.
Nach meiner
Trennungsberatung machte ich mich schlau und suchte bei YouTube nach der Echternacher
Springprozession und wurde fündig. Am Dienstag nach Pfingsten wird zu Ehren des
Heiligen Willibrord prozessiert. Unzählige Musikkapellen begleiten das Geschehen,
Tausende Zuschauer am Straßenrand. Das „Springdetail“ sieht folgendermaßen aus:
Zuerst die Musiker und dann eine feste Gruppe von Springern. Fünf in einer
Reihe, die sich gegenseitig an einem Dreiecktuch festhalten und miteinander
verbinden. Die Kapelle spielt eine Einleitung und dann ertönt so etwas wie eine
Polka. Und immer die gleiche Polka für die ca. 45 Fußgruppen. Die Leute gehen
aber nicht im meditativen Pilgerschritt drei Schritte vor und einen zurück
sondern alle tanzen eher vorwärts und von links nach rechts. Manche tanzen eher
ernsthaft versunken aber die meisten fröhlich und beschwingt. Nur die Bischöfe
und Prälaten laufen andächtig. Ich hätte sie gerne auch springen gesehen.
Jetzt schaute ich
mir also die Echternacher „Tanzprozession“ an und dachte dabei an meine Frau
aus der Beratung. Wie wäre es, wenn sie ihr Leben umdeutet? Der mühsame Prozess
der Trennung mit drei Schritten vor und einen zurück? Oder lieber doch tanzend
durch die Krise?
Bei der
Springprozession geht es wie beim Pilgerschritt langsam voran. Aber eben mehr
zur Seite als nach vorne. Es sieht nicht sehr fromm aus und man kann bestimmt
nicht gleichzeitig beten. Wenn ich im übertragenen Sinne zur Seite trete, dann
mache ich Platz. „Könnten Sie mal bitte zur Seite treten? Danke!“ Ich tanze zur
Seite und mache mir selber Platz. Oder der Zukunft oder dem Schicksal. Oder der
Lösung? Wenn ich mich in einer Krise befinde tanze ich zur Seite damit sich mir
eine Lösung zeigt. Sie hüpft von hinten an mir vorüber und lacht mir zu: „Hier
bin ich!“
Welche Schüsse
ziehe ich nun aus den unterschiedlichen Arten des Pilgerns? Ich kann laufen in
meinem Tempo und erlebe darin meinen Alltag. Da geht es mal langsamer und mal
schneller. Eben normal. Hilfreich finde ich dabei, sich nicht zu verurteilen
für welches Tempo auch immer.
Daneben kann ich
im Pilgerschritt durchs Leben gehen. Das wirkt besinnlich und hat den Vorteil,
mal innezuhalten. Ich gehe einen Schritt zurück und entscheide mich vielleicht
noch einmal neu. Ich bin mir sicher, dass ich auch langsam ans Ziel komme.
Oder ich wähle
zwischendurch mal die Echternacher Variante. Ich tanze und hüpfe durchs Leben.
Weg von der Mühe und der Anstrengung. Und mit mehr Leichtigkeit. Pilgerschritt
als Aufgabe und den Tanz als Geschenk.
Meine Empfehlung: Wenn du mal eine etwas dunkle Stunde hast mit
schweren Beinen, dann besuche einen YouTube Kanal und schau dir die
Echternacher Springprozession an. Bleib dabei nicht sitzen sondern hüpfe mal
eben so durch dein Wohnzimmer. Schon nach wenigen Minuten kannst du die Melodie
mitsummen. Sie klingt irgendwie nach Kinderreim. Mach es, auch wenn dir gar
nicht zum Tanzen zumute ist. Es könnte eine gute Therapie sein.
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