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Samstag, 15. Juni 2024

Leben im meditativen Pilgerschritt oder doch lieber als Tanz?!



Die Zeit rast dahin. Sie reicht nie aus für all die Projekte, die ich vorhabe. Die Tage sind zu kurz. Die Wochen sind erfüllt. Ich könnte noch effektiver werden. Ich könnte mich noch mehr konzentrieren. Die Abläufe besser planen. Aber wenn ich eine Aufgabe erledigt habe ruft die nächste mir zu, dass sie auch noch dran ist. Innerlich gibt es seit einigen Jahren einen völlig entspannten Teil von mir, dem klar ist: „Es gibt nichts zu tun!“ Angesichts der Ewigkeit sind meine Lebensaufgaben doch eher bescheiden und überschaubar.
Ein anderer eher praktisch orientierter Teil von mir sieht aber den ungepflegten Garten, die Bügelwäsche, die Kunden und die hohen eigenen Ansprüche. Der Terminkalender erzählt mir, dass ich in der nächsten Woche einen Vortrag halten muss, in zwei Wochen ein Seminar, viele Beratungen und, und, und.
Ich möchte das Leben gerne entschleunigen. Langsamer werden. Auf dem Markt finde ich dazu viele Bücher, die mich unterstützen wollen. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese Bücher mir nicht helfen. Sie versetzen mich in eine noch größere Unruhe. Ich werde mir meiner Unfähigkeit bewusst, wirklich langsamer zu werden. Die Ratgeberliteratur bringt meinen Verstand durcheinander. „Das müsste ich auch noch bedenken?“ - „So könnte ich es noch besser machen?“ – „Eigentlich müsste ich meine ganze Persönlichkeit umkrempeln!“
Wie gehe ich aber damit um, wenn ich in meinem Leben dahineile? Ich erinnere mich an einen Meditationskurs, wo die Kursleiterin uns einen meditativen Tanz beigebracht hat. „Wir gehen im Pilgerschritt.“ Mit langsamer Musik drei Schritte vor und einen Schritt zurück. Wer langsam läuft kommt auch ans Ziel. Mir gefällt diese Form der Entschleunigung. Ich laufe in der Regel schnell. Sehr schnell! Ich rase durchs Leben. Wenn ich jetzt drei Schritte vorlaufe befinde ich mich im gängigen Arbeitsmodus. Wenn ich dann den Schritt rückwärts setze unterbreche ich und mache einen Stopp. Jetzt sehe ich für einen Moment noch einmal den „Filmausschnitt“, wo ich beim zweiten Schritt war.
Dieser eine Schritt zurück macht einen Unterschied. Ich unterbreche die Abläufe. Überprüfe noch einmal, ob sich alles so richtig anfühlt. Ich kann die Richtung korrigieren. Ich werde zwar langsamer, aber ich komme trotzdem ans Ziel.
Das sage ich meinem Kopf! Wenn da nur nicht dieser Turbo im Inneren wäre. Klar komme ich auch ans Ziel wenn ich langsamer bin. Aber ich möchte gerne schnell ankommen. Der Antreiber! „Mach voran! Fürs Ausruhen wirst du nicht bezahlt!“ Ich erinnere mich an meine Kindheit. Mein Vater hat als Schuhmacher in einer Fabrik gearbeitet. Schuhe produzieren im Akkord. Dieser Rhythmus übertrug sich auch auf unser Familienleben. Irgendwie kann ich diesen Rhythmus nicht wirklich abstellen. Er ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Automatisiert.
Wenn Menschen bei der Arbeit trödeln fange ich an, mit den Fingern auf Tische zu trommeln. Wenn bei einer Konferenz der Moderator durch die Tagesordnungspunkte schleicht, steigert sich bei mir der Stresspegel von Minute zu Minute. Der Pilgerschritt mit drei nach vorne und eins zurück bedeutet für mich eine echte Herausforderung.
In eine meiner Beratungen habe ich eine Frau begleitet während ihrer Trennungsphase vom Ehemann. Es hat lange gedauert, bis sie sich wirklich trennen konnte. Ich an ihrer Stelle hätte den Schritt schon viel früher gemacht. Es war alles klar. Die Beziehung war nicht mehr zu retten. Ich musste all meine Geduld aufbringen, mich ihrem Tempo anzupassen. Dann schaffte sie endlich die Trennung und zog in ihre neue Wohnung ein. Ein paar Wochen später erzählte sie mir, dass sie immer noch die Wäsche ihres Mannes waschen würde. Und kochen würde sie auch noch für ihn. Und sie litt, dass das mit der Trennung wohl nie völlig klappen würde.
Für einen Augenblick dachte ich: „Es ist alles zwecklos. Die trennt sich nie!“ Im nächsten Augenblick jedoch wurde ich völlig heiter und gelassen. Jetzt hatte ich verstanden. Diese Frau lebt im Rhythmus des Pilgerschrittes. Und das erzählte ich ihr. „Ja, Sie machen das wie beim Pilgerschritt. Drei vor und eins zurück.“ Als ich ihr den Ablauf erklärte brach sie in ein Gelächter aus. „Davon habe ich ja noch nie was gehört.“
Der Pilgerschritt wurde für diese Frau zu einer Erlaubnis. Die Erlaubnis, sich so zu trennen, wie es ihrem Tempo entsprach. Zugleich fand ich darin einen Hinweis für mich selbst. Es ist auch in Ordnung durchs Leben zu eilen. Ich darf mir dazu die Erlaubnis geben.
Irgendwann kam mir die Erinnerung, dass es da auch noch die Echternacher Springprozession gibt. Mir erzählte mal ein Pfarrer, dass man bei dieser Wallfahrt auch ein paar Schritte vor und dann wieder zurückging. Ich konnte mir nie vorstellen, wie eine große Schar praktisch gemeinsam springen könnte. Ich stellte mir so etwas wie den Pilgerschritt vor.
Nach meiner Trennungsberatung machte ich mich schlau und suchte bei YouTube nach der Echternacher Springprozession und wurde fündig. Am Dienstag nach Pfingsten wird zu Ehren des Heiligen Willibrord prozessiert. Unzählige Musikkapellen begleiten das Geschehen, Tausende Zuschauer am Straßenrand. Das „Springdetail“ sieht folgendermaßen aus: Zuerst die Musiker und dann eine feste Gruppe von Springern. Fünf in einer Reihe, die sich gegenseitig an einem Dreiecktuch festhalten und miteinander verbinden. Die Kapelle spielt eine Einleitung und dann ertönt so etwas wie eine Polka. Und immer die gleiche Polka für die ca. 45 Fußgruppen. Die Leute gehen aber nicht im meditativen Pilgerschritt drei Schritte vor und einen zurück sondern alle tanzen eher vorwärts und von links nach rechts. Manche tanzen eher ernsthaft versunken aber die meisten fröhlich und beschwingt. Nur die Bischöfe und Prälaten laufen andächtig. Ich hätte sie gerne auch springen gesehen.
Jetzt schaute ich mir also die Echternacher „Tanzprozession“ an und dachte dabei an meine Frau aus der Beratung. Wie wäre es, wenn sie ihr Leben umdeutet? Der mühsame Prozess der Trennung mit drei Schritten vor und einen zurück? Oder lieber doch tanzend durch die Krise?
Bei der Springprozession geht es wie beim Pilgerschritt langsam voran. Aber eben mehr zur Seite als nach vorne. Es sieht nicht sehr fromm aus und man kann bestimmt nicht gleichzeitig beten. Wenn ich im übertragenen Sinne zur Seite trete, dann mache ich Platz. „Könnten Sie mal bitte zur Seite treten? Danke!“ Ich tanze zur Seite und mache mir selber Platz. Oder der Zukunft oder dem Schicksal. Oder der Lösung? Wenn ich mich in einer Krise befinde tanze ich zur Seite damit sich mir eine Lösung zeigt. Sie hüpft von hinten an mir vorüber und lacht mir zu: „Hier bin ich!“
Welche Schüsse ziehe ich nun aus den unterschiedlichen Arten des Pilgerns? Ich kann laufen in meinem Tempo und erlebe darin meinen Alltag. Da geht es mal langsamer und mal schneller. Eben normal. Hilfreich finde ich dabei, sich nicht zu verurteilen für welches Tempo auch immer.
Daneben kann ich im Pilgerschritt durchs Leben gehen. Das wirkt besinnlich und hat den Vorteil, mal innezuhalten. Ich gehe einen Schritt zurück und entscheide mich vielleicht noch einmal neu. Ich bin mir sicher, dass ich auch langsam ans Ziel komme.
Oder ich wähle zwischendurch mal die Echternacher Variante. Ich tanze und hüpfe durchs Leben. Weg von der Mühe und der Anstrengung. Und mit mehr Leichtigkeit. Pilgerschritt als Aufgabe und den Tanz als Geschenk.
Meine Empfehlung: Wenn du mal eine etwas dunkle Stunde hast mit schweren Beinen, dann besuche einen YouTube Kanal und schau dir die Echternacher Springprozession an. Bleib dabei nicht sitzen sondern hüpfe mal eben so durch dein Wohnzimmer. Schon nach wenigen Minuten kannst du die Melodie mitsummen. Sie klingt irgendwie nach Kinderreim. Mach es, auch wenn dir gar nicht zum Tanzen zumute ist. Es könnte eine gute Therapie sein.

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