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Donnerstag, 22. Juni 2017

Toller Ausblick

Ich schaue auf eine Postkarte. Ich sehe, wie eine Frau mit einem Kind am Rand des Pools sitzen auf das Meer schauen. Toller Ausblick. Ich sehe das Meer nicht. Aber ich beobachte, wie die beiden in den Horizont schauen. Mutter mit Tochter? Ähnliche Badeanzüge, weiße Hüte und gleiche Handhaltung. Die eine stützt sich links ab, die andere rechts. Beide sitzen dort Hand in Hand. Geborgenheit und Weite zugleich. Wunderbarer Ausblick! Toller Eindruck!

Da wird ein Wunsch in mir wach. Ich möche im Meer des Lebens nicht untergehen. Nicht ertrinken im Angesicht der tausend Möglichkeiten. Die Freiheit lockt und verwirrt zugleich. Wohin soll ich mich wenden? Der Pool ist nicht tief und begrenzt. Da kann ich mich einüben in die Freiheit. Der Pool für die Kleinen und das Meer für die Großen. Um die Freiheit zu leben muss ich mich in den kleinen Freiräumen ausprbieren. Zur Not steht Mama am Rand und fischt mich heraus!

Am Rand des Pools kann ich in Sicherheit sitzen und das weite Meer bestaunen. Es ist großartig! Und im Moment gehe ich nicht unter und ich vergehe nicht vor Angst. Jetzt stelle ich mir vor, dass ich im großen Ozean schwimme. Es gibt keinen Haltepunkt am Horizont. Nur Wasser um mich herum. Nichts, woran ich mich festmachen kann. Meine Kraft reicht noch für eine kurze Zeit und dann werde ich ertrinken.

Ich gehe wieder mit meiner Aufmerksamkeit zurück zum Pool. Ich sitze dort und werde nicht ertrinken. Ich halte mich fest am Stein und an der Hand meiner Mutter. Ich werde dort nicht ertrinken. Ich darf wieder im Pool üben und eines Tages werde ich mich an den Strand stellen und Schritt für Schritt das Meer erobern. Ich werde dort schwimmen und an das Ufer zurückkehren mit festem Boden unter den Füßen. Jetzt sitze ich am Rand und genieße den tollen Ausblick.

Wenn ich erwachsen bin, werde ich schwimmen! Und ich stehe als Betrachter vor dem Foto: Mutter mit Kind und ich beobachte. Ich bin die Mutter und ich bin das Kind. Ich schwimme und ich werde gehalten und ich genieße die Freiheit und ich spüre die Angst. Alles gleichzeitig. Ich habe Halt und verliere den Halt. Und jetzt stehe ich hier im Laden und beobachte Mutter und Kind. ich stehe hier und bin in der städtischen Sicherheit einer Fußgängerzone. Ich lebe in der Illusion, hier sicher zu sein.

Ich beobachte Mutter und Tochter und stehe sicher hier an meinem Platz. Kein endloses Wasser um mich herum und fester Boden unter meinen Füßen. Ich werde hier und jetzt nicht ertrinken! Ich sehe aber am Horizont etwas, was Mutter und Kind nicht sehen. Ihre Bildidylle ist eingefroren für die Ewigkeit. Ich sehe jemanden am Horizont, der mir zuwinkt. "Komm und schwimm!" Ich werde gehen und schwimmen. Und schwimmen... und eines Tages untergehen. Ob ich will oder nicht. Ich stehe hier und betrachte das Foto und ich weiß, dass ich untergehen werden. Ich werde ertrinken. Das weiß ich gewiss. Jeder Mensch "ertrinkt" irgendwann am Ende des Lebens. Ich könnte mich einüben! Wenn es eh kommt? Einüben ins Loslassen, nicht vertrauen, wenn sich die Idylle zeigt. Der tolle Ausblick! Sondern vertrauen im Angsicht des sicheren Ertrinkens. Was wartet auf mich am anderen Ende des Ertrinkens? Gebe ich mich der Angst hin oder der Neugier?
www.matthias-koenning.de


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