So lautet der erste Vers mit dem gleichnamigen Gedicht von
Hermann Adam von Kamp. Am letzten Apriltag spukte dieser Satz in meinem Kopf.
Da stimmt doch was nicht! Alles neu macht der Mai. Der Mai kann doch aktiv gar
nichts machen. Menschen können etwas machen aber nicht ein Monat. Der Dezember
macht keinen Schnee und eine Schwalbe macht keinen Sommer. Außerdem soll der
Monat Mai die Fähigkeit besitzen, gleich alles neu zu machen. Alle Achtung! Was
wir dem Mai da so alles zutrauen!
Der Hintergrund des Gedichtes ist sicherlich verständlich.
Der Frühling ist endgültig und unwiderruflich da. Die Schwelle des Winters ist
unwiderruflich überschritten. Der Sommer steht vor der Tür. Das knospende und
neu erblühende Leben ist sichtbar und spürbar erwacht und lässt dich staunen.
Das hätten wir also geklärt, dass der Mai nicht alles neu
macht. Dennoch liegt eine Verlockung und eine Idee in dem Vers, sonst wäre er
nicht bei mir kleben geblieben. Im
Augenblick betrachte ich meine „Besitztümer“.
Das Auto stammt aus dem Baujahr 1999, die Waschmaschine hat mehr als 20
Jahre auf dem Buckel und verweigert das automatische Schleuderprogramm. Mein
Netbook mit Windows XP hat seinen Geist aufgegeben und die Stühle um den
Esszimmertisch gehen aus dem Leim.
Da wünsche ich mir einen Zauberer, der mit den Fingern
schnippt und sagt: „Abrakadabra, alles neu.“ Leider funktioniert das nicht und ich muss
andere Wege finden, die defekten Dinge zu ersetzen. Umgekehrt kenne ich aber
auch das Staunen, wenn mir eine Freundin die Küche zeigt mit dem Kommentar:
„Alles neu!“ Die Geräte sind noch voll funktionstüchtig. Es gibt keine Macken
und Schrammen. Wir erhoffen uns von jedem Gerät, dass es ohne jede
Beeinträchtigung zu hundert Prozent zu unserer Verfügung steht. Schon nach kurzer Zeit stellst du jedoch
fest: Die erste Macke und die ersten kleinen Defekte stellen sich ein. Das ist
bei den Gebrauchsgegenständen auch ganz normal so und wenn du genügend Geld
hast, dann tauschst du halt aus.
Ich möchte aber gerne noch einen Schritt weiterdenken in
Richtung unserer menschlichen Beziehungen. Du lernst jemanden kennen und
findest ihn oder sie nett. Du knüpfst Kontakt und erlebst die Beziehung als
neu, erfrischend, bereichernd, wohltuend... und wünschst dir mehr davon. Der
Kontakt wird intensiver und tiefer. Es geht etwas Zeit ins Land und irgendwann tritt
es unweigerlich ein: Du enttäuschst oder wirst enttäuscht. Erwartungen werden
nicht erfüllt, du bist gekränkt, du verletzt und merkst es vielleicht gar
nicht. Du wirst verletzt, die Beziehung stagniert und du kannst nicht über
deinen Schatten springen. Es droht der Stillstand oder das Ende. Leider kannst
du wieder nicht mit den Fingern schnippen und sagen: „Alles neu!“ Deine
Geschichte bleibt deine Geschichte. Die Erlebnisse kannst du nicht auslöschen!
Du kannst dich aussprechen, versöhnen, vergeben, neu beginnen. Die Narbe
bleibt. Alle Narben im Leben bleiben. Du kannst dein Leben nicht auswechseln
wie ein Auto oder eine Waschmaschine. Du entwickelst dich eher wie ein antikes
Möbelstück. Du polierst mal wieder, reparierst,
machst eine Generalüberholung, fügst etwas hinzu und entfernst etwas.
Deine Grundsubstanz bleibt. Du kannst lernen, mit Verletzungen und Narben
versöhnlich umzugehen, so dass du dir sagen kannst: „Ja, es geht ganz gut so!“ Deine Erfahrungen dienen dir letztlich dazu,
menschlich zu reifen. Wachsen wirst du nur mit deinen sogenannten Fehlern.
Auch wenn du negative Erlebnisse nicht wegwischen kannst
gibt es vielleicht doch den verborgenen Wunsch, einmal noch mal von vorne zu
beginnen. Du wünschst dir die Möglichkeit, deine Geschichte neu zu schreiben.
Deine verkorksten Anteile, die dich verfolgen wären dann einfach nicht mehr da.
Da lese ich in der Bibel beim Propheten Jesaja (43,19) den
Vers: „Denkt nicht mehr an das, was früher war, auf das, was vergangen ist,
sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues.“ Dieser Vers wird
aufgegriffen in der Offenbarung des Johannes, wo es heißt: „Der Tod wird nicht
mehr sein keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.
Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“
Da gibt es jemanden, der einen solch großartigen Satz sagt!
Einer, der alles neu macht. Jemand, der mehr ist als der Mai. Jemand, der
anders mit der Geschichte umgeht, jemand der in der Lage ist, aus Narben und
Wunden etwas Neues zu gestalten. „Siehe, ich mache alles neu.“ Ich gebe diesen
Satz bei Google ein und stelle fest: Kein Mensch traut sich das zu, keine
Behörde, keine Firma. Niemand behauptet von sich: „Ich mache alles neu!“ Die
ersten zehn Seiten finde ich immer die Anspielung auf diese zwei Bibelstellen.
Wenn ich allerdings das Kollektiv eingebe: „Wir machen alles neu“ dann finde ich
Bauunternehmer und Renovierungsbetriebe. Aber kein Mensch behauptet das von
sich allein, dass er alles neu macht, weder der beste Psychotherapeut noch der
Papst.
Es scheint zu den exklusiven Eigenschaften und Fähigkeiten
Gottes zu gehören, ein völlig neues Kapitel im Leben aufzuschlagen. Aber auch
er wird meine Geschichte nicht wegwischen, sie gehört zum meinem Leben dazu. Dennoch
oder zugleich sagt er: „Neben deinen Narben und Wunden, darin und dadurch
entsteht etwas, womit du noch nicht gerechnet hast. Dein Leben schreibt ein
neues Kapitel, eine ermutigende und überraschende Wendung. Das war noch nicht
das Schlusskapitel.“
In eine ähnliche Richtung geht ein Gedanke von Paolo Coelho.
In seinem Buch „Die Schriften von Accra“ entwickelt er die Idee, dass du dein
Leben so lebst, als sei es dein erster Tag. Ich kannte bislang nur die Version
vom letzten Tag. Bei der Vorstellung von der Aufmerksamkeit für den letzten Tag
geht es eher darum, angesichts der zeitlichen Begrenzungen sich nur für die
wichtigen Dinge im Leben zu entscheiden. Bei der Idee vom ersten Tag geht es um
das Erleben des Staunens an sich.
Stell dir einmal vor, du wachst auf und es ist ein
jungfräulicher Tag. Du verlässt den Bauch deiner Mutter und alles, was du
erlebst ist neu. Jeden Tag! Diese Vorstellung gefällt mir.
Ich lege für einen Moment den Ballast an die Seite und öffne
mich mit allen Sinnen für das Wunder des Augenblickes. Der Mai macht zwar nicht
alles neu, aber er lädt ein, wieder einmal aufmerksam zu werden für die Kraft
des Neubeginns.
www.matthias-koenning.de
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