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Sonntag, 8. März 2015

Vom Verlieren und Gewinnen


Mein Leben kann ich beschreiben als eine Verkettung und Abfolge von Verlusten. Und das seit vorsprachlicher Zeit. Mir ging es doch so gut im Bauch meiner Mutter. Ich war geborgen und es fehlte mir an nichts. Es war warm und behaglich und die Herztöne der „ersten Göttin“ waren mein zuverlässiger Begleiter. Es hätte doch alles so bleiben können! Dann geschah dieses große vorgeburtliche Ereignis für das ich keine Worte habe. Ich wurde verstoßen! Ich wurde nicht gefragt! Ich musste! Mein erster großer Verlust und meine erste existentielle Krise. Dieses Ereignis ist eingebrannt in meinem Herzen und in allen Zellen meines Körpers.
Von all diesen Körperzellen aus der Babyphase ist keine mehr da. Auch die musste ich als Verlust abschreiben. Aber sie haben die Nachricht von der ersten großen Katastrophe weitertransportiert nach dem Motto: „Auch wenn wir Zellen sterben, die Botschaft geben wir weiter.“  Ich klammerte mich an meine Mutter mit Händen und Füßen so gut ich konnte und solange ich durfte. Aber ich durfte nur für eine gewisse Zeit. Dann wurde ich entlassen – ohne mein Einverständnis! Auch das war noch vorsprachlich. Irgendwann sagte meine Mutter: „Du kannst jetzt selber laufen. Du bist mir zu schwer!“ Sie verweigerte mir manchmal ihren sicheren Arm. Und dann immer öfter. Auch aus dieser Zeit existiert keine einzige Körperzelle mehr. Keine hat es überlebt. Dieser Weg des „Entzuges“ von meiner Mutter ist ebenfalls in meinem Körper eingespeichert, sprachlos aber spürbar.
Meine Mutter habe ich in vielen kleinen Schritten verloren. Der Verlust sitzt tief, tiefer als ich ahne. Bis heute bin ich traumatisiert! Ich rede nicht darüber, denn ich bin ja ein Erwachsener. Ich kann auf meinen Füßen stehen und habe mich aktiv und einverständlich von meiner Mutter getrennt. Ich habe den Verlust überlebt. Dennoch glaube ich, dass der Verlust mehr war als ich verkraften konnte. Er hat mich überfordert.
Jetzt habe ich nur von den ersten bedeutenden Verlusten gesprochen. Es folgten viele weitere. Die ersten Freunde wollten nicht mehr mit mir spielen. Meine erste Kindergärtnerin hat mich einfach verlassen und den Kindergarten gewechselt. Meine einzige noch lebende Oma in Kindertagen wollte auch nicht bei mir bleiben. Sie verließ mich als ich drei Jahre alt war. Den Verlust des Kindergartens verkauften mir die Erwachsenen mit der Vorfreude auf die Schule um mir diese wieder nach vier Jahren zu nehmen. Und ständig musste ich zu meiner Gesundheit Ade sagen, wenn mich ein Asthmaanfall überfiel.
Merkwürdig! Immer dann, wenn ich es mir so richtig gemütlich gemacht habe! Wenn ich so richtig angekommen war! Wenn ich ganz meinen Platz eingenommen hatte – wurde es mir genommen. Selten freiwillig! Manchmal mit meinem Einverständnis und nach einem längeren Weg der Einsicht.
Sämtliche Schulen habe ich verloren, meine zwei Universitäten und alle Professoren. Keine Arbeitsstelle konnte ich auf die Dauer halten. An manchen durfte ich länger bleiben, an der letzten sogar relativ lange. Am Ende habe ich jedoch alle Stellen verloren.
Als Fußballer bin ich kläglich gescheitert. Wenn es nur auf mich angekommen wäre, dann hätte ich nur verloren. Über die zerbrochenen Freundschaften möchte ich gar nicht sprechen, das würde zu stark schmerzen.
Na, soll ich weitermachen oder reicht es? Was geht jetzt gerade in dir vor? Denkst du: „Der arme Kerl!“ oder „Nicht nur du, ich auch!“ „Ich noch viel mehr!“ „Ich hör auf zu lesen, das hält ja kein Mensch aus!“
Ich gebe dir Recht. Ich rede normalerweise nicht so. Das verbiete ich mir als Berufsoptimist. Wenn ich so denken würde, käme niemand mehr zu mir in die Beratung.
Und dennoch! Es stimmt! Du und ich, wir haben im Leben alles verloren. Das ist quasi der Preis des Lebens überhaupt! Du verlierst! Ständig! Unbemerkt sterben deine Zellen. Schon bahnt sich das Ende des Berufslebens an. Deine Kinder verlassen dich. Dein Haus verliert an Substanz und auf deinem Totenbett bleibt dir nichts mehr.
Ich könnte ja wie ein Held mich den Verlusten tapfer stellen! Kann ich nicht gut, es tut so weh! Es schmerzt immer noch! Ich denke, ich bin damit fertig, und dann geht es wieder los. Noch eine Schleife! Neue Freunde, neue Arbeit, neue Urlaube… und todsicher kommt der Verlust. Ich kann dem nicht entweichen. Ich möchte es verhindern. Darum habe ich ja ein Bankkonto, eine Arbeitslosenversicherung, eine Rente in Aussicht, mein Bankkonto und meinen Hausarzt. So kann ich die Dinge noch ein wenig zusammenhalten. Aber auf die Dauer?
Wenn dies jetzt der letzte Satz wäre würdest du vielleicht vermuten, dass ich dich in deinen persönlichen Karfreitag gestürzt habe. Es sei denn, dass du dich erfolgreich wehrst und innerlich auf Abstand gehst zu meinen Zeilen. Ich verleite dich gerade zu einem intensiven Depressionsschub. Ich glaube aber, dass du gut auf dich aufpassen wirst.
Jetzt mache ich noch eine Biege! Ja, ich habe ständig verloren. Ich trage viele Wunden und Narben mit mir herum und manche lassen sich ganz schnell öffnen. Aber weißt du, da gibt es noch etwas anderes. Ich bin nicht gestorben. Weder körperlich noch emotional. Ich bin immer wieder aufgestanden! Ich bin mal etwas länger liegengeblieben. Es war auch nicht immer leicht. Aber ich bin aufgestanden. Jedes Mal! Manchmal sofort, manchmal nach etwas längerer Zeit, aber ich bin aufgestanden. Wie habe ich das bloß hinbekommen? Ich hatte Grund genug zum Liegenbleiben. Wie ist das bei dir? Bist du auch immer wieder aufgestanden? Irgendwann? Vielleicht nicht mit einer großen Hoffnung? Aber einfach so? Du bist aufgestanden!
Ich mache noch eine Biege! Ich bin nicht nur aufgestanden, sondern ich bin immer wieder mit etwas angefangen. Immer wieder! Ich musste von einem Ort wegziehen und fand einen neuen Platz. Da fing ich neu an. Wie oft habe ich das gemacht? Ich muss es nicht zählen! Wie oft hast du das schon in deinem Leben gemacht? Ehrlich gesagt: Ich mache das so gut wie jeden Tag. Jeden Tag fange ich einfach neu an. Ich drücke auf den Knopf am Wecker und sage mir: „Heute fange ich neu an!“ „Heute entscheide ich mich für mein Hemd, mein Frühstück und meine Arbeit.“
Irgendwann kam bei mir eine unglaubliche Erkenntnis! So zuverlässig wie die Zeiger einer Uhr folge ich einem bestimmten Lebensgesetz. Ich gewinne und verliere um wieder zu gewinnen und wieder zu verlieren. Ich schaffe Ordnung und Chaos und den Wechsel von Ordnung und Chaos.
Diese Gedanken kommen mir in der Fastenzeit. Ich sehe auf das Leben von Jesus. Ich sehe, wie er Freunde fand und seine Botschaft erzählte. Ich höre von seinen Wundern und Taten. Ich staune!
Aber in diesen Tagen höre ich von seinen großen Verlusten. Er verliert seine Freunde. Die ziehen sich zurück und verleugnen ihn. Ich sehe ihn auf einem Esel sitzen und die Menschen jubeln: „Unser König!“ Nur wenige Augenblicke später der Verlust der Würde, des Ansehens, der Liebe, des Lebens. Ein unglaublich kraftvoll schwingendes Pendel mit den Extremen von Begeisterung und Enttäuschung und von Tod und Leben.
In mir gibt es eine Stimme die fragt: „Wer oder was hält das alles zusammen? Was befindet sich am oberen Ende des schwingenden Pendels? Was im Inneren? Welche Kraft treibt es an?“ Ein österlicher Impuls kommt mir entgegen: Der Kitt, der alles zusammenhält, ist die Liebe! Entweder in der positiv erfüllten oder in der ersehnten und vermissten Weise. In den Kar- und Ostertagen werden wir hin- und hergerissen. Wir erleben unsere eigenen Verluste noch einmal neu, das Aufstehen und die Neubeginne. Wir leben dieses Drama so lange bis wir sagen: „Einverstanden!“ „Jetzt ist es gut!“ „Ich bin im Frieden!“ 

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