Mein
Leben kann ich beschreiben als eine Verkettung und Abfolge von Verlusten. Und
das seit vorsprachlicher Zeit. Mir ging es doch so gut im Bauch meiner Mutter.
Ich war geborgen und es fehlte mir an nichts. Es war warm und behaglich und die
Herztöne der „ersten Göttin“ waren mein zuverlässiger Begleiter. Es hätte doch
alles so bleiben können! Dann geschah dieses große vorgeburtliche Ereignis für
das ich keine Worte habe. Ich wurde verstoßen! Ich wurde nicht gefragt! Ich
musste! Mein erster großer Verlust und meine erste existentielle Krise. Dieses
Ereignis ist eingebrannt in meinem Herzen und in allen Zellen meines Körpers.
Von
all diesen Körperzellen aus der Babyphase ist keine mehr da. Auch die musste
ich als Verlust abschreiben. Aber sie haben die Nachricht von der ersten großen
Katastrophe weitertransportiert nach dem Motto: „Auch wenn wir Zellen sterben,
die Botschaft geben wir weiter.“ Ich
klammerte mich an meine Mutter mit Händen und Füßen so gut ich konnte und
solange ich durfte. Aber ich durfte nur für eine gewisse Zeit. Dann wurde ich
entlassen – ohne mein Einverständnis! Auch das war noch vorsprachlich. Irgendwann
sagte meine Mutter: „Du kannst jetzt selber laufen. Du bist mir zu schwer!“ Sie
verweigerte mir manchmal ihren sicheren Arm. Und dann immer öfter. Auch aus
dieser Zeit existiert keine einzige Körperzelle mehr. Keine hat es überlebt.
Dieser Weg des „Entzuges“ von meiner Mutter ist ebenfalls in meinem Körper eingespeichert,
sprachlos aber spürbar.
Meine
Mutter habe ich in vielen kleinen Schritten verloren. Der Verlust sitzt tief,
tiefer als ich ahne. Bis heute bin ich traumatisiert! Ich rede nicht darüber,
denn ich bin ja ein Erwachsener. Ich kann auf meinen Füßen stehen und habe mich
aktiv und einverständlich von meiner Mutter getrennt. Ich habe den Verlust
überlebt. Dennoch glaube ich, dass der Verlust mehr war als ich verkraften
konnte. Er hat mich überfordert.
Jetzt
habe ich nur von den ersten bedeutenden Verlusten gesprochen. Es folgten viele
weitere. Die ersten Freunde wollten nicht mehr mit mir spielen. Meine erste
Kindergärtnerin hat mich einfach verlassen und den Kindergarten gewechselt. Meine
einzige noch lebende Oma in Kindertagen wollte auch nicht bei mir bleiben. Sie
verließ mich als ich drei Jahre alt war. Den Verlust des Kindergartens
verkauften mir die Erwachsenen mit der Vorfreude auf die Schule um mir diese
wieder nach vier Jahren zu nehmen. Und ständig musste ich zu meiner Gesundheit
Ade sagen, wenn mich ein Asthmaanfall überfiel.
Merkwürdig!
Immer dann, wenn ich es mir so richtig gemütlich gemacht habe! Wenn ich so
richtig angekommen war! Wenn ich ganz meinen Platz eingenommen hatte – wurde es
mir genommen. Selten freiwillig! Manchmal mit meinem Einverständnis und nach
einem längeren Weg der Einsicht.
Sämtliche
Schulen habe ich verloren, meine zwei Universitäten und alle Professoren. Keine
Arbeitsstelle konnte ich auf die Dauer halten. An manchen durfte ich länger
bleiben, an der letzten sogar relativ lange. Am Ende habe ich jedoch alle
Stellen verloren.
Als
Fußballer bin ich kläglich gescheitert. Wenn es nur auf mich angekommen wäre,
dann hätte ich nur verloren. Über die zerbrochenen Freundschaften möchte ich
gar nicht sprechen, das würde zu stark schmerzen.
Na,
soll ich weitermachen oder reicht es? Was geht jetzt gerade in dir vor? Denkst
du: „Der arme Kerl!“ oder „Nicht nur du, ich auch!“ „Ich noch viel mehr!“ „Ich
hör auf zu lesen, das hält ja kein Mensch aus!“
Ich
gebe dir Recht. Ich rede normalerweise nicht so. Das verbiete ich mir als
Berufsoptimist. Wenn ich so denken würde, käme niemand mehr zu mir in die Beratung.
Und
dennoch! Es stimmt! Du und ich, wir haben im Leben alles verloren. Das ist
quasi der Preis des Lebens überhaupt! Du verlierst! Ständig! Unbemerkt sterben
deine Zellen. Schon bahnt sich das Ende des Berufslebens an. Deine Kinder
verlassen dich. Dein Haus verliert an Substanz und auf deinem Totenbett bleibt
dir nichts mehr.
Ich
könnte ja wie ein Held mich den Verlusten tapfer stellen! Kann ich nicht gut,
es tut so weh! Es schmerzt immer noch! Ich denke, ich bin damit fertig, und
dann geht es wieder los. Noch eine Schleife! Neue Freunde, neue Arbeit, neue
Urlaube… und todsicher kommt der Verlust. Ich kann dem nicht entweichen. Ich
möchte es verhindern. Darum habe ich ja ein Bankkonto, eine
Arbeitslosenversicherung, eine Rente in Aussicht, mein Bankkonto und meinen
Hausarzt. So kann ich die Dinge noch ein wenig zusammenhalten. Aber auf die
Dauer?
Wenn
dies jetzt der letzte Satz wäre würdest du vielleicht vermuten, dass ich dich
in deinen persönlichen Karfreitag gestürzt habe. Es sei denn, dass du dich
erfolgreich wehrst und innerlich auf Abstand gehst zu meinen Zeilen. Ich
verleite dich gerade zu einem intensiven Depressionsschub. Ich glaube aber,
dass du gut auf dich aufpassen wirst.
Jetzt
mache ich noch eine Biege! Ja, ich habe ständig verloren. Ich trage viele
Wunden und Narben mit mir herum und manche lassen sich ganz schnell öffnen.
Aber weißt du, da gibt es noch etwas anderes. Ich bin nicht gestorben. Weder
körperlich noch emotional. Ich bin immer wieder aufgestanden! Ich bin mal etwas
länger liegengeblieben. Es war auch nicht immer leicht. Aber ich bin aufgestanden.
Jedes Mal! Manchmal sofort, manchmal nach etwas längerer Zeit, aber ich bin aufgestanden.
Wie habe ich das bloß hinbekommen? Ich hatte Grund genug zum Liegenbleiben. Wie
ist das bei dir? Bist du auch immer wieder aufgestanden? Irgendwann? Vielleicht
nicht mit einer großen Hoffnung? Aber einfach so? Du bist aufgestanden!
Ich
mache noch eine Biege! Ich bin nicht nur aufgestanden, sondern ich bin immer
wieder mit etwas angefangen. Immer wieder! Ich musste von einem Ort wegziehen
und fand einen neuen Platz. Da fing ich neu an. Wie oft habe ich das gemacht? Ich
muss es nicht zählen! Wie oft hast du das schon in deinem Leben gemacht? Ehrlich
gesagt: Ich mache das so gut wie jeden Tag. Jeden Tag fange ich einfach neu an.
Ich drücke auf den Knopf am Wecker und sage mir: „Heute fange ich neu an!“
„Heute entscheide ich mich für mein Hemd, mein Frühstück und meine Arbeit.“
Irgendwann
kam bei mir eine unglaubliche Erkenntnis! So zuverlässig wie die Zeiger einer
Uhr folge ich einem bestimmten Lebensgesetz. Ich gewinne und verliere um wieder
zu gewinnen und wieder zu verlieren. Ich schaffe Ordnung und Chaos und den
Wechsel von Ordnung und Chaos.
Diese
Gedanken kommen mir in der Fastenzeit. Ich sehe auf das Leben von Jesus. Ich
sehe, wie er Freunde fand und seine Botschaft erzählte. Ich höre von seinen
Wundern und Taten. Ich staune!
Aber
in diesen Tagen höre ich von seinen großen Verlusten. Er verliert seine
Freunde. Die ziehen sich zurück und verleugnen ihn. Ich sehe ihn auf einem Esel
sitzen und die Menschen jubeln: „Unser König!“ Nur wenige Augenblicke später
der Verlust der Würde, des Ansehens, der Liebe, des Lebens. Ein unglaublich
kraftvoll schwingendes Pendel mit den Extremen von Begeisterung und
Enttäuschung und von Tod und Leben.
In
mir gibt es eine Stimme die fragt: „Wer oder was hält das alles zusammen? Was
befindet sich am oberen Ende des schwingenden Pendels? Was im Inneren? Welche
Kraft treibt es an?“ Ein österlicher Impuls kommt mir entgegen: Der Kitt, der
alles zusammenhält, ist die Liebe! Entweder in der positiv erfüllten oder in
der ersehnten und vermissten Weise. In den Kar- und Ostertagen werden wir hin-
und hergerissen. Wir erleben unsere eigenen Verluste noch einmal neu, das
Aufstehen und die Neubeginne. Wir leben dieses Drama so lange bis wir sagen:
„Einverstanden!“ „Jetzt ist es gut!“ „Ich bin im Frieden!“
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