Perfektion oder Vollkommenheit! Gibt es denn da einen Unterschied? Ist Perfektion nicht das Gleiche wie Vollkommenheit? Im Alltag gebrauchen wir beide Worte oft wie Synonyme. Für mich gibt es dennoch einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen und es könnte hilfreich sein, da einmal genauer hinzuschauen.
Der
Duden spricht bei „Perfektion“ von der höchsten Vollendung oder der
Meisterschaft bei der Verrichtung einer Tätigkeit. Das ist durchaus
verständlich. Wir wünschen uns ja ein Waschmaschine, die wirklich funktioniert
und nicht nur so ungefähr. Auch beim Hausbau macht es Sinn, dass die Mauern
gerade und die Fugen dicht sind. Eine perfekte Handwerksarbeit ist schon erstrebenswert.
Zugleich bedeutet „perfekt“ jedoch auch, dass etwas „abgeschlossen“ ist und damit
zur Vergangenheit gehört. Was abgeschlossen ist, kann man dann auch getrost
loslassen.
Was
für eine Waschmaschine noch verständlich ist, kann für andere Lebensbereiche
jedoch eine Überforderung sein. Viele Menschen möchten in allem nach Perfektion
streben. Neben den exakten Anforderungen
an den Beruf, haben wir vielleicht auch noch den Anspruch an uns als perfekte
Mutter, als perfekter Vater und meinen damit eine möglichst fehlerfreie
Erziehung der Kinder. Oft geht es dabei um Vermeidung von Fehlern und um die
Scham, die aufkommt, etwas nicht gut genug gemacht zu haben. Da klingeln alte
Sprüche von früher in unseren Ohren: „Kind, das musst du noch einmal machen, das
ist nicht gut genug. Das ist noch nicht perfekt!“
Ich
habe noch das Schreiben mit dem Griffel auf einer Schiefertafel gelernt. Jeden
Schultag mussten wir eine ganze Tafel mit runden Bögen gestalten exakt von
Linie zu Linie – nicht drüber und auch nicht drunter. Es sollten perfekte Bögen
sein. Meine Bögen waren nur selten perfekt. Mutter nahm dann oft den Lappen und
wischte alles wieder weg. Ich musste von vorne beginnen und durfte so lange
weiterschreiben, bis sie einigermaßen zufrieden mit meiner Arbeit war.
Jede und
jeder von uns kann eine ähnliche Geschichte erzählen von mehr oder weniger
gelungenen Entwicklungsschritten. Am Ende entwickelt sich manchmal ein
Perfektionszwang, der das Leben erschwert und förmlich vermiesen kann. Da
reichen dann nicht die achtzig Prozent gelungene Arbeit, es sollten wenigstens
hundert und ein Prozent sein, besser noch mehr. Für die letzten Prozentpunkte
strengen wir uns dann auch noch übermäßig an. Die Folge ist irgendwann der innere
Zusammenbruch und die Kapitulation.
Mein
Vorschlag: verzichte auf die Perfektion und sei einfach vollkommen! Wie meine
ich das? Ich muss dazu eine kleine Geschichte erzählen. Vor einiger Zeit war
ich zu einem Empfang eingeladen und eine
Gruppe von Grundschulkindern sorgte für das musikalische Rahmenprogramm.
Ungefähr zehn Jungen und eine Lehrerin betraten mit ihren Käppis auf dem Kopf die
Bühne, stellten sich auf, zogen das Käppi von der Stirn und legten es mehr oder
weniger elegant auf den Bühnenboden. Dabei standen sie breitbeinig da wie eine
Eins in völliger Selbstsicherheit. Das war schon professionell. Die „Käppi-absetzen-Aktion“
sorgte für ausgesprochenes Vergnügen bei den Zuschauern. Dann sangen sie ihr
erstes Lied. Meine musikalisch feinfühligen Ohren horchten auf: da singt doch ein
Junge schief! Er singt zwar eine Melodie, aber eine, die mit dem ursprünglichen
Lied nichts mehr zu tun hat. Ich konnte ihn sofort identifizieren. Alle anderen
Kinder sangen super genau die Töne des Liedes. Aber der eine Junge sang schief.
Ohne jeden Zweifel! Durch ihn wurde der Auftritt alles andere als perfekt. Zu
meiner Kinderzeit wurden Kinder, die „nicht singen“ konnten, vom Singen
ausgeschlossen. Doch dieser Junge war dabei. Er sang jenseits aller Perfektion.
Und wie lautete mein innerer Kommentar? Es war vollkommen! Da war pure Freude
und Vergnügen beim Singen. Da gab es einen Zusammenhalt in der Gruppe und das
Selbstverständnis, ein Teil eines großen Ganzen zu sein. Der Auftritt dieser Kinder
sorgte bei allen Zuhörern für Freude und Wohlwollen. Es war vollkommen!
Was
macht Vollkommenheit aus? Fehler in der Umsetzung von Aufgaben kann es durchaus
geben, Qualitätsstandards werden vielleicht nicht erreicht. Aber dafür gibt es keinen
Druck von Überforderung. Keiner bewertet dich, schimpft mit dir oder macht dich
klein. In der Vollkommenheit bist du in deinem Tun völlig im Sein. Du bist die
pure Lebensfreude.
In
der Bibel sagt Jesus einmal: Seid also vollkommen, wie es auch euer himmlischer
Vater ist. (Mt 5,48) In der Regel hören wir oft den Anspruch von Perfektion,
hier an dieser Stelle eine moralische Perfektion. „Sei die beste Mutter, der ideale
Vater, der tollste Ehemann und die perfekte Ehefrau!“ Gemeint ist biblisch
etwas völlig anderes als eine moralische Höchstleistung. Im Hebräischen lautet
es ursprünglich: sei „tamim“, wie es auch Gott ist. „Tamim“ heißt übersetzt „ganz“,
„vollständig“, „ungeteilt.“ Damit ist also die Einladung ausgesprochen, mit
seinem Herzen ungeteilt bei dem zu sein, was man gerade fühlt, denkt oder
macht. Auf das Singen übertragen würde das heißen: singe nicht perfekt, aber
singe mit ganzem und ungeteiltem Herzen. Mache es vergnügt und spüre dabei die
Leichtigkeit und die Freude.
So
ist Gott! Gott ist tamim! Gott ist mit seiner ungeteilten Aufmerksamkeit ganz
bei uns. Er erfreut sich an seiner Schöpfung, er freut sich über uns. Er sieht
unsere Entwicklungen und ist einfach nur da für uns. Es geht Gott nicht um
Perfektion, sondern um das „Tamim – Vollkommensein“. Es gilt, sein Leben zu
bejahen mit Haut und Haaren, mit der Vergangenheit, mit allen Gefühlen und mit
allen erlebten Geschichten. Klammer nichts aus und heiße alles willkommen, was
zu dir gehört. Neben dem Verzicht auf
den inneren Kritiker kann es in der Fastenzeit eine wunderbare Ergänzung geben:
sei da mit deinem ungeteilten Herzen und mit ganzer Aufmerksamkeit!
www.matthias-koenning.de
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Es ist so tragisch, dass wie vom Schulsystem und auch von unseren besorgten Eltern diesen Perfektionszwang eingepflanzt bekommen. Wenn wir erstmal erwachsen sind und frei davon leben könnten, haben wir dieses Wissen aus unserer Kindheit oft erstmal vergessen. Manchmal für immer. Übrigens bedeutet "Tamam" "In Ordnung" oder "alles gut" im Arabischen. Vielleicht ist es dieselbe Wurzel wie im Hebräischen.
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